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Full text of "Briefe über die Schopenhauer'sche Philosophie"

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B3148 








Briefe 


über die 


Schopenhauer’ihe Philoſophie. 


— — — — — — —⸗ 


I Foirthen Mac - 


- 2047 U Hl U. 

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m! 
über die 


Schopenhaner'ſcht Philoſophit. 


Von 


Dr. Inlins Frauenſtädt. 


a 


Leipzig: 
5. N. Brockhaus. 





1854. 


Vorrede. 


Die Schopenhauer'ſche Philoſophie, nach meiner bereits mehr⸗ 
fach öffentlich ausgeſprochenen Ueberzeugung die bedeutendſte 
ſeit Kant, die nicht ſowol in die Reihe der nachkantiſchen 
Syſteme gehoͤrt, als vielmehr über denſelben ſteht, fängt endlich, 
nachdem fie über dreißig Jahre lang faſt gänzlich ignorirt und, 
ald ob fie gar nicht mitzählte, aus den Lehrbüchern der Ge- 
ihichte der Philofophie ausgefchloffen worden war, in der 
Gegenwart an, die Aufinerffamkeit der Denkenden und Phi- 
lofopbirenden in hohem Grade auf fich zu lenken. Es er- 
Iheint jet keine gefchichtliche Darftellung der neueften Philo- 
ſophie mehr, die fih nicht genöthigt fähe, ihr einen beftimm- 
ten Plag im nachkantiſchen Entwidelungsgange der Gedanken 
anzumeifen *), und nicht blos die Lehrbücher haben ihr 
Schweigen gebrochen, fondern auch die Eritifchen Journale. 
Namentlih hat 3. H. Fichte in feiner erneuerten „Zeitſchrift 
für Philofophie und philofophifche Kritik‘ der Priifung und 
Beurtheilung der Schopenhauer’fhen Philvfophie zwei längere 
Artikel, einen von Erdmann und einen ſich darauf beziehenden 





*) Man vergleiche die gefchichtlihen Darftellungen ver nachkantiſchen 
Philoſophie von Fortlage, Noack und Erdmann, fowie auch in I. H. 
Fichte's „Die philoſophiſchen Lehren von Recht, Staat und Sitte“. 





VI 





von ihm ſelbſt, gewidmet. Außerdem aber iſt Schopenhauer’s 
Name auch bereits ind Ausland durchgedrungen, wie der 
nachfolgende ausführliche Artitel der „Westminster Review“ 
beweift *). 

Doch, fo fehr auch, wie aus den angeführten Beifpielen 
hervorgeht, die Schopenhaner’fche Philofophie jept aus ihrem 
bisherigen Dunkel and Tageslicht der Oeffentlichfeit gezogen 
wird, fo habe ich doch noch nirgend eine gründliche, er- 
fchöpfende, tief eingehende, und noch viel weniger eine un» 
parteiifche, rein objective, vorurtheilsfreie Daritellung und 
Beurtheilung derfelben gefunden. Weder aus Fortlage's, 
noch aus Fichte's und Erdmann's, noch aud) aus ded Eng- 
länders Darftellungen und Beurtheilungen läßt ſich ein treues, 
objectives Bild von der Schopenhauer’fchen Philofophie ges 
winnen. 


*) Als ich bereit3 mit meinen vorliegenden ‚Briefen über vie 
Schopenhauer'ſche Philoſophie“ fertig war, erfhien im Aprilheft ver 
„Westminster Review“ von 14855 ein 20 Seiten langer Artikel über 
Schopenhauer unter der Vieberfhrift: „Iconoclasm in German philosophy.“ 
Diejen Artifel theilte Furz darauf die Voß'ſche „Königlich privilegirte Ber: 
linifhe Zeitung von Staatd- und gelehrten Sachen“ ihren Lefern in 
einer vollftändigen, fehr gelungenen Ueberfegung, begleitet von einigen 
Anmerkungen, einem furzen Vor: und Nachwort des unterfchriebenen 
Ueberfegerd Dr. D. Lindner, unter dem Titel: „Deutfhe Philofopbie im 
Auslande” mit. Diefe Ueberfegung habe id nun meinen Briefen voran- 
drucken laſſen, damit nicht nur diejenigen meiner Leſer, denen der Artikel 
der „Westminster Review‘ unbefannt geblieben, ihn aus verfelben kennen 
lernen, fondern aud) um ihn als bleibendes Denkmal englänvifchen Uttheils 
über die deutfche nachkantiſche Philoſophie aufzubewahren. Ein Jahr früher 
fhon erfchien in verfelben „Westminster Review‘ (1852, ©. 677—681) 
eine Anzeige der Schopenhauer'ſchen „Parerga und Paralipomena‘, die 
dem Scopenhauer’fhen verwerfenden Urtheil über die unphilofophifche 
Richtung der nachkantiſchen Profefiorenpbilofophie beiftimmte und als Beleg 
für daſſelbe auch die Anſicht eines „ſcharfſinnigen unabhängigen englifchen 
Denkers“, H. H. Lewes (in feiner „Geſchichte ver Philoſophie“, IV, 237), 
eitirte. 





VIII 


betrifft, läßt fich aus des Engländers Beurtheilung ebenſo 
wenig, wie aus den deutſchen, ein richtiges Bild gewinnen. 
Erſt durch meine Briefe wird man, beſonders wenn 
man damit das Studium der Schopenhauer'ſchen Werke ſelbſt 
. in geeigneter Weiſe verbindet, völlig ind Klare über die 
- eigentliche Bedeutung und den wahren Sinn der Schopen- 
bauer’fchen Lehre kommen und von ihrer Superiorität über die 
gefammte andere nachlantifhe Philofophie überzeugt werden. 
Schopenhauer fteht jept mit feinem Berdammungsurtheil 

über die fogenannte nachkantiſche Philofophie, d. i. über die 
von Fichte, Schelling und Hegel eingefchlagene Richtung der 
Speculation und die fih daran knuͤpfenden Nebenzweige der- 
felben nicht mehr vereinzelt da, fondern hat neulichſt einen 
wacern Bundesgenoffen in dem Berfaffer des „Antibarbarus 
logieus‘ gefunden *). Obwol der Berfaffer dieſes fehr zu 
lobenden, fehr verdienftvollen Werkes ein Herbartianer ift, 
alfo einem Meifter folgt, in deffen Lehre Schopenhauer einen 
„Sompler von Berfehrtheiten‘‘ fiebt *): fo fommt er doch 
von feinem rein logifchen, die formale Logik wieder zu Ehren 
und zur Geltung bringenden Standpunlt aus. auf eine merk— 
würdige Weife.mit Schopenhauer in dem Verwerfungsurtheil 
über die nachkantiſche Philofophle überein. Schopenhauer 


iſt Heiligkeit nicht die Verföhnung der Kreiheit und Nothwendigfeit, 
fondern die Aufhebung der Nothwendigkeit durch Die in die Erſcheinung 
tretende Freiheit (vergl. „Die Welt als Wille und MBorftellung‘‘, Bd. 1, 
$. 70). Durch jene Reproductionen in einer fremdartigen, aus einem 
andern Syſtem entlehnten Terminologie kann alfo der wahre Sinn einer 
Philofophie nur entftellt werden, und iſt daher ſolchen Darſtellungen kein 
Vertrauen zu ſchenken. 

*) Des „Antibarbarus logicus“ zweite verbeſſerte und ſehr ver- 
mehrte Auflage von Bajus, Th. 1: „Allgemeine formale Logik“ (Halle 
1855). . 

**) „Parerga und Baralipomena‘, I, 171. 





X 


dies gerade ſo, wie wenn man wegen einzelner Verkehrt⸗ 
heiten, die vorzugsweiſe nur unter Chriſten ſtattgefunden 
haben, z. B. chiliaſtiſche Schwärmereien und deren Conſe— 
quenzen, das ganze Chriſtenthum verwerfen wollte, oder wie 
wenn man das algebraiſche Rechnen verwerfen wollte, darum, 
weil Einzelne bei der Auflöfung von Gleichungen höherer 
Grade ſich häufig verrechnen. Wenn es num fowol richtige 
Gründe als falfche Gründe gibt, und ebenfo richtige Folge 
rungen und falfche Folgerungen, fol etwa dabei das Fragen 
nad Gründen aufhören? Rationalismus ift aber der eigent- 
liche Name derjenigen wiffenfchaftlihen und praftifchen ichs 
tung, welche, im Gegenfap zur Willkür oder zu einem un— 
überlegten Sichgehenlaffen, nach Gründen fragt, um da- 
nah die Art des Denkens und Wollend zu beftimmen.‘ 
„Abusus non tollit usum, und es ift nicht erlaubt, die fpeci- 
fiihen Differenzen einer Abart, alfo eines falfchen und un— 
zeitigen Nationalismus, zu wejentlihen Merkmalen der Gat- 
tung oder des Hauptbegriffs zu mahen. Es muß daher 
aufs höchfte befremden, wenn einer unferer berühmteſten 
neuern Staatslchrer in einem jüngft gehaltenen Bortrage 
«Ueber das Wefen der Revolution» (3. Aufl., Berlin 1852) 
die Uebereilung begeht, den Nationalismus ald den eigent- 
lichen Revolutionär, ja gewiffermaßen ald den Ausdrud des 
radicalen Böfen -binzuftellen, und Das, was von einem 
falfhen Nationalismus oder geradezu vom Irrationalismus 
gilt, ſchlechweg mit dem Namen des Nationalimus zu be- 
zeichnen.” „Man mag ein beftimmtes Syftem des Ratio- 
nalismus verwerfen; den Nationalismus aber ald wiffen- 
Ihaftliche Marime zu verwerfen, wäre blinder Fanatismus, 
oder mindeſtens wiffenfchaftlicher Unverſtand.“ 
Bor diefen Sägen braucht die Schopenhauer’fhe Philo- 
fophie nicht zu erröthen, denn auch fie dringt in dieſem 
Sinne auf Nationalismus, auf Wiffenfchaftlichkeit der phile- 





XII 

theilen hat, keine irrationale, unbegriffliche, unmethodiſche, 
unwiſſenſchaftliche (vergl. meinen achten Brief uͤber die Scho— 
penhauer'ſche Methode), ſondern eine ſtreng wiſſenſchaftliche. 
Auch iſt wohl zu beachten, daß Schopenhauer unter An- 
fhauung, Intuition, nicht die eines übernatürlichen, infpi- 
rirten Hellfehens ſich rühmende myſtiſche Anſchäuung ver: 
ſteht, ſondern theils die ganz verſtändige Anſchauung der 
objectiven, empiriſch realen Welt, theils die intuitive Auf— 
faſſung des allgemeinen Weſens der Dinge, der ewigen (Pla— 
ton’fchen) Ideen, wie fie aud im echten Künftler ftattfindet. 
Und was endlih die „Leidenfchaftlichfeit‘ des Schopen⸗ 
bauer’fhen Philoſophirens betrifft — die er übrigens mit 
jedem großen Geifte theilt, da große Geifter. bekanntlich Feine 
Schlafmügen find —, fo hat fie ihm keineswegs den Blick 
für das Wahre getrübt, fondern, als intellectuelle Leiden- 
“Schaft, eher den Blick für daffelbe gefchärft, fodag man bei 
ibm, ähnlich wie bei Kant, die Befonnenheit bewundern 
muß, mit welcher er die Probleme der Philofophie anfaßt 
und behandelt (fiehe meinen elften Brief. Daß Schopen- 
bauer von feiner gewonnenen beffern Erkenntniß aus gegen 
alles Schlechte, Verkehrte, Falſche, Heuchlerifche, Lügenhafte 
in der Philofophie eine leidenfchaftlihe Polemik eröffnet — 
diefe Art der Leidenfchaft wird man ihm doc nicht etwa 
zum Tadel anrechnen wollen! — Der „Antibarbarus logicus" 
iteht ihm hierin zur Seite. Auch er greift „Die wiflenfchaft- 
liche Bodenlofigkeit, den „baren Unfinn‘ und die „grob- 
finnige Sophiſtik“ der Schelling - Hege’fhen Richtung fcharf 
an und hat ſich dadurd ein wahrhaftes Verdienſt erworben. 

Schopenhauer ftimmt, obwol er, aus guten Gründen, 
die mathematifhe Methode für die Philvfophie verwirft *) 
und auch von Herbart's Rechnungen in der Pſychologie 


*) Siehe meinen adten Brief. 





XIV 


die befondere Eigenthümlichkeit haben follte, daß er 1) das 
Befondere, alfo die Begriffe des Umfangs, wenn aud noch 
nicht actu, fo doch der potentia nach, in ſich enthalte und 
2) dieſes Befondere, vermöge einer immanenten Triebkraft, 
möge fie ein Gegenfegen, Heraudverfegen oder Evolviren 
genannt werden, rein aus ſich erzeuge. Dergleichen nannte 
man fpeculative Entwidelung, die damit endet, daß das 
Befondere zulept wieder in das Allgemeine zurüdgeführt 
wird *).“ „Zur Bezeihnung der Entwidelung felbft wur- 
den (von Scelling) ftatt der Fichte'ſchen urfprünglichen 
Thätigkeiten des abfoluten Ichs andere Ausdrüde und An- 
fhauungsweijen eingeführt, als da find Differenziren, Poten- . 
ziren, Manifefliren, Evolviren u. f. w., und an die Stelle 
des discurfiven Denkens und des wifjenfchaftlichen Beweifes 
in der alten logiſchen Strenge ward ein neues von Fichte 
fhon poftulirtes, von Schelling . aber phantaftifh vutrirtes 
ſpeculatives Erfenntnißvermögen geltend gemacht, das man 
intellectuale Anfhauung nannte. Vornehme Geringfchägung 
gegen die alte formale Logik gehörte zum guten Ton; Phan- 
tafiren, Analogifiren, Symbolifiren galt als fpeculativer Tief 
finn und trat an die Stelle wiffenfchaftlicher Eroͤrterungen. 
Zur Belebung der eigenen fhon nicht trägen Phantafie ward 
Hülfe gefucht bei den Reuplatonifern und ganz befonders 
bei den myftifchen Schwärmereien des theofophifchen Schuſters 
Jacob Böhme. Kurz, die Metaphyſik ward zum baren 
Unfinn verarbeitet und diefem Unfinn verlieh eine Art 
poetifher Schwunghaftigkeit in den Augen Vieler einen 
befondern Reiz. Das war die Epoche der fogenannten 
. Natur» oder Sdentitätsphilofophie.” „Unter den verfchiedenen 
Geiftesverwandten, Schülen und Anhängern Scelling’s, 
weldhe den Verſuch machten, den Unfinn der fogenannten 


*) „Antibarbarus logicus”, 2. Aufl, ©. 45 fg. 





XV . 
ſchmelzen, fih bringen, „hochkomiſch“. „Sie haben nämlich 
einen ordentlichen perfönlichen Gott, wie er im- Alten ZTeita- 
ment fteht, zu lehren: Das wiffen fie. Andererfeits jedoch) it, 
feit ungefähr vierzig Jahren, der Spinoziſtiſche Pantheismus, 
nach welchem das Wort Gott ein Synonym von Welt ift, 
unter den Gelehrten und fogar den blos Gebildeten, durch— 
aus vorherrfhend und allgemeine Mode: das möchten fie 
doch auch nicht jo ganz fahren laſſen; dürfen jedoch nach diefer 
verbotenen Scüffel eigentlih die Hand nicht ausftreden. 
Run fuchen fie ſich durch ihr gewöhnliches Mittel, dunkele, ver: 
worrene, confufe Phrafen und hohlen Wortkram, zu helfen, 
wobei fie fich jämmerlich drehen und winden: da fieht man 
denn Einige in Einem Athem.verfihern, der Gott fei von 
der Welt total, unendlid und himmelweit, ganz eigentlich 
himmelweit verfchieden, zugleich aber ganz und gar mit ihr 
verbunden und Eins, ja ftede bi8 über die Ohren drinnen; 
wodurdh fie mid dann jedes mal an den Weber Bottom 
im «Sohannisnachtstraum» erinnern, welcher verfpricht zu 
brüllen, wie ein entfeglicher Loͤwe, zugleich aber doch fo fanft, 
wie nur irgend eine Rachtigall jlöten kann *).“ 

Schopenhauer fteht mit dem Herbartianifchen Verfaſſer 
des „Antibarbarus logicus“ infofern ganz auf einem und 
demfelben Boden, als Beide eine durchgängig mit fich einige, 
confequente, widerfpruchsfreie, alfo gegen die logifchen 
Denkgeſetze nicht verftoßende Philofophie wollen und Deshalb 
gegen den Hegel’fchen Unfinn, der in das Denken des Wider- 
ſpruchs — aliv des Unvernünftigften — gerade den hoͤchſten 
Triumph der Vernunft fegt, proteftiren. Der Unterfchied ift 
nur diefer, daß der DBerfaffer des „Antibarbarus logicus“, 
als Herbartianer, aud fchon dort Widerfprüche finden 
muß, wo in der That keine zu finden find, nämlich in den 


*) „Parerga und Baralipomena“, 1, 177 fg. 


e AIX 

Grundbegriffen des Gegebenen, der Erfahrungswelt — denn 
Herbart findet bekanntlich die Erfahrung „ungereimt” und 
will fie deshalb durch Beränderung der Begriffe „ denkbar 
machen, fest alfo das Hauptgefchäft der Metaphyſik in die 
Bearbeitung der Begriffe —, während Schopenhauer gerade 
umgekehrt die Erfahrung durchgängig mit fih einftimmig 
findet und den wegzufchaffenden Widerfpruh nur in den 
bisherigen falfchen philofophifch-theologifhen Auslegungen 
der Erfahrungswelt ſieht und deshalb eine widerfpruchsfreie 
Auslegung an deren Stelle zu fegen fucht, die er in feinem 
eigenen Syiteme gegeben zu haben fich rühmt (vergl. meinen 
fünften Brief). 

Bon allen folhen falfchen Ertremen wie einerfeits, mit 
Hegel, den Widerfpruch für vernünftig und begrifflid, anderer- 
feit8 mit Herbart die der Erfahrung zu Grunde liegenden 
Begriffe für ungereimt und widerfprechend zu erklären, — 
hat fih Schopenhauer frei gehalten, und wenn, wie Erd» 
mann richtig fagt, die Aufgabe der nachkantiſchen Philos 
fophie die war, die in Kant angelegten Grundgedanken zu 
entwideln und zu vollenden, fo hat dies Schopenhauer in 
feinem Spiteme wirflih gethan, während die Andern von 
Kant abfeits liegen. Erdmann will zwar durch feine Dar 
ftellung der nachkantiſchen Philofophie glauben machen, der 
Hegel'ſche „Panlogismus“ fei der Gipfel der- nachkantiſchen 
Speculation, denn die zwei Hauptaufgaben, die in Kant ans 
gelegt wären, einerfeit8 den Idealismus mit dem Realismus, 
und andererfeits den Theismus mit dein Pantheisinus oder 
Naturalismus zu verföhnen, feien erft von Hegel wirklich 
gelöft, während die vorangehenden Syſteme nur verfhiedents 
li auf diefe Löfung hingearbeitet hätten. 

Aber eritlich, was die Verbindung des Idealismus mit 
den Realismus betrifft, fo ift, wie der „Antibarbarus logi- 
cus“ fchlagend gezeigt hat, die von Hegel prätendirte Ein- 


**2 


XX 
heit von Denken und Sein, d. h. die Identität der idealen 
(vorgeſtellten) mit der realen (an ſich ſeienden) Welt, nur 
erſchlichan, nicht bewieſen. Und was den zweiten, den 
Gegenfag zwifchen Naturalismus und Theismus, oder, 
wie ihn Erdmann auch bezeichnet, zwiſchen Pantheismus 
und Individualismus betrifft, fo ift die Löfung diefes Gegen- 
jape8 gar keine philofophifche Aufgabe und derſelbe wird 
von Hegel und den Hegelianern der rechten Seite, nament- 
ih von Erdmann felbft, nur dur offenbare Widerfprüche 
“und Ungereimtheiten gelöl. Man leſe nur Erdmann's 
„Natur oder Schöpfung? Eine Frage an die Natur: 
philofophie und Religionsphilofophie*)" und man wird Scho- 
penhauer beiftimmen, daß die VBerfchmelzung -des Theismus 
mit dem Pantheismus oder Naturalismus, welche die theo- 
logifirende Profefforenphilofophie zu Markte bringt, „hoch— 
komiſch“ ift, und dem Berfaffer des „Antibarbarus logicus‘' 
wird man beiftimmen, wenn er von dem „offenbaren deli- 
rium dialecticum‘ der Hegelianer fpriht (S. 95). Wie 
verderblih das Hegel’fche Imeinsdenten des Widerfpre- 
chenden, welches von ihm ald das eigentliche Gefchäft der 
Vernunft gepriefen wird, auf die Köpfe der Hegelianer 
gewirkt hat, das erficht man befonderd aus den Dia- 
lektiſchen Kunftitüden nud SKopfüberfchlagungen der He- 
- gelianer von der rechten Seite **). Dan glaube Daher 
nur nicht, Daß man aus Erdmann's „Philosſophie“ ein 
richtiged Urtbeil über die nachkantiſche Philofopbie ge: 
winnen könne Die Erdmann’fhe Gefchichtsdarftellung it 
fhon von vornherein durch die falfche Hegel'ſche Anficht 
von der Gefchichte der Pbilofophie überhaupt, wonach die— 


— — — — 





*) Leipzig 1840. oo 

**) Vergl. meine ausführlihe „Kritik der Erbmann’jgen Por: 
lefungen über- den Staat” in ven „Blättern für literariiche Unterbal 
tung‘, 1855, Nr. 55. 


XXI 


nn 





felbe ein continuirlicher, nothwendiger und deshalb auch 
a priori fi conftruiren laſſender Entwidelungsgang der Ge- 
danken ift, verfälfcht. Diefer Anficht gemäß fucht Erdmann 
alle nachkantiſchen Syfteme von Fichte an als nothwendige 
Durchgangspunkte bis zu Hegel hin Ddarzuftellen. Aber 
was ed mit Diefer Gefchichtsanficht auf fih Habe, bat 
nicht nur der „Antibarbarus logicus”, fondern auch Scho- 
penhauer zur Genüge nachgewiefen. Lepterer nennt es mit 
Recht eine „Anmaßung Hegelianifcher Gefchichtfehreiber der 
Philofophie, welche jedes Syſtem als nothwendig eintretend 
darthun und ſonach, die Gefchichte der Philofophie a priori 
conftruirend , und beweifen, daß jeder Philofoph gerade 
Das, was er gedacht hat, und nichts Anderes habe denken 
müſſen; wobei denn der Herr Profeffor fo recht bequem 
fie Alle von oben herab überfieht, wo nicht gar beläcdhelt. 
Der Sünder! Als ob nicht Alles das Werk einzelner und 
einziger Köpfe gewefen wäre, die ſich in der fchlechten Ge- 
jellfchaft diefer Welt eine Weile haben herumſtoßen müffen, 
damit folche gerettet und erlöft werde aus den Banden 
der Noheit und Verdummung; Köpfe, die ebenfo indivi- 
duell, wie felten find, daher von Jedem Dderfelben das 
Arioftifche natura il fece, e poi ruppe lo stampo in vollem 
Mape gilt; — und ald ob, wenn Kant an den Blattern 
geftorben wäre, auch ein Anderer die «Kritik der reinen Ber: 
nunft» würde gefchrieben haben’ u. f. w.*) 

Will man ein gefundes Urtheil über die nachlantifche 
Nhilofophie erlangen, fo ftudire man weder die Dar: 
ftellungen derfelben von Fichtianern **), mod Die von 


*) „Parerga und Paralipomena“, I, 187. 

“) Neulihft Hat wieder Fortlage in feiner „Genetiſchen Geſchichte 
der Philoſophie feit Kant” (Leipzig 4852) den Fichte'ſchen Standpunft 
geltenn zu machen gefucht. - 


XXII 


— — — — 


Schellingianern und Hegelianern, ſondern theils den „Anti- 
barbarus logicus“ von Cajus in der zweiten Auflage, theils 
Schopenhauer's „Skizze einer Gefchichte der Lehre vom 
Idealen und Realen“, fowie deſſen „Fragmente zur Ge- 
fhichte der Philoſophie“ nebft Abhandlung „Ueber die Uni- 
verfitätsphilofophie” *). 


— — — — — —— — — 


*) Im erſten Band der Schrift „Parerga und Paralipomena”. 


Berlin, im November 1853. 


Der Derfafer. 


Inhalt. 


Seite 
Kurzer Lebensabriß Schopenhauer's............. ....... ........ XXIX 
Artikel ber „Westminster Review” über die Schopenhauer'ſche Philoſophie. 
(Abdrud aus der Voß'ſchen Seitung).....- ........................ 
Erster Brief. 
Beranlaffung dieſes Briefwechſels. — Ueberſicht über Schopenhauer's ſaͤmmt⸗ 
liche Werke. — Gutzkow's Urtheil über Schopenhauer............... 32 


Bweiter Brisf. 


Allgemeines zur Eharakteriftif der Schopenhauer’fchen PBhilofophie: ihre Welts 
veradhtung; ihre breite Grundlage; ihre Stellung zwifchen dem Kant’: 
ſchen Nichtwiſſen und dem SchellingsHegel’fchen abfoluten Wiffen; ihr 
Berhältnig zum Idealismus und Realismus; ihre Rückfichtsloſigkeit; ihre 
Baraborie; ihr DVerhältnig zum Rationalismus und Illuminismus..... 40 


Dritter Brief. 


Schopenhauer's Anfichten über die Aufgabe der Philofophie. — Bertheidigung 
berfelben und Widerlegung der falfchen Anfichten über bie Aufgabe ber 
e 111 (11) )) .......................... 51 


Vierter Zrief. 
Schopenhauer's Anſichten uͤber die ſubjective Befähigung zur Philoſophie. — 


Die zum Philoſophiren unentbehrlichen intellectuellen und moralis 
hen Eigenfchaften. — Warum e6 fo wenig echte Philoſophen gibt.... 59 


AXIV 


— — — — — — — 


Fünfter Brief. Sat 


Schopenhauer's Anfichten über Duelle oder Fundament, und über das 
Kriterium der Wahrheit der Philofophie......... ............. 64 


Schhster Brief. 


Schopenhauer’ 8 Anfichten über den Unterfchied der Philofophie von den andern 
Miffenfchaften und ihr Verhältnig zur Empirie.................... 69 


Siebenter Brief. 


Schopenhauer’s Anfichten über den Ausgangspunft und Anfang der Philo: 
fophie. — Einfeitigfeiten des ibealiftifchen und realiftifchen Ausgangs: 
punktes........................... ...... .................... 74 


Achter Brief. 


Schopenhauer's Anfichten über die wahre Methode der Bhilofophie. — Worin 
die Vollkommenheit einer Wiftenjchaft befteht. — Inbuctive und debuctive 
Methode. — Polemik gegen die Echelling-Hegel’fche Begriffe: und Wort: 
philofophie. — Das Vernünfteln........................ ........ 79 


nennter Brief. 


Gintheilung der Philofophie nach Schopenhauer. — Gegen bie Eintheilung 
in bie theoretifche und praftifche Bhilofophie. — Warum bie Pfy: 
hologie feine befondere philofophifche .Wiffenfchaft fei. — Eigenthüm: 
liche Begriffsbeftimmung des VBerftandes und der Vernunft in der 
philosophia prima. — Stellung der Rechts: und ber Religions» 
philoſophie. ..................... ................. ........ so 


Behnter Brief. 


Allgemeine Anfihten über Metaphyfif. — Warum bie Phyſik zur Löfung 
bes Räthfels der Welt unzulänglich ſei. — Warum das Thier fein 
metaphufifches Bebürfnig habe. — Der Menſch als animal metaphy- 
sicum. — Zwei grundverfchiedeue Arten von Metaphyſik. — Urfache 
der geringen Fortſchritte der Metaphuflf....... ................... HN) 


Eifter rief. 


Ueber die MöglichFfeit und die Grenzen der Metaphufil. — Urfache ber 
Unlösbarfeit der metaphyfifchen Probleme. — Schopenhauer's Flares 


AXV 


Seite 
Bemwußtfein über die Philofophie. — Die drei Sophiften: Fichte, 
Schelling und Hegel, — Eintrittscontrole in die Gefellfchaft ber 
Bhilofophen. . .......... ........... .. ......... ....... ....... 106 


Bwölfter Brief. 


Grurtunterfhhied der Welt nach Schopenhauer. — Das Falſche des 
Gartefianifhen Dualismus zwifchen Geift und Materie. i— Ber: 
dienft Schopenhauer’s durch Befeitigung bes Streites zwifchen Mate: 
rialismugs und Spiritualismus — Rüdfall der nadjfantifchen 
Bhilofephen Hinter Kant............................. .......... 114 


Dreizehnter Brief. 


Die Grundformen der Welt als Vorſtellung nach Schopenhauer: 
Das Zerfallen in Subject und Object. — Raum, Zeit und Cauſalität 
als apriorifche Bormen alles Objects. — Beweife für die Spealität des 
Raumes und ber Zeit. — Beweife für die SIntellectualität der An: 
fhauung. — Mebereinflimmung mit der Phyfiologie der Sinne, nament- 
lich mit Weber's Forſchungen über Taftfinn und Gemeingefühl....... 121 


Vierzehnter Brief. 


Borfantifcher Idealismus bei Maupertuis. — Kant und Herbart. — 
Kant's Achillesferſe.............................. een ...... 140 


cfanfzehnter Brief. 


Schopenhauer's Weg ind Innere der Natur. — Der Wille. — Bar: 
nung vor Berwechfelung des Willens mit der Willkür. — Ipentität 
des Willens auf allen Stufen feiner Erfcheinung. — Argumentum ad 
oculos. — Grundzug der Schopenhauer’fcjen Lehre. — Verhaͤltniß des 
Intellects zum Willen........................... .......... 148 


Sechzehnter Brief. 


Die drei Arten von willenbewegenden Urfachen. — Unterſchied der unorga- 
nifchen Natur, des Pilanzen- und des Thierreihe. — Fortſchritt Scho> 
venhauer’s über Kant hinaus................................... 157 


Siebzehnter Brief. 


Schopenhauer's vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. — 
Berhältnig der drei Arten von Urſachen zur vierfachen Wurzel. — 


XXVI 


Gintheilung ber Wiſſenſchaften nach dem Satz vom Grunde. — Zeitver⸗ 
haͤltniß zwiſchen Grund und Folge. — Die vierfache Nothwendigkeit. — 
Falſche Abgrenzung des Gebietes der Freiheit von dem der Nothwendig⸗ 
feit. — Schopenhauer als Antipobe bes Anaragoras und ber fpecula- 
tiven Theologie. ...- ........... ......... ........... ... ....... 


Achtzehnter Brief. 


Löfung des Streites zwiſchen ber chemiſch-phyſikaliſchen und ber teleologiſchen 
Schule nach Schopenhauer's Principien, auf Anlaß der Werke von Mul: 
ber, Molefchott, Liebig, Schulk-Schulgenftein und Eichridht.......... 


Weunzehuter Brief. 


Freiheit und Nothwendigfeit. — Woher ber falfche Schein der Frei» 
heit entfpringt. — Der Efel des Buridan. — Worin die Wahlfrei: 
heit befteht. — Gleichfeßung bes Menfchen mit ber Natur. — Unver⸗ 
einbarfeit bes liberi arbitrii indifferentiae mit ben Thatfachen....... 


Imanzigster Brief. 


Perantwortlichfeit und Iurehnungsfähigfeit des Menfchen. — 
Warum biefelbe durch die Nothwendigfeit der Handlungen nicht auf: 
gehoben wird. — Die durchgängige moralifche Tendenz der Scho— 
penhauer'fchen PhHilofophie. — Unmoralifche Bolgen des Gartefianifchen 
Dualismus zwifchen Geift und Natur. — Unterfchied des Schopen: 
bauerfhen Monismus vom Pantheismus. — Die moderne 
Offenbarungsphiloſophie.................. ............... 


Einundzwanzigster Brief. 


Kritik aller fpeculativen Theologie. — Die Grundfehler des ontolegifchen, 
fosmologifchen und phufifotheologifchen Beweiſes. — Berichtigung und 


Seite 


164 


177 


207 


218 


Ergänzung Kants durch Schopenhauer. ............ .............. 220 


Zweiundzwanzigster Brief. 


Kritik der Kant'ſchen Moraltheologie. — Der kategoriſche Imperativ. — Der 
Eudaͤmonismus der Kant'ſchen Ethik. — Kant's unbedingtes Sollen 
und Herbart's unbedingte praktiſche Ideen............ ......... 


249 


XXVII 


Dreiundzwanzigster Brief. 
Seite 


Kecapitulation des Grundgedankens der Schopenhauer'ſchen Lehre. — Ans 

knüpfung der Äſthetik an benfelben. — Die Platonifche Ipee als Object 

ber Kunft und bes äfthetifchen Wohlgefallens. — Unterſchied ber aͤſthe⸗ 

tifhen von ber gemeinen Betrachtungsweife ber Dinge. — Berhältniß 

der Platon’jchen Idee zum Kant'ſchen Ding an ſich. — Unterfchieb des 

Schönen und Erhabenen. — Hinweiſung auf die Ethik durch das 
Trauerſpiel............ ...... ....... Pe 254 


Wierundzwanzigster Brief. 


Doppelfinn der Erjcheinung bei Schopenhauer. — Unterſchied zwifchen 
Platon's und Kant’s Lehre. — Die drei Grunbeigenfchaften des Willens. 
— Kurze Meberficht über die Schopenhauer’fche Ethik............... 268 


Sünfundzwanzigster Brief. 


Ewigfeit und Ungerflörbarfeit unſers Wefens an fi. — Vergeblichfeit des Selbit- 
mords. — Bejahung und Verneinung bes Willens zum Leben. — 
Unterſchied zwifchen Motiv und Quietiv. — Die ewige Gerechtig— 
feit. — Die Welt als Weltgericht. — Seelenwanderung. — Gewiſſens— 
angftl. — Grunbunterfhied des Guten und Böfen. — Gerechtigkeit 
ale Zwijchenftufe zwifchen der Bosheit und Güte. — Das Mitleid 
als die allein echte moralifche Triebfeder. — Weltüberwindung ber Hei- 
ligen. — Das Ende der Welt und des Lebens, — Myfticismus...... 277 


Schsundzwanzigster Brief. 


Schepenhauer's Rechts:, Staats: und Gefhichtsphilofophie. — Po: 
lemif gegen die. Demagogen und gegen das Hegel’fche Philiiterthum. — 
Bergleihung der Gefchichte mit der Kunft und Wiſſenſchaft. — 
Untergeordneter theoretifcher Werth der Geſchichte. — Praktiſcher Nugen 
der Geſchichte. — Worin die Perfectibilität befteht. — Begriffsbe- 
ſtimmung des Rechts und Unrehts, — Verhältniß der moralifchen zur 
pofitiven Mechtslehre, — Urſprung und Zweck des Staats. — Kante 
Moralprincp ale Staatsprincip. .......... ..................... 297 


Sichenundzwanzigster Brief. 


Beurtheilung der Erdmann'ſchen Antithefe zwiſchen Herbart und Edjopen: 
bauer. — 3. 9. Fichte's Urtheil über Schopenhauer. — Warum Scho⸗ 
penhauer's antifosmifche Tendenz perhorrescirt wird. — Die dem Opti⸗ 
mismus und Peffimismus zum Grunde liegende Gefinnung. — wie: 


XXVII 


Scite 
ſpalt zwiſchen Wille und Erkenntniß. — Fortlage's Urtheil über den 
Schopenhauer'ſchen Peſſimismus........................... ...... 314 


Adtundzwanzigster Brief. 


Anerkennung der Schopenhauer'fchen Ethik. — Bereinigung ber drei größten 
Wahrheiten der drei größten Denker durch Schopenhauer. — Drei Ein: 
würfe gegen die Schopenhauer’fche Philofophie und ihre Erledigung. — 


Kurzer Lebensabriß Schopenhauer's ®). 


Arthur Schopenhauer wurde am 22. Februar 1788 in Danzig 
geboren, wo fein Vater einer der angeſehenſten Kaufleute war. 
Eeine Mutter war die durch ihre Schriften berühmt gewordene 
Johanna Schopenhauer. In fein Knabenalter fällt ein längerer 
Aufenthalt in Frankreich und England. Die vertraute Bekanntichaft 
mit der Sprache und Literatur beider Länder, welche Schopenhauer 
vor vielen Gelehrten Deutſchlands, namentlih vor allen Philos 
jophen auszeichnet, dürfte mit diefem Umftande in Zufammenhang 
eben. Im Jahre 1809 bezog er die Univerfität Göttingen und 
hörte dort zuerft Vorlefungen über Naturwiffenichaften und Ge 
fhichte. Die Borlefungen G. €. Schulze's (des Berfaflerd des 
„Anefidem”) ermwedten feinen Trieb zu philofophiren. Ent 
icheidend wurde dabei Schulze's yperfönliher Rath, den “Privat: 
fleis fürd Erfte ausichlieglih Platon und Kant zuzumwenden, ehe 
diefe bewältigt feien, feinen Andern, namentlid nicht Ariſtoteles 
und Spinoza, anzufehen, ein Rath, den genau befolgt zu haben 
Schopenhauer nie bereut hat. Im Jahre 1811 fiedelte er nad 
Berlin über, in der Erwartung, einen echten Philofophen und großen 


*) Berg; „Die Entwidelung ber deutfchen Speeulation feit Kant“ von 
Erdmann, TE, 381 fg. (Leipzig 1853). Die dort gegebenen biographifchen ' 
Notizen rühren von Schopenhauer felbit her. 


XXX 
Geiſt an Fichte fennen zu lernen; eine Verehrung a priori, welche 
bald der Geringfhägung und dem Spotte Plat machte, obgleich der 
Curſus durchgemacht wurde. Im Jahr 1813 bereitete ſich Schopenhauer 
zur Promotion in Berlin vor; der Krieg verhinderte die Aus- 
führung dieſes Plans und auf die, urfprüngli für die berliner 
Promotion beftimmte Abhandlung „Ueber die vierfache Wurzel des 
Satzes vom zureichenden Grunde” *), wurde er in Jena promovirt. 
Darauf brachte er den Winter in Weimar zu, wo er Goethes . 
nähern Umgang genoß, der. fo vertraut wurde, wie es ein Altere- 
unterfchied von neununddreißig Jahren irgend zuließ. Kaum minder 
als diefer Umgang war von wefentlichem Einfluß auf ihn der Um— 
ftand, daß der Drientalift Friedrich Majer ihn in das inbijche 
Alterthum einführte. Vom Jahre 1814— 18 ward in Dreöden 
privatifirt, Die Bibliothek und die Kunftfammlungen zu vielfeitigen 
Etudien benugt, und dabei in der fchönen Umgebung den eigenen 
Gedanken nachgehangen. In diefer Zeit erſchien eine optifche Ab- 
handlung **), gleichſam eine Epifode feines damaligen Strebens, 
ba gerade in diefer Zeit fein Syftem gewiflermaßen ohne fein Zu: 
thun ftrahlenweife wie ein Kıyftall zu einen Gentro convergirend 
fo zuſammenſchoß, wie er es in feinem Hauptwerk niedergelegt 
hat **s), Sobald das Manufeript dem Berleger übergeben war, 
reifte Schopenhauer nad) Rom und Neapel (im Herbft 1818). 
Zurüdgefehrt, begab er fi im Jahre 1820 nad Berlin, wo er 
fih habilitirte. Indeß hat er nur während eines Semeſters docirt. 
Schon im Frühling des Jahres 1822 ging er wieder nach Italien, 
wo er bis 1825 blieb. Er Ffehrte dann nach Berlin zurüd; der 
Lectionsfatalog enthielt zwar feinen Namen, er lad aber nicht. 
Im Jahre 1830 erfchien eine für das Ausland berechnete latei— 
nifche Bearbeitung der Schrift „Ueber das Eehen und die Karben). 
Im Jahre 1831 ging er ber nad Berlin dordringenden Cholera 


*) Rudolſtadt 1813; zweite Auflage, Sranffurt a. M. 1847. 
**) „Meber das Sehen und die Farben‘, (Leipzig 1816). 
“), ‚Die Welt als Wille und Borftellung‘, (Zeipzig 1819) ; zweite Auflage, 
in zwei Bänden, 1844. 
7) In „Radii scriptores ophthalmologici minores‘, Th. 3.- 


/ 
XXX 
- aus dem Wege, kam nad Frankfurt am Main und blieb daſelbſt, 
weil das Klima und die Annehmlichkeit des Ortes ihn anfprachen, 
und das für einen Mann feiner Art unſchätzbare Glück einer fters 
gefiherten Subfiftenz ihm die Wahl des Drtes frei ließ. Meder 
genötbigt, für Geld arbeiten, noch ein Amt fuchen zu müſſen, blieb 
er in ungeftörtem Beſitz feiner Kräfte und feiner Zeit und feine 
Werke entftanden nicht, weil äußere Rüdfichten fie hervorriefen. 
Die Nichtbeachtung feines Hauptwerk und der Ruhm, den der von 
{hm verachtete Hegel genoß, waren die Hauptgründe eines lang: 
jährigen Schweigens der Indignation. Er unterbrach es erſt im 
Jahr 1836 durch eine Fleine Schrift *), welche nicht nur die, durch 
die neueften Yorfchungen gefundenen empirifhen Belege für die 
Richtigkeit feiner Metaphyſik darlegt, fondern dieſe felbft, wenig» 
fiend_ ihren Hauptpunft, den eigentlihen nervus probandi der 
Sache, gründlicher darlegt, ald irgend eine feiner frühern Schriften. 
Der Umftand, daß im Jahre 1839 die königlich normwegifihe So- 
cietät der Wiffenfhaften zu Drontheim eine von Schopenhauer ein» 
gelieferte Preisabhandlung „Ueber die Freiheit des Willens” Frönte 
und ihn zu ihrem Mitglieve ernannte, machte mehr auf Schopen- 
bauer aufmerffam, ald man es bis jeßt geweſen war. Jene Ab- 
bundlung gab er ſodann mit einer andern „Ueber dad Yundament 
der Moral”, welche durch eine Preisaufgabe der Föniglichen So⸗ 
cietät der Wifienfchaften zu Kopenhagen hervorgerufen, aber nicht 
gefrönt worben war, unter dem Titel: „Die beiden Grundprobleme 
der Ethik“*) heraus. Hierauf folgte im Jahre 1844 die zweite, 
um einen Band „Ergänzungen vermehrte Auflage feines Haupts 
werfed: „Die Welt als Wille und Vorſtellung“**) und im Jahre 
1547 die zweite, fehr erweiterte Auflage feiner längft vergriffenen 
Dertordiffertation „Leber die vierfache Wurzel des Saped vom zu: 
reihenden Grunde”. Seit mehr ald zwanzig Jahren lebt Schopen- 
bauer in Frankfurt am Main zurüdgezogen, wie es die Einfum- 
feitöliebe und das rein intellectuelle Leben eines großen Geiſtes 


°) „neber den Willen in der Natur‘ (Branffurt a. M. 1936). 
*+) Aranffrt a. M. 1841. 
””*) Leipzig 1844. . 


XXXII 








unter einem ihm „heterogenen Geſchlechte“ mit ſich bringt, aber 
darum nicht weniger aufmerffan und theilnehmend als früher die 
Welt beobachtend, aus der er überhaupt von jeher mehr, als aus 
Büchern, gelernt und gefhöpft hat, obgleich in feinen Werfen auch 
nicht wenig Proben feiner erftaunlichen Belefenheit in den Literaturen 
aller Nationen zu finden find. Das zulegt erfchienene Wert Scho- 
penhauer’8 find De „Parerga und Paralipomena“, Kleine philos 
fophifche Schriften in zwei Bänden *). 


*) Berlin 1851. 





2 


Mehrzahl Derer, welche ex officio das Brivilegium des angeblichen 
Philoſophirens ausüben, fo doch um fo mehr bie große Zahl der 
Denfenden unter den Gebildeten, wird es und Dank willen, wenn 
wir fie mit dem wefentlihen Inhalt diefer Beſprechung bekannt 
machen. Es fann dies um fo leichter und angemeffener gefchehen, 
als die von dem Engländer bei feinen Landsleuten vorzugsweife 
vorausgefegte Unbekanntfchaft mit Schopenhauer, leider auch auf Die 
deutfchen Lefer mit fehr geringen Ausnahmen anwendbar if. Zur 
Sache denn. — Boran ftellt Die «Westminster Review» bie Titel Der 
von Schopenhauer gefchriebenen philofophifchen Werfe*). Dann 
beginnt fie: 
| „Nur Wenige, das wagen wir zu behaupten, werben ſich unter 
unfern englifchen Leſern finden, denen der Name Arthur Schopen- 
bauer’ befannt ift. Noch Wenigere werden wiflen, daß das geheim- 
nißvolle Wefen, welchem dieſer Name angehört, feit ungefähr vierzig 
Jahren daran gearbeitet Hat, das ganze Syftem deutfcher Philofophie 
umzuftürzen, das feit Kant’8 Tode von den Univerfitätsprofefloren 
aufgebaut wurde; und daß — ein wunderbarer Beleg zu dem 
Geſetz der Schalllehre, welches den Knall der Kanone erft lange 
nach dem Abfeuern vernehmen läßt — feine Stimme erft jetzt gehört 
wird. Die Allerwenigften aber werben eine Ahnung davon haben, 
dag Arthur Schopenhauer einer der genialften und lefenswertheften 
Schriftfteller der Welt ift, der, groß als Theoretifer, von univerſellſter 
Bildung, unerfchöpflih in Erläuterungen, mit erſchreckender Logik 
unerbittlih im Ziehen von Schlußfolgerungen, dazu noch bie für 
Alle außer den Betroffenen hoͤchſt unterhaltende Eigenfchaft befigt, die 
ſchwache Seite feiner Gegner auf eine furchtbare und unwiderftehliche 
Weiſe zu treffen.” 
„Aus der Reihe feiner Werke ift zu erfeben, wie lange und 
unermüblich diefer ercentrifchefte aller Bhilofophen gearbeitet hat. Im 


*) Es find die folgenden: 1) „Ueber die vierfache Wurzel des Sapes vom 
zureichenden Grunde” (Rudolſtadt 1813; zweite fehr vermehrte Ausgabe Frankfurt 
1847). 2) „Die Welt als Wille und Vorftellung“ (Reipzig 1819; zweite, um das 
Doppelte vermehrte Ausgabe ebend. 1844). 3) „Bom Willen .in ber Natur‘ 
(Branffurt 3889). 4) „Die beiden Grundprobleme der Ethik“ (Frankfurt 1841). 
5) „Parerga und Paralipomena” (2 Bde., Berlin 1851). 





4 

wegen ſelbſt wüßte, und fuhr fort, abſolute Freiheit des Willens und 
kategoriſche Imperative zu predigen, gerade als ob der energiſche Scho⸗ 
penhauer niemals die Feder mit dem Papier in Berührung gebracht 
hätte. Er machte die entmuthigende Erfahrung, nit einmal im 
böfen Sinne beachtet zu werden; was doch noch befler ift, als gar 
feine Beachtung — und dennoch arbeitete Schopenhauer weiter. 
Seine letzte Schrift: «Parerga und Paralipomena», eine Sammlung 
philofophifcher Auffüge zur Erläuterung feined Syſtems, aber aud 
ohne vorherige Kenntniß deſſelben vellfommen lesbar, ift noch gewal⸗ 
tiger und gibt noch mehr Zeichen felbftändigen Denfens als das 
Werk feiner Jugend, welches vierzig Jahre früher and Licht trat. 
Und endlidy finden wir auch, daß der ignorirte Philoſoph befannt 
und in einem gewiffen Grade gewürdigt wird. Die im Jahre 1852 
von Profefior Bortlage herausgegebene «Geſchichte der veutichen 
Bhilofophie», — ein in feiner Art fehr achtbares Wert — wibmet 
der Prüfung Schopenhauer's als einer der merfwürdigften Erſchei⸗ 
“nungen der Gegenwart ein längeres Gapitel, und obwol der Bros 
- feffor dem Nichtprofefior widerftreitet, fo ift es doch ein verbindlicher 
Streit. Aus zwei Artifeln in dem jüngften Heft von 3. H. Fichte's 
« Zeitfchrift für Philofophie» ergibt es fich noch Flarer, daß Schopen- 
bauer, wenn audy nicht gern gefehen, doch für furchtbar gehalten 
wird *).“ 

M. „Aber wenn Echopenhauer wirklicd bedeutend if, warum 
diefe vierzigjährige Dunfelheit? Er felbit ift bereit, dieſe Frage vor 
jeder andern zu beantworten. Er wird euch nämlich fagen, das 
komme daher, weil er Fein Philofophieprofefior fei, der einen alade⸗ 
mifhen Lehrſtuhl inne hat und ein Gewerbe aus der Philofophie 
macht; weil ferner unter allen Univerfitätspbilofophen ein Ueberein⸗ 
fommen getroften fel, Jeden, der nicht zu ihrer Clique gehört, bei Seite 
zu fehieben. Die Hegelianer mögen von den Herbartianern abs 
weichen, und die Herbartianer von den Hegelianern, Beide von ben 
Echellingianern, und Alle von den Anhängern Schleiermacher’s, die 


) Der Verfaſſer hätte noch hinzufügen follen, daß Dr. Frauenſtaͤdt feit Iän- 
gerer Zeit in mehren literarifchen Artifeln, zulegt in feinen „Aſthetiſchen Fragen“, 
die ungemeine Bedeutung Schopenhauer's hervorgehoben hat. 








.7 


Erklärer kann die Form der Auslegung nad Gutdünken ändern, 
und der Fähigkeit der Erläuterung, mit der er vieleicht begabt IR, 
vollen Spielraum lafien. Dem ift nicht aljo bei Hegel's Philofopbie; 
wenn fein Syftem wirklich wie jede andere Wiſſenſchaft gelehrt wer: 
den follte, fo würde ed ein vollfommenes Umfchreiben erfodern; aber 
daranf laffen fih Hegel’d Jünger durchaus nicht ein: fie begnügen 
fi) damit, feine Worte zu wiederholen, und feine Sylbe trägt zur Er: 
Klärung derfelben bei. Etwas Gehaltloferes als die den verſchiedenen 
Schulen deutfcher Bhilofophie angehörenden, untergeorpneten Werke, 
gibt es im Bereich der gefammten Literatur nicht. — Nachdem nun der 
unparteiifche Engländer, den wir uns denfen, eine binlänglihe Doſis 
diejer filtrirten Weisheit eingenommen bat, und den träumeriichefien, 
beweislofeften Beweisführungen, welche die Imagination erreichen 
kann, gefolgt ift, fo ſuche er das Hindernig fennen zu leruen, welches 
alle Bereinbarung feiner eigenen Gedanken mit denen in den vorlie⸗ 
genden Büchern unmöglid) macht. Bon der Schule wirb ihm ohne Um; 
fände gejagt werden, daß ihm der «fpeculative Geift» fehlt; oder hat er 
die Schelling’jche Lehre Der Hegel’fchen vorgezogen, fo heißt es, daß er 
ohne eine gewiſſe übernatürliche Yähigfeit der Auichauung fei, welche 
ald ein ganz unumgänglich nothwendiges Erfoderniß zum philoſe⸗ 
phifchen Studium betrachtet werben mkie. Wenn nun jein Biseranen 
gegen fich jelbit nicht ganz abmerm iR, fo wird er hier wirllich anfangen 
bedenklich zu werden. Tenn die Hähigleisen, durch welche ex die ver 
jchievenartigiten Zweige der Gelchrſamken umn Wuſſenichaſt erſaüe 
batte, kommen bier zu fur, und man jdhläus ihm eine Art des 1 enfens 
vor, fie auf feinen Schendjwed amwensbar if, ja, die ex nıdı as 





Edesubane Ebeling zur Sup mon her Aue — win 
ed mu ame Siiguße cum Far ul 

Bx yhrı mir 5 zer B Sue - 
meBrzurz ruihrı Susriers 56 Men mes Do Am mw ir 





6 


umd ſich ehrlich fragt: ob dies der Stil if, in dem cin zur Belehrung 
beſtimmtes Werk geichrieben fein follte. Tie allgemeinen Grundzüge 
des Syſtemns mir feinem Optimismus, jeinem Liberalismus, jeinem 
kheinbar einen ausgedehnten Gefichtöfreis beherrichenden Stanbypunfte 
mögen ihm gefallen; die univerjellen Keuntniſſe des Verfaſſers mögen 
feine Bewunderung erregen; aber Davon abgejehen frage er ſich: ob 
das Syſtem wirflih ein Syſtem if, ob die ſcheinbar Propofition 
mit Propofition verbindenden Glieder wirflih erwas Derartiges bes 
wirten? Wenn er nicht viel Eigenvünfel beſizt, wird er füch eine 
Weile ganz beicheiven vorftellen, daß jeine eigene Faſſungskraft des 
Autors Tiefe nicht zu ergründen vermöge; aber wenn er denkt, daß 
er die Beweisführung in jeder befichenden Wiſſenſchaft, mit Aus 
nahme der von Hegel und Echelling verbreiteten deutſchen Meita⸗ 
phyſik, verfolgen konnte, daß jogar das in der hoͤchſten Mathematik 
angewandte Berfahren fh am Ente nicht fo gar weſentlich von ber 
gewöhnlichen Discuſſion unterjcheibet; jo wird zulept die Beſcheiden⸗ 
heit ein wenig müde werben, und der Studirende wird die Voraus⸗ 
fegung wagen, daß er in der Berehrung feines Lehrer zu weit ge 
gangen fei. Nimmt er hierauf eind der Eompendien ter Hegel'jchen 
PBhilojophie zur Hand, vermittelt welder irgend ein Jünger bes 
großen Meifterd dem Uneingeweihten die Hauptquelle ver Weisheit 
zugänglicher macht, jo wird die Sache noch jchlimmer. Bei Hegel 
felbit findet mar, unabhängig von jeinem Syſtem, eine gewiſſe Anzahl 
von beiehrenden Rebenbemerfungen, die fhäpbarer find als die Damit 
erläuterte Sache, — gerade wie in einem Bilderbuche die Bilder 
gewöhnlich viel befier find ald der Tert — und doch waren fie nur 
dazu beftimmt, dem trodenen Skelet des Terted ald Eommentar zu 
dienen. Aber wenn der Hegelianiiche Lnterlehrer Präceptor wird, 
fann er des Meifterd Lehre nur in einer kürzern und folglich trods 
nern Form geben, und die unfruchtbare Ratur des Syſtems ftellt ſich 
dadurch heraus, dag er faum ein Wort in einer andern Ordnung 
vorbringen kann, als ed in der urjprünglichen Schrift niederges 
ſchrieben if.” 

„Lie Theorien von Blato, von Lode, von Kant brauchen nicht 
nach einem beftimmt vorgezeichneten Gontour, welcher alle eigenthüms 
liche Indioidualisät vodtichlägt, audeinandergejegt zu werden, jondern ber 





Gehalt im Auge haben”); fo viel aber ift gewiß, daß die, welche er 
angreift, mit der äußerften Anftrengung ſich bemüht haben, Die Anficht 
Schopenhauerd über fie zu unterftügen und zu befeftigen. (Vergl. 
ben Artifel über a gleichzeitige Literatur Deutſchlands », «Westminster 
Review», April 1852.)” 

11. „Bolemifche Philofophen find oft geſchickter im Einreigen ala 
im Aufbauen; fie zeigen einen ungemeinen Echarffinn im Auffinden 
der fchwachen Seiten an dem Gebäude ihred Gegners, aber fie Lafien 
ſich felbf einen auffallenden Mangel an Sorgfalt und Präcifion zu 
Schulden fommen, wenn fie ihr eigenes aufftellen. Bon al dem 
ift Schopenhauer gerade das Gegentheil. Weit davon entfernt die 
Theorien Schelling’8 und Hegel's zu feciren, läßt er es bei einer 
Blut von Invectiven bewenden, als ob er fie der Mühe einer Bes 
weisführung gar nicht erft für werth hielte**), und dann baut er 
geduldig fein eigenes Syſtem auf, indem er es beftändig in durchaus 
verftändlicher Weife begründet. Seine eigentliche Widerlegung aller 
andern Syſteme liegt in dem Bertrauen, mit dem er auf das feinige 
hinweiſt. Er wendet fi) an den gefunden Menfchenverftand feiner Lefer, 
um fie dahin zu bringen, nicht mehr auf eine Anzahl fonverbarer 
Worte vieldeutigiten Sinnes zu hören; gibt manchen Ausdrüden bie 
Bedeutung wieder, die fie vor Kant hatten, und ftellt eine Theorie 
auf, die, man mag damit übereinjtimmen oder nicht, ſchwerlich dem 
Verftändniffe unzugänglid) fein wird. Mit den andern beutfchen 
Metaphyfifern fteht man nicht einmal auf einem ehrlichen Kampf 
plage. Die Syſteme find fo fonderbar zugeſpitzt und die einzelnen 
Wörter haben fo wenig eine feftftehende Bedeutung, daß man nie 
weiß, ob man einen Schatten oder etwas Faßbares bekämpft. Ent⸗ 
weder verfegen und Die fremdartigen Ideen in ein bewunderndes 
Staunen, oder fteigende Dunkelheit ſchreckt ung zurüd; in’ beiden 


*) Der in Schopenhauer's „Parerga“ enthaltene Auffap über die Bro: 
fefforenphilofophie enthält denn doch noch etwas andere Vorwürfe, und ift zum 
vollen Verſtändniß diefes Punktes nachzulefen. 

») In der Vorrede der „Beiden Grundprobleme der Ethik“, S. 21 fy., unier: 
zicht fihh Schopenhauer doch der Mühe, der dänijchen Akademie zu beweifen, weß 
Geiſtes ber von ihr „summus philosophus“ genannte Hegel eigentlich fei. 





feunız, unt ter eingettciene Zermchrin wur made zu verfcanen fein.“ 

„Ecker wir nun aut Schercabarer. ie in Wine Schrmeihebe 
tie genialüe, Wunreihüe um, wir mämn binjwiügen, bie unier- 
haltendſte, vie ad venfen läsı: ver Inbalt teimer Lebre hingegen 
it ver enımurbigentüte, abütchentar, den Beürchungen der Gegen 
wart enszegengeiegsee, welchen ſelbũ Hiebs cijrigäe Tröter hätten 
serbringen konnen. Alle, wem cin liberale Sim, wenn wicht 
mit Berrauen, jo tech mi Hommunz aujblidı — Die Erweite⸗ 
rung poliriicher Rechte, tie um ſich greitente Biltung, die Ber 
brüberung ter Rationen, die Auffindung neuer Mind, vie hart 
nädige Natur zu bewältigen — muß ald ein leerer Traum aufge 
geben werden, wenn jemals Schopenbauer’6 Lehre zur Geltung 
fommt. Mit einem Worie, er iR ein erflärter Peſſimiſt); fein 
große Reiulat if: dag wir uns in der möglich ſchlimmſten Welt 
befinden, die aller Berbefierung fo unfähig ift, daß wir nichts Beſſeres 


*) Diefe ganze Auffafiung ber Grgeknifie von Scherenbauer's Philofophie iR 
eine burchaus einfeitige. Allerdings werten tie Träumereien von der Vortrefflich⸗ 
keit der menſchlichen Natur durch biefelbe Feine Beftätigung finden, aber die mail 
maßliche Beforgnig des Verfaſſers, ſich durch eine Anerfennung der Lehre Schopens 
hauer's zumal bei ben Klerikalen feines Lantes zu diecreditiren, verleitet ihn, 
Schlußfelgerungen aufzuftellen, die ungerechtfertigt find. Der ethiſche Standpunkt 
Schopenhauer's ift einem gebanfenlofen Peifimismus in der gewöhnlichen Beden⸗ 
tung bes Wortes eben fo entgegengefeht, wie einer bodenlofen Mifantsropie. 
Dies wird fchon aus folgender äußerfl bezeichnenden Stelle der „Barerga”, II. 168, 
erhellen: 

„Im Gegenfah zu befagter Form des Kant’ichen Moralprincipe (von der 
Würde des Menſchen) möchte ich folgende Regel aufftellen: Bei jebem Menfchen, 
wit dem man in Berührung fommt, unternehme man nicht eine objective Ab: 
(häßung deflelben nach Werth und Würde, ziehe alfo nicht die Schlechtigkeit feines 
Willens, noch die Befchränftheit feines Berflandes und die Verkehrtheit feiner 
Begriffe in Betrachtung, da Erfleres leicht Haß, Lehteres Berachtung gegen ihn 
erwecken könnte; fondern man faſſe allein feine Leinen, feine Noth, feine Angſt, 
feine Schmerzen ins Auge — da wird man fich flets mit ihm verwandt fühlen, 
mit ihm fumpathifiten und flatt Haß oder Verachtung jenes Mitleid mit ihm 
empfinden, welches allein bie ayarı ift, zu der das Evangelium aufruft. Um 
feinen Haß, Feine Verachtung gegen ihn auffommen zu laffen, ift wahrlich nicht 
die Aufſuchung feiner angeblichen „Würbe”, fondern umgelchrt, der Stanbpunft 
des Mitleids der allein geeignete.” 





12 

wir vorausfehen, Daß unfere Lefer mit Kant’d Theorie infoweit 
befannt find, um zu wiflen, daß er Zeit und Raum ald bloße Kor 
men der Anfchauung, durch die der Geift den Eindrud der äußern 
Dinge erhält, die aber an den Dingen felbft Feine Eriftenz Haben, 
betrachtete; fo wie auch, daß er annimmt, daß gewifle allgemeine 
Geſetze, wie 3. B. Urfache und Wirkung dem Geifte urfprünglid 
innewohnen, fo daß Fraft dieſer Geſetze jedes Urtheil gebildet werden 
muß. Raum, Zeit und die «Sategorien», — die Media, durch 
welche wir in die Sinne fallende Gegenftände wahrnehmen, und bie 
Geſetze, nach denen fie Object fowol des Denfens ald der Sinne 
werden, find daher a priori gegeben, gerade fo, wie wir fagen wür: 
den, daß (um ein triviales Gleichniß zu brauchen, einem Manne, 
der genöthigt wäre, fein ganzes Leben eine grüne Brille zutragen, 
die ganze Natur a priori grün erfcheinen müßte. Hierin liegt der 
wefentliche Grund, vermöge deſſen die Denfer der englifchen Schule ver- 
hindert find, die Anfichten der veutfchen zu theilen. Der Engländer, 
wenn er erklärt, daß die Erfahrung die einzige Quelle der Erkenntniß 
jet, läßt feine Befchränfung zu Gunften von Gefegen oder Ariomen zu, 
fie mögen noch fo allgemein oder evident fein, während Die Deutfchen, 
fo fehr fie auch in andern Punkten voneinander abweichen, darin 
übereinfimmen, daß, abgefehen von aller Erfahrung, der Geift ſelbſt 
Duelle gewifier von aller Erfahrung unhabängiger Erfenntnifle iſt.“ 

„Bei Kant felbft ift Die Abweichung von den Engländern noch 
weniger weſentlich als bei feinen Nachfolgern. Diefe ftellen in der 
That Theorien auf, welche den Menfchen weit über die Grenzen der 
Natur binausführen würden, während feine Theorie von den Formen 
a priori eine befchränfende und nicht eine erweiternde Tendenz bat. 
Die dem Geiſte urfpränglichen «Kategorien » fommen nur dann zur 
Geltung, wenn fie auf gegebene Objecte angewendet werben Fönnen, 
und wir haben fein Recht, fie anzuwenden, wo die finnliche Welt 
aufhört, oder um bei dem Gleichniß zu bleiben: der Mann mit der 
grünen Brille muß fi) nicht einbilden‘, daß deswegen, weil die er- 
hellte Natur grün ausfieht, die Dunkelheit auch grün erfcheinen werde. 
Dem confequenten Kantianismus gemäß ift die natürliche Theologie mit 
ihren Hohenprieftern Durham und Paley und ihrer Mitgift von Bridge- 
waterabhandlungen nur eine liebenswürdige Abjurbität, gegründet auf 





44 


Veranſchaulichung trifft, verdankt er den eigenthümlichen Zauber ſeiner 
Schriften.“ 

„Den Verſtand hat nach Schopenhauer, der hier im geraden 
Gegenſatz zu Carteſius ſteht, der Menſch mit andern Thieren gemein, 
obgleich verſchiedene Grade der Schaͤrfe deſſelben unterſchieden wer⸗ 
den. Der Verſtand kann nicht generaliſiren, ſondern feine Functionen 
find auf die einzelnen, unmittelbaren Objecte beſchräaäͤnkt, und der 
Menfch, der weiß, daß eine Hammeldrippe den Hunger ftillen wird, 
ift in derfelben Lage. wie ein Pferd, das von einem Bündel Heu 
praftifch das Gleiche behauptet. Praftifche Gefchidlichkeit, Gewandts 
heit, kurz die meiften Eigenfchaften zum «guten Bortfommen in der 
Melt hängen in hohem Grade von der Schärfe des Verftandes ab, 
der jeder einzelnen Wirfung ihre befondere Urſache zufchreibt, und 
wer hierin zu irren pflegt, if, was man .im gewöhnlichen Leben 
dumm nennt.’ 

V. „In der Definition der Vernunft weicht Schopenhauer ſehr 
bedeutend von allen feinen Zeitgenofien ab. Bei ihnen ift die Ver⸗ 
nunft eine viel umfaflendere Geifteöfraft, welche, das Endliche ver⸗ 
fchmähend, fih durch das Erfaſſen, Beſchauen oder Ahnen des Uns 
endlichen, Abfoluten oder Unbebingten (je nach dem befondern Voca⸗ 
bularium des ‚betreffenden Philofophen) befundet. Nur ift fie dem 
befondern Uebelftande ausgeſetzt, daß mancher vorurtheilsfreie Denker 
daran zweifelt, ob fie überhaupt exiſtirt. Was unter Verſtand ges 
dacht wird, ift immer ziemlich verftändlidh; aber wenn ein gewöhns 
licher deutfcher Philofoph anfängt über Vernunft zu fpredhen, dann 
verfteigt fich feine Rede gewöhnlicy in eine neblige Erhabenheit. Die 
Warnung des den ehrgeizigen Flug ber Vernunft in den Regionen 
der Wiffenfchaft erfennenden Kant, fie nicht als einen theoretifchen 
Unterweifer zu betrachten, ift nur wenig beachtet, und vielmehr die 
Vernunft zur Urheberin jever Monftrofität, die ein pbilofophifcher 
Kopf ausbrütet, gemacht worden.” 

„Bei Schopenhauer nimmt die Vernunft eine noch anſpruchs⸗ 
(ofere Stellung ein als bei Kant, der dadurch, daß er fie an die 
Spige feines moralifhen Syſtems ftelte und ihr fo eine hohe praf- 
tifhe Bedeutung gab, die Veranlaffung zu der fonderbaren Ber- 
götterung der abftracten Formen gab, welche wir bei feinen neueften 





gegeneinander meflen; wonach dann das Ueberwiegende, indem es 
den Ausichlag gibt, die überlegte Enticheivung des Willens ift und 
al8 ein ſicheres Anzeichen jeine Befchaffenheit fund macht. Das 
Thier hingegen beftimmt der gegenwärtige Cindrud, nur die Furcht 
vor dem gegenwärtigen Zwange fann feine Begierde zähmen, bis 
jene Furcht endlich zur Gewohnheit geworden ift und nunmehr al6 
ſolche es beftimmt: das ift Drefiur. Tas Thier empfindet und 
fhaut anz der Menſch denkt überdies und weiß: Beide wollen. 
Das Thier theilt feine Empfindung und Stimmung mit, durch Ge 
berde und Laut: der Menſch theilt dem andern Gebanfen mit, durch 
Sprache, oder verbirgt Gedanken durch Sprache. Sprache if das 
erfte Erzeugniß und das nothwendige Werkzeug feiner Bernnnft: 
daher wird im Griechiſchen und im Staltenifhen Sprache und Ver 
nunft durch daſſelbe / bezeichnet: 6 Aoyos, il discorsoe. Bernunft - 
fommt von Vernehmen, welches nicht ſynonym iſt mit Hören, ſon⸗ 
dern das Innewerden der durch Worte mitgetheilten Gedanken bes 
deutet. Dur Hülfe der Sprache allein bringt die Vernunft ihre 
wichtigften Leiftungen zu Stande, nämlid) das übereinftimmenve 
Handeln mehrer Individuen, das planvolle Zufanımenwirfen vieler 
Tauſende, die Givilifation, den Staat; ferner die Wiſſenſchaft, das 
Aufberwahren früherer Erfahrung, das Zufammenfaflen des Gemein 
famen in einen Begriff, das Mittheilen der Wahrheit, das Ver⸗ 
breiten des Irrthums, das Denken und Dichten, die Dogmen und 
die Superftitionen. Das Thier lernt den Tod erft im Tode kennen: 
der Menfch geht mit Bewußtfein in jeder Stunde feinem Tode näher, 
und Dies macht felbft Dem das Leben bisweilen bedenklich, der nicht 
fhon am ganzen Leben felbft dieſen Charakter der fteten Vernichtung 
erfannt hat. Hauptfächlich dieferhalb hat der Menſch Philoſophien 
und Religionen: ob jedoch Dasjenige, was wir mit Recht an feinem 
Handeln über Alles hochſchätzen, das freiwillige Rechtthun und der Edel⸗ 
muth der Gefinnung, je die Frucht einer jener beiden war, iſt ungewiß. 
ALS fichere, ihnen allein angehörige Erzeugnifje beider und Productionen 
der Vernunft auf diefem Wege ftehn hingegen da die wunderlichften, 
abenteuerlichften Meinungen verſchiedener Schulen, und die feltfamften, 
bisweilen auch graufamen Gebräuche der Priefter verfchiedener Reli- 
gionen.» («Die Welt ald Wille und Vorftellung», I, 41.) 





418 


VI. „Die ganze fichtbare Welt ift alfo Nichts als eine in ſich con- 
fequent zufammenhängende Welt des Scheins. Raum, Zeit und das 
Cauſalitaͤtsgeſetz find Nichts weiter ald bloße Kormen der Anfchauung, 
und haben mit der wirklichen Natur der Dinge Nichts zu thun, fon 
dern betreffen diefelbe nur infofern, als fie Objecte eines erkennenden 
Subject werben. Da der Geiſt gezwungen if, nad dem Geſetze 
der Gaufalität zu denfen, fo iſt ed ein Widerfpruch, von einer erften 
Urfache zu fprechen. Jede Urfache iſt ihrerfeits die Wirkung einer 
andern Sache, und was einen wirflidden bona-fide Anfang betrifft, 
wie kann man noch irgend etwas von der Art fuchen, wenn bie 
ganze Welt eine Täufchung iſt — ader Schleier der Maya», wie 
die indifchen Weifen fie nennen, und wie Schopenhauer, deſſen reli- 
giöfe Anfihten zwifchen Brahmaismus und Buddhaismus ſich bes 
wegen, fie, ihnen folgend, zu nennen liebt. Was die Art und Weiſe 
betrifft, wie unfer cholerifcher Weltweifer Die, welche anderer Anſicht 
find, behandelt, mag folgendes Beifpiel feiner leidenfchaftlichen Ma⸗ 
nier zeigen: | | . 

„Was haben denn nun unfere guten, reblichen, Geiſt u 
Wahrheit höher als Alles fchäßenden deutfchen Philoſophieprofeſſoren 
ihrerfeitö für den fo theuern kosmologiſchen Beweis gethan, nachbem 
nämlih Kant in der Bernunftfritit, ihm die töbtliche Wunde beis 
gebracht hatte? Da war freilid) guter Rath theuer: denn (fle wiſſen 
es, die Würdigen, wenn fie e8 auch nicht fagen) causa prima if, 
eben fo gut wie causa sui, eine contradictio in adjecto; obfchon 
ber erftere Ausdruck viel häufiger gebraucht wird als der letztere, 
und auch mit ganz ernflhafter, fogar feierlicher Miene ausgefprodyen 
zu werben pflegt, ja Manche, infonderheit englifche Reverends recht 
erbaulich Die Augen verbrehen, wenn fie mit Emphafe und Rührung, 
the first cause, — dieſe contradictio in adjecto, — ausfprechen. 


“ 


an geometrifchen Beifpielen deutlich gemachten Rüderinnerung und ber Auffaſſung 
der Geometrie, als einer durch die aprioriſtiſche Form des Raumes gegebenen 
und demgemaͤß in einer, dieſer eigenthümlichen, Art zu begründenden Wiſſenſchaft, 
iſt ein großer Unterſchied. Ueberdies iſt der Verfaſſer ſehr in Irrthum, wenn er 
Schopenhauer's Auffaffung der Mathematik eine bloße Epifobe nennt, ba fie doch 
in einer befondern Art des Satzes vom Grunde wurzelt. 





20 


Starrfopf; jo ſchlecht, — wie mit deinen Brüdern, dem ontologifchen 
und dem phuflfotheologifchen. Aber getroft, wir verlafien dich darum 
nicht (du weißt, wir find dafür bezahlt): — jedoch — es iſt nicht 
anders — du mußt Namen und Kleidung wechfeln: denn nennen 
wir dich bei deinem Namen, fo läuft und Alles davon. Incognito 
aber nehmen wir dich untern Arm und bringen dich wieder unter 
Leute; nur, wie gefagt, incognito: es geht! Zunaäͤchſt alfo: bein 
Gegenftand führt von jegt an den Namen, «das Abjolutums: das 
klingt fremd, anftändig und vornehm, und wie viel man mit Bor: 
nehmthum bei den Deutfchen ausrichten kann, wiflen wir am beften: 
was gemeint fei, verfteht doch Jeder und duͤnkt fi) noch weile da⸗ 
bei*). Du felbft aber trittft verfleivet in Beftalt eines Enthymemd 
auf. Alle deine Profyllogismen und Prämiffen nämlich, mit Denen 
du und den langen Klimar hinaufzufchleppen pflegteft, laß nur hübſch 
zu Haufe: man weiß ja doch, daß es nichts damit if. Aber als 
ein Mann von wenig Worten, ftolz, breift und vornehm auftretend, 
bift du mit einem Sprunge am Ziele: «das Abfolutum », fehreift du 
(und wir mit), «dad muß denn doch zum Teufel fein, fonf wäre 
ja gar nichts!» (Hierbei fchlägf du auf den Tiſch.) Woher aber 
Das ſei? «Dumme Frage! babe ich nicht gefagt, es wäre das 
Adfolutum!» — Es geht, bei unferer Treu, es geht! Die Deutfchen 
find gewohnt, Worte flatt der Begriffe hinzunehmen: dazu werben 
fie von Jugend auf durch und dreffirt.» («lleber die vierfache Wurzel 
des Satzes vom zureichenden runder, ©. 37.)" 

„Das vorftehende Citat ift in mehr als einer Hinficht charak⸗ 
teriftifch. Es liegt darin jene fonderbare Mifchung von Sarkasmus, 
Invective und handgreiflicher Beweisführung, welche den polemifchen 
Stil Schopenhauer’8 bildet und zugleich jenen perfönlichen, nie ganz 
vergeflenen Groll, in der Form bitterer Ironie hervorbrechen laͤßt.“ 

„Nachdem nun Schopenhauer fo eine die ganze Welt um- 
fafiende Theorie, die von Kant nicht weſentlich abweicht, aufgeftellt 
bat, kömmt er auf feinem eigenften Grund und Boden an. Bisher 
bat er Die Lehren Anderer ausgearbeitet und feine Zufäbe find 


- 


*) Die «Westminster Review» bricht ihr Gitat hier ab, das Bolgende gehört 
aber noch wefentlich dazu. 





Träumen, — fo traumhaft, daß es ſchwer ift, den Unterſchied zwiſchen 
Schlafen und Wachen feftzuftellen; aber die Welt an ſich ift ein 
‚enormer, ſich beftändig ins Leben ftürgender Wille. Wenn wir außer 
uns liegende Gegenftände gewahr werden, fo wird und nur eine 
Seite von ihnen offenbar — die Außenſeite; find wir hingegen 
unſer eigenes Object, fo werden wir ums felbft nicht nur als Er⸗ 
ſcheinungen, ſondern auch ald Wille bewußt, und dieſer ift nicht bloße 
Erſcheinung: und hier haben wir den Schlüffel zu dem ganzen Gehelm⸗ 
niß, denn, wenn wir analog weiter ſchließen, fo können wir biefen in ung 
mit Bewußtfein verbundenen Willen auf die ganze Welt, und ſelbſt 
auch auf ihre bewußtlofen Theile und Bewohner, ausdehnen.” 

1» «Wir werben demzufolge die nunmehr zur Deutlichfeit erhobene, 
doppelte, auf zwei völlig heterogene Weiſen gegebene Erfenntniß, die 
wir vom Weſen und Wirken unfers eigenen Leibes haben, weiters 
bin als einen Schlüffel zum Wefen jeder Erſcheinung in der Natur 
gebrauchen und alle Objecte, die nicht unfer eigener Leib, daher nicht 
auf doppelte Weife, fondern allein als Vorftellungen unferm Ber 
wußtſein gegeben find, eben nad) Analogie jenes Leibes beurtheilen 
und daher annehmen, daß, wie fie einerfeits, ganz fo wie er, Vor⸗ 
ftellung und darin mit ihm gleichartig find, auch andererfelts, wenn 
man ihr Dafein als Vorftelung des Subjects bei Seite ſeht, das 
dann noch uͤbrig Bleibende, feinem innern Wefen nach, daffelbe fein 
muß, als was wir an und Wille nennen. Denn welde andere 
Art von Dafein oder Realität follten wir der übrigen Körperwelt 
beilegen? woher die Elemente nehmen, aus denen wir eine ſolche 
sufammenfegten? Außer dem Willen und der Vorftellung iſt uns 
gar nichts befannt noch denkbar, Wenn wir ber Körperwelt, welche 
unmittelbar nur in unferer Vorftellung dafteht, die größte ung bes 
fannte Realität beilegen wollen; fo geben wir ihr die Realität, 





24 


pe ‚dann iſt jedes Individuum vollkommen verfchieden von 

— 
nennen.“ 

„Anbeffen Stißt Schopenfauer nicht baßei hen, eine gemalige 
Abftraction aufguftellen, welcher er den Namen Willen gäbe, — und 
welche in jo unbeftiimmter Weife nicht viel mehr fein würde als eine 
ne die Wirfungen des 

zu Seflimmen, umb dies if vielleicht der geniale 
— Er erinnert ſich der alten Platoniſchen Ideen 
und diefe entfprechen nicht nur feinem Zwede, fondern die Art und 


oft genug im Munde führen. Plato's Ideen, welche Einige umferer 
Metaphyſiler des legten Jahrhunderts «Univerfalia» nannten, — jene 
übernatürlihen Formen, an denen die in die Sinne fallenden Gegen- 
ftände Theil haben, obwol fie felbft nie in ihrer ganzen Reinheit 
dem fterblichen Auge fih offenbaren, jene ewigen Weſenheiten, welche 
nie untergehen obgleich die Individuen, durch welche fie unvollfommen 
offenbart werden, in ſchnellem Wechfel entftehen und vergehen, — 
jene «Joeen», welche fo viele Philofophen verwirrten, und verur⸗ 
ſachten, daß fo viel Papier mit fruchtloſem Hin» und Herftreiten 
angefüllt wurde, werden von Schopenhauer als die verſchiedenen 
Stufen der Manifeftationen des Willens ausgelegt. In jeder Wiſſen⸗ 
haft wird Etwas angenommen, um verſchiedene Erfheinungen daraus 
zu erklaͤren oder danach zu claffificiven, was aber feinerjeits nicht erklärt 
wird, ba man e8, infofern dieſe befondere Wiflenfchaft dabei in Betracht 
kommt, für. unerflärlich hält. So wird in der Medanif die Schwere 
fraft angenommen, aber nicht wirklich erflärt, und in der Gedichte 
iſt ein menfchlicher Wille, der fähig ift, durd Motive beftimmt zu 
werben, eine nothwendige Vorausfegung. In den verfchiedenen Er— 
ſcheinungen der Welt ftellen ſich gewiſſe weſentliche Gefege und 
Attribute dar, welde, da fie nothwendigerweiſe in der Form des 
Raumes erjcheinen, eine Individualität annehmen, die nicht zu ihrer 
eigenen, innerftien Natur gehört. Der einzelne Stein vergeht oder geht 
in einen andern Zuftand über, Undurchdringlichkeit aber und Schwere, 





26 


fcheint. «Du felbft bift dies», ift die moralifhe Marime des indifchen 
Lehrers, welcher auf die umgebenden Weltweſen hinweifend, dieſe Iden⸗ 
tität ausfpricht, — und bie alleinige Tugend ift Mitleid. Dies ift auch 
bie Lehre des Chriftenthums, wenn es feinen Belennern befiehlt, ihren 
Nächten wie fich felbft zu lieben; aber das Chriſtenthum ift um fo 
viel unvollfommner, als die Religion der Hindus, ald es in fein 
Gebot allgemeiner Liebe die thieriſche Schöpfung nicht mit einfchließt. 
Daher ift die Graufamfeit gegen Thiere, — ein Lafter, welches für 
Schopenhauer, ber oft die Beftrebungen ber englifchen «Prevention 
Society» lobt, ein Graͤuel if, — weit gewöhnlicher in chriftlichen 
Rändern als im Oſten.“ 

„In einer Abhandlung, welche er vor mehren Jahren als Be 
antwortung einer von ber Eöniglichen Gefellichaft in Kopenhagen 
geftellten Preisfrage fchrieb *), und welcher nicht der Preis zuertheilt 
wurde — (unfer Philofoph war nicht fo glüdlich in Dänemark wie 
in Rorwegen), entwidelt Schopenhauer viel Humor, indem er das 
von Kant aufgeftellte moralifche Ideal und den «Fategorifchen Im⸗ 
perativ» lächerlich madht. Es unterliegt Feinem Zweifel, daß der 
firenge Moralift aus der Kant'ſchen Schule (wenn er jemals etwas 
mehr war als ein ens rationis, gleich dem weiſen Manne der 
Stoifer) — welcher nie einem großmüthigen Impuls trauen, ſondern 
fih in abftracte PBrincipien des Handelns vertiefen würde, während 
Derjenige, der fein Mitleiven anfpricht, vor feinen Augen verhungert, 
— eine abfonderlich unliebenswürdige Berfönlichkeit gewefen fein muß, 
und daß Kant, indem er bie Herrfchaft der Vernunft zu erhöhen 
firebte, ein fehr wefentliches Element in der menſchlichen Ratur zu 
gering anfchlägt.” 

„Der fchlechte Menfch ift nach Schopenhauer Derjenige, in wel« 
chem der «Wille zu leben» fo die Oberhand gewinnt, daß er fich 
nicht im geringften um die Rechte feiner Nebenmanifeftationen kuͤm⸗ 
mert, und fie beraubt und ermordet, je nach dem fein eigener Vor⸗ 
theil dadurch begünftigt erfcheint. Der gerechte Menfch, welcher ges 
recht ift und Nichts weiter, fteht höher auf der moralifchen Stufen- 


*) Ueber die Grundlage der Moral. Diefelbe befindet ſich als zweite Abs 
handlung in der Schrift: „Die beiden Grundprobleme der Ethik“. 





28 

„Was für die eine Perfon ein Motiv ift, mag es vielleicht für 
eine andere nicht fein, denn die Charaktere find verfchieden; aber bei 
einem gegebenen Charakter und einem gegebenen Motiv ift das Re 
fultat unfehlbar. Der abfolute Wille, welcher außerhalb des Kreifes 
liegt, für den das Cauſalgeſetz Geltung hat, ift in individueller Ges 
flalt in die Welt der Erfcheinungen eingedrungen und muß die Folgen 
davon auf ſich nehmen, d. h. er ift jenem Geſetz von Urfache und 
Wirfung unterworfen, durch welches die ganze Welt der Erfcheinung 
regiert wird, und das bei der Entladung einer Piftole wie bei Aus- 
übung einer tugendhaften Handlung gleihe Geltung behält. Der 
«Charakter», die Idee des menfchlichen Individuums, wird, gerade 
wie die Schwerkraft eine der Ideen der Materie ift, mit ihm geboren 
und kann nicht geändert werden. Die Erfenntniß des Menfchen mag 
erweitert, und er infolge deſſen auf einen befiern Weg geleitet werben, 
wenn er einfieht, daß feine natürlichen Begierden größere Befriedigung 
erbalten, wenn er die Geſetze der Gefellichaft befolgt; als wenn er 
fih gegen biefelben empört; aber der Charakter bleibt derfelbe, wenn 
auch die Habfucht, die einen zum Spieler oder Räuber hätte machen 
können, ein wefentlihes Element bei einem ehrlichen Handelsmann 
werben fann. So bringt jeber Menfch feine eigene Verdorbenheit 
mit fi auf die Welt, und dies ift die große Lehre von der Erbfünde, 
wie fie von Auguſtinus dargeftellt, von Luther und Calvin erklärt 
und von Schopenhauer gut geheißen wird, der, wenn auch ein Frei⸗ 
denfer im ausdgebehnteften Sinne des Wortes, ganz entzüdt if über 
" Kichenväter und NReformatoren, wenn fie Zeugniß von ber Ber- 
derbtheit der menfchlichen Ratur ablegen. Die Welt der Erſcheinung 
ift eine Taͤuſchung — ein nedender Schein; und die Thatfache, in 
einer ſolchen Welt geboren zu fein, ift an fich felbft ein Lebe. So 
dachten die erften Apoftel des Chriſtenthums, — fo dachten die Ana⸗ 
horeten der Wüfte, — fo dachte Ealderon, als er «Das Leben, ein 
Traum» fchrieb, ein Stüd, das Schopenhauer mit befonderer Salbung 
anführt, — und, vor Allem, fo fagen die Lehrer Indiens. Wenn 
eine entgegengefegte Anficht in Europa feftgehalten wird, fo ift es nur 
das Refultat des Judaismus, deſſen Lehre von einer erften Urſache, 
nebft feinen Syftem von zeitlichen Belohnungen, d. h. feinem Opti⸗ 
mismus, Schopenhauer mit der Verachtung eines confequenten Kan⸗ 





30 


wir unfern Lefer unter Schopenhauer’8 Leitung an das Ufer des ab» 
foluten Richts gebracht haben, fchließen wir unjern Artikel. Mit 
Ausnahme der Anpreifung, welche dem Stile des Autors gilt, fol es 
nur ein befchreibender Artikel fein — Nichts mehr; und Diejenigen, 
welche aus unfern Bemerfungen den Schluß ziehen, daß wir einem 
folchen Syfteme des Ultrapeſſimismus beiftimmen, haben unfere Abficht 
völlig misverftanden. Dennod würde ed und ſehr wundern, wenn 
unfer furzer Abriß dieſes genialen, ercentrifchen, fühnen und, wir 
mögen hinzufügen, furchtbaren Schriftftellers, nicht Einige unferer Lefer 
veranlaßte, fich feine Werfe, in welchen jede Seite reih an neuen 
und überrafchenden Anfichten if, zu verfchaffen. Wir wünfchen nur, 
wir fönnten unter den Philoſophen des heutigen Deutichlands einen 
Schrififteller finden, der ihm an Tiefe und fehöpferifcher Kraft, an 
Klarheit und Gelehrſamkeit gleich kaͤme, und auf einer Seite ſtünde, 
die mehr unfern Gefühlen und Ueberzeugungen entſpraͤche, ald die 
diefes mifanthropifchen Weifen von Frankfurt.” 

So ſchreibt die «Westminster Review». Haben wir jedoch gleich 
Anfungs befonders auf die eigenthümlichen Gründe hingewieſen, welche 
zu diefer Mittheilung Beranlaffung gaben, fo fügen wir fchließlich 
noch einige Bemerkungen bei, welche der Artikel felbft notwendig 
macht. Derfelbe theilt nämlich), fo klar er auch gefchrieben ift, mit 
den fonft noch vorhandenen wenigen Darftellungen der Philofophie 
Scopenhauer’8 den zwiefachen Fehler, daß, da die Darftelung felbft 
nicht aus einem durchgreifenden Verſtaͤndniß hervorgeht, auch die 
Beurtheilung eine einfeitige wird. Weber ift die Einheit des Syſtems 
genügend hervorgehoben, noch ift namentlich der Ethik ihr Recht wider⸗ 
fahren. Wenn man jedoch bedenkt, daß der urfprüngliche Artifel, wie 
auch diefe Vieberfegung, viel weniger einen vollendeten Wbriß des ganzen 
Gebäudes, als die Bermittelung einer nähern Bekanntſchaft bezweden, 
jo ift es hierfür vieleicht gerade angemefjener, mehr eine anregende 
Erzählung, als eine echt ſyſtematiſche Entwidelung zu geben. Daß 
dabei Schopenhauer überdies öfters in einem, bei gewöhnlicher Bes 
trachtungsweiſe ungünftigen, Lichte erfcheint, wird Diejenigen, welche 
überhaupt ein Berftändniß für dieſe Mittheilung haben, nicht abhalten, 
durch eigene Unterfuhhung zu finden, daß feine Anficht weder zur Mi- 
fanthropie noch zum Nihilismus führt, während bei Denen, die entweder 





Eriter Brief. 


Veranlaſſung viefes Briefwechſels. — Ueberfiht über Schopenhauer's 
ſämmtliche Werke. — Gutzkow's Urtheil über Schopenhauer. 





Sie ſchreiben mir, verehrter Freund, daß Sie erſt durch mich auf die 
Schopenhauer'ſche Philoſophie aufmerkſam gemacht worden und bis⸗ 
her ſo gut wie Nichts von deren Exiſtenz und Beſchaffenheit ge⸗ 
wußt haben. Was ich in öffentlichen Blättern, namentlich in den 
Brodhaus’ihen Blättern für literariſche Unterhaltung, von ber 
Schopenhauerichen Philofophie gerühmt, daß fie nämlich die beveus 
tendfte unferd Jahrhunderts, ja die allein echte Erbin und Thron⸗ 
folgerin der Kant'ſchen Philoſophie fei; daß fie, wenn fie rechtzeitig 
wäre beachtet, ftudirt und in succum et sanguinem aufgenommen 
worden, jeden Hals einen beſſern und heilfamern Einfluß auf die 
Zeitgenofien geübt hätte, als die fi) breit machende Schelling’fche 
und Hegel’fche Afterweisheit, die nach Schopenhauer geiftverberbend 
und wifienfchaftvergiftend wirfe; endlich, daß der Schopenhauer’fchen 
Philofophie, wenn fie auch gegenwärtig noch nicht die gebührende 
Anerkennung finde, dennoch eine große Zukunft bevorftehe, — dieſes 
Alles und noch manches Andere, was ich von Schopenhauer ges 
rühmt, wie 3. B. daß ein Splitter von feinem Geiſte manchen 
geiftesarmen Mann reih machen Fönnte, daß er nicht blos das 
Genie vortrefflich befchreibe, fondern auch felbft ein Genie im wahren 
Sinne des Worts ſei, daß die Frifche feiner Philoſophie der Friſche 
der Natur gleiche, die in ihr fich abfpiegelt, u. f. w. — alles Diefes 
habe gar gewaltig Ihre Begierde gereizt, die intime Bekanntſchaft 





34 


ſterblichkeit, über Theismus, Pantheismus und Materialismus, über 
die Grenzen der menſchlichen Erkenntniß u. ſ. w. Da Sie nun, ſo 
viel ich mich erinnere, bei jenen Disputationen immer ſtreng darauf 
bedacht waren, den Dingen auf den Grund zu gehen und fie frei 
von allem Borurtheil, von allen überlieferten theologifchen ' oder 
philofophifchen Dogmen und Sagungen zu unterfudhen; fo barf ich 
für meine nachfolgenden Erörterungen von Ihnen diejenige Unbe- 
fangenheit erwarten, die gerade für das Studium der Schopen- 
hauer'ſchen Philofophie, mehr als für irgend eine andere, Grund- 
bedingung ift, und die ed mir folglich erleichtern wird, Sie in den 
tiefen Sinn derfelben einzuführen. Jedoch muß ich Sie fehr darum 
bitten, fich fämmtlihe Schriften Schopenhauer’s, wenn Sie diefelben 
noch nicht befiten, anzufchaffen, und das Studium derfelben, mo 
möglich, nicht bi8 zur Beendigung meiner Briefe aufzufchieben, fon- 
dern lieber gleichzeitig mit denfelben zu beginnen und fortzufegen, 
da ich der Kürze wegen häufig nöthig haben werde, auf biefelben zu 
verweifen. Zwar werde ich, fo viel ald möglich, mich Schopen- 
hauer’8 eigener Worte zur Darlegung feiner Lehre bevienen, — und 
glüdlicherweife ſchreibt Schopenhauer fo Far und mit einer (wie es 
einer feiner Verehrer, der geheime Juſtizrath Dorguth in Magde- 
burg, treffend bezeichnet hat) fo „ſtechenden“ Deutlichkeit, daß feine 
Sprache nicht, wie die Hegel’fche und die der meiften andern modernen 
Sculphilofophen, eines Dolmetfchers, der fie ind Deutfche überfebt, 
bedarf, um verftanden zu werden; ja, das Meifte, was Schopenhauer 
gefagt, läßt ſich gar nicht treffender ausdruͤcken, als mit feinen eigenen 
Worten; — aber da id} Ihnen immer nur die Grundgebanfen werbe 
mittheilen fönnen, jo wird es nöthig fein, daß Sie die nähere Aus—⸗ 
führung und Begründung derfelben in den von mir citirten Stellen 
vollſtaͤndig nachlefen. 

Die fämmtlihen Schriften Schopenhauer's find, ber chrono⸗ 
logiſchen Reihefolge ihres Erfcheinens nach, folgende: 

1. Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. 

Rudolſtadt 1813. 

2. Lieber das Sehen und die Farben. Leipzig 1816. 

(Bon diefer Abhandlung ift 1830 in „Radii script. ophthalm.“, 
min. IN, eine Tateinifche Bearbeitung vom Verfaſſer erfchienen.) 





36 

Reichen als Erfcheinung des Willens auf feinen verfchiedenen Ver- 
wirffihungsftufen. Die ethifche Betrachtung zeigt den Willen in feiner 
Bejahung, die das Prindp des Böfen und alles Uebels ift, und 
in feiner Berneinung, die das Princip der Tugend, der Heiligkeit, 
ja der Welterlöfung if. Dieſes Alles können Sie freilich erfi nad 
vollendetem Studium der Schopenhauer’fchen Werfe verftehen. Aber 
fchon aus diefen wenigen Zügen, aus diefem dürren Sfelet läßt ſich 
erfennen, wie einfah und doch großartig das Schopenhauer’fche 
Spftem ift, und daß es ein wirkliches Syftem iſt. Die vier philo- 
fophifchen Hauptdisciplinen : Erfenntnißtheorie, Raturphilofophie, 
Aefthetif und Ethik, treten in den vier Büchern in einem neuen und 
eigenthümlichen Zufammenhang auf. Noch babe ich zu bemerken, 
dag ein Anhang zur „Welt ald Wille und Vorſtellung“ die Kritif 
der Kant’fchen Philofophie enthält und die Stellung Schopenhauer’s 
zu Kant zeigt, den wol ſchwerlich Einer fo gründlich ſtudirt und fo 
richtig beurtheilt hat, al8 er. Die zweite Auflage der „Welt als 
Wille und Vorftelung” ift um einen ganzen diden Band vermehrt, 
der die Ergänzungen zu den vier Büchern des erften Bandes enthält 
und ein helles Licht auf das ganze Syſtem zurüdwirft. 

Die Schrift: „Vom Willen in der Natur”, enthält eine Er- 
örterung der Beftätigungen, welche die Philofophie des Verfaſſers 
feit ihren Auftreten durch die empirischen Wiſſenſchaften erhalten 
hat. Umfang und Inhalt diefer Schrift ftehen in umgefehrtem Ver⸗ 
hältniß. Je geringer ihr Umfang (neun Bogen), defto bedeutender 
und wichtiger ihr Inhalt. Wie das Auge im Fleinften Rahmen, fo 
faßt fie im engften Raume eine ganze Welt in fih. Ueberhaupt ift 
Keinem wie Schopenhauer gelungen, mit wenig Worten viel zu fagen. 
Auf mancher Seite feiner Schriften finden Sie mehr und fchwerere 
Gedanken, al8 in ganzen diden Bänden der modernen Schofaftifer oder 
Schulphilofophen. Schopenhauer hat aber eben auch Augen, um 
bie Welt in fich zu faſſen. Er fpinnt in feinen Schriften nicht einen 
eigenen, felbfterfundenen Gedanken auf eine langweilige und mar- 
ternde Weife aus, wie 3. B. Fichte, fondern er überfegt nur das in 
der Natur und im wirflichen Leben Gefchaute in Gedanken. Wäh- 
rend die Afterphilofophen die wirkliche Welt in die Zwangsjade ihrer 
jelbfterfonnenen Gedanken ſtecken, oder fie nach ihren fubjertiven Gedanfen 





38 


Anwejenheit in Frankfurt über diefelbe mündliche Mittheilungen machte 
und feine Intention fund gab, in ihr die Philofophieprofefforen einmal 
derb, wie fie e8 verdienten, güchtigen zu wollen, ihn darauf aufmerffam, 
daß in einer objectiv gehaltenen, ernften und ſtreng wifienfchaftlichen 
Unterfuchung, wie die Abhandlung über die vierfache Wurzel des 
Sapes vom zureidhenden Grunde, der Ort dazu nicht fel, fondern er 
befier thäte, was er gegen die Univerfitätöphilofophle und die Philos 
fophieprofefforen auf dem Herzen habe, in einer bejondern Schrift zu 
concentriren, wo es auch alsdann wirkffamer fein würde, Doch 
Schopenhauer ift nicht der Mann der Bedenklichkeiten, er folgt feinem 
innern Triebe, feinem Genius, feinem Dämonion, oder wie Sie e8 
nennen wollen, und gegen diefe Mahnungen feiner innern Stimme 
kommen alle äußern Rathfchläge zu Fur. Dennoch ſcheint mein 
Rath ihn zu der fpäter im erften Bande der Parerga und Parali- 
pomena erfihienenen ausgezeichneten Abhandlung „über die Univerfi- 
tät8philofophie” veranlaßt zu haben, in welcher zwar fo mancher Ka⸗ 
tbederheld auf eine ſchmerzliche Weife fein Spiegelbilb erbliden und 
fie daher zum Teufel wünfchen wird, die aber dafür das Gute hat, 
das Publicum endlih einmal über die Katheberphilofophie zu ents 
täufchen und ihm zu zeigen, daß es die Wahrheit nicht gerade da 
zu fuchen bat, wo man fie für Geld feil bietet, weil Die, Die von der 
Philofophie Ieben, höchft felten Solche find, die für diefelbe leben *). 

Die „Parerga und Paralipomena”, die ich fo eben erwähnt, bil 
den den Schluß der Schopenhauer’fchen Werfe. Es find. „Heine phi⸗ 
lofophifche Schriften”, die fich dem Inhalt nad) als Rachträge und 
Ergänzungen an die verfchievenen Punkte des Schopenhauer’fchen 
Syſtems anſchließen und noch ein letztes helles Licht auf daſſelbe 
zurüdwerfen, das dem Kenner ded Syſtems noch manche erwünfchte 
Aufklärung gewährt. Diefe „PBarerga und PBaralipomena” haben 
Kutzkew zu dem Heinen fchönen Artifel in den „IUnterhaltungen am 
häuslihen Herd” (1, Nr. 5) veranlagt, der die Weberfchrift „Ein 
Selbſtdenker“ trägt und in welchem er treffend fagt: „Eine neuere 
Philofophie verfpottete die Bezeichnung eines Selbftvenfers, Sie 





) Bergl. „Die Welt ale Wille und Borftellung“, I, 161—163. und „Pa⸗ 
verga und Paralipomena”, I, die Abhandlung über bie Univerfitätsphilofophie. 





Zweiter Brief. 


Allgemeines zur Charakteriſtik ver Schopenhauer'ſchen Philofophie: ihre 
Meltverahtung; ihre breite Grundlage; ihre Stellung zwifchen dem Kant’- 
fhen Nichtwiſſen und dem Schelling-Hegel'ſchen abfoluten Wiſſen; ihr 
Verhältnig zum Idealismus und Realismus; ihre Rückſichtsloſigkeit; ihre 
Paradorie; ihr Verhältnig zum Nationalismus und Illuminismus. 


Obwol ich, verehrter Freund, am Schluß meines vorigen Briefes 
das Urtheil Gutzkow's, jo weit ich es angeführt, unterſchreiben mußte, 
fo kann ich doch mit demjenigen Theile deſſelben nicht ganz überein- 
ſtimmen, der fih auf Schopenhauer’8 ethifhe Welt: und Lebens: 
anficht bezieht. Da wirft ihm Gutzkow nämlih vor: „Da er die 
Aufgabe des Menfchen, leben zu müflen, für eine große Dual hält, 
jo fehlt ihm auch durchgängig Liebe. Sein ftarrer Stoicismus wird 
dann Egoismus. Doc bricht das Gemüth aus der Eifesvede feiner 
Weltverachtungslehre dann und wann in anderer Geftalt hervor. Er 
fpricht mit Andächt von den Hindus und mit wahrer Zartlichleit von 
den Thieren.“ 

Aus meiner fpätern Darftellung der Schopenhauer'ſchen Ethik und 
ber Beleuchtung ihrer antifosmifchen Tendenz *) werden Sie ent⸗ 
nehmen, was an biefem Urtheil Gutzkow's Wahres if. Wahr ift 
es allerdings, daß Schopenhauer die Aufgabe des Menfchen, leben 
zu müflen, für eine Dual hält. „Wenn man”, fagt Schopen- 
bauer, „jo weit ed annäherungsweife möglich ift, die Summe von 


*) Bergl. ben fünfundzwanzigften und flebenundzwanzigften Brief, auch Die 
Hinweifungen auf die Ethik im zwanzigften und dreiundzwanzigſten Brief. 





42 


ähnlich wie die antifosmifche Tendenz des alten, echten Chriſtenthums 
der Urchriften aus eben Diefer Quelle entfprungen ift. Diefes werden Sie 
‚durch meine jpätern Briefe beftätigt finden. Nichts liegt der Scho- 
penhauer’ichen Philofophie ferner, ald der „Stoicis mus“. Vielmehr 
ift e8 gerade ein Verdienſt derfelben, den ethifchen Unterſchied zwifchen der 
ftoifchen Weltverachtung und der hriftlihen Weltüberwindung, 
welche erftere im Egoismus, lebtere in der Liebe ihre Quelle hat, 
hervorgehoben zu haben *). Schon der einzige Umftand, daß der 
Stoicidmus den Selbfimord empfiehlt, das Chriftenthum hingegen, 
und in Uebereinſtimmung mit bemfelben die Schopenhauer'ſche Ethik, 
den Selbſtmord verwirft, beweift den Unterſchied zwiſchen beiden. — 
Doch hier genug davon. 

Jetzt zur Charakteriſtik der theoretiſchen Eigenſchaften der 
Schopenhauer'ſchen Philoſophie: Einer der erſten und weſentlichſten 
Borzüge der Schopenhauer'ſchen Philoſophie iſt dieſer, daß, wie ihr 
Urheber felbft fagt, alle ihre Wahrheiten unabhängig voneinander, 
durch die Betrachtung der realen Welt gefunden find, die Einheit 
“und Zufammenftimmung derfelben aber, um die er unbeforgt gewefen 
war, ſich immer nachher von felbft eingefunden hat**). Schopen- 
hauer's Säge beruhen meiftens nicht auf Schlußfetten, fondern un⸗ 
mittelbar auf der anfchaulichen Welt felbft, und die in feinem Syfteme 
vorhandene Eonfequenz ift daher nicht eine auf blos logifhem Wege 
gewonnene, fondern vielmehr diejenige natürliche Uebereinftimmung 
der Säte, die aus der natürlichen Uebereinſtimmung der Realität 
mit fich felbft hervorgeht. Die Folge davon ift, daß Schopenhauer’s 
Philofophie einen breiten Boden hat, auf dem Alles unmittelbar feft 
und ficher fteht, während diejenigen Syfteme, die alle ihre Lehren 
eine aus der andern und zuleßt aus einem erften oberften Sap ab- 
leiten, „hoch aufgeführten Thürmen gleichen: bricht bier eine Stüße, 
fo flürzt Alles ein.” Eine fernere Folge davon iſt, daß die Schopens 
hauer’fche Philofophie inhaltreich, folglich nicht langweilig ift; wäh- 
rend die aus einem oberften Sap Zur dedurirenden Syfteme höchft 


*) Bergl. „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, Bd. 1,$. 16, u. Bd. 2, Cap. 16. 
»2) ‚Die Welt ale Wille und Borflellung“, II, 197. „Barerga und Barali- 
pomena I, 122, | 





44 


ſchen andererſeits, als ſie gleich weit entfernt iſt von der Kant'ſchen 
Verzweiflung an aller Erkenntniß des Weſens der Dinge, wie von 
ber Schelling'ſchen und Hegel'ſchen Prahlerei mit den abſoluten 
Wiſſen. Dieſe Mitte iſt jedenfalls die richtige, da ſie die beiden 
Extreme des Nichtwiſſens und der abſoluten Allwiſſerei vermeidet. 
Schelling und Hegel ſtehen alſo keineswegs über Schopenhauer, 
ſondern ſind nur mit ihrem Dogmatismus das ſchlechte Gegenſtück 
zum Kant'ſchen Kriticismus. Ich werde Ihnen ſpaͤter noch näher 
auseinanderſetzen, inwiefern Schopenhauer einerſeits das Ding an 
ſich für erkennbar Hält und doch andererſeits mit Kant demüthig 
genug iſt, die Schranken der menſchlichen Erkenntniß einzugeſtehen. 
Gegenwaͤrtig begnüge ich mich damit, Ihnen die Schopenhauer'ſche 
Philoſophie, wegen der angegebenen doppelten Eigenſchaft, als 
immanenten Dogmatismus zu bezeichnen, wie Schopenhauer 
ſelbſt ſie bezeichnet hatß). Der immanente Dogmatismus iſt 
naͤmlich wohl zu unterſcheiden von dem transcendenten. Die Lehr⸗ 
ſätze des erſtern find zwar dogmatiſch, gehen jedoch nicht über die 
in.der Erfahrung gegebene Welt hinaus; fondern erklären blos, 
was diefe fei, indem fie diefelbe in ihre Urelemente zerlegen; der 
transcendente Dogmatidmus hingegen, den die Kant'ſche Kritif umzu- 
ftoßen bemüht war, überfteigt alle Erfahrung, indem er die For⸗ 
men der menfchlichen Erkenntniß, alfo, was daſſelbe befagt, die For—⸗ 
men der Erſcheinung, Kant's Lehre zuwider, „als einen Springftod 
gebraucht, um die allein ihnen Bedeutung gebende Erfcheinung ſelbſt 
zu überfliegen und im grenzenlofen Gebiet leerer Fictionen zu landen.‘ 
(„Die Welt als Wille und Vorſtellung“ 1,307.) Der transcendente Dog- 
matismus geht über die Welt hinaus, fie zur Folge eines Grundes, auf 
den er. aus ihr fehließt, machend, während es doch allein, wie Schopen- 
bauer nachgewieſen, in der Welt und unter Vorausſetzung der- 
felben Gründe und Folgen gibt, ein Unterfchied, den Sie freilich erft 
'fpäter, wenn ih Ihnen Schopenhauer’8 Lehre über den Sap vom 
Grunde vorgetragen haben werde, ganz verftehen werben. 
Da die Schopenhauer’ihe Philofophie, als immanenter Dogmatis- 
mus, nicht mit innerweltlichen Exrfenntnißformen über die Welt hinaus: 


*) „„Barerga und Paralipomena‘‘, I, 121. 





46 


Tie Schopenhaner jche Philojephie har für Ten, ver ch zum 
erien mal mit ihr befannı macht, bejenterd, wenn kei cincm Sol- 
gegangen if, viel Paradores. Died gereidht ihr aber gerade zum 
Lobe und ik ein Zeichen ihrer Wahrbeit Temm es if leider im 
menichlichen Geſchlecht durch verjährte umd eingerefiche Berurtheile fo 
weit gefommen, day die einfache und nadıe Wahrheit parador 
erkheint. Das Parabore der Schopenhaner ſchen Philoſophie rührt 
lediglich daher, daß fie, feine andere Berplihtung ver Bhilofophie 
anerfennend, als die, wahr zu jein*), und den Tingen überall auf 
den rund zu fommen judyend, ihonungelod und wuerbittlid, ift 
gegen alle, wenn auch durch noch fo lange Hertſchaft geheiligte und 
liebgewordene Borurtheile. „Ohne alle Aufmunterung von Außen, 
fagt Schopenhauer, hat die Liebe zu meiner Sache ganz allein, meine 
vielen Tage hindurch, mein Streben aufrecht gehalten und mich nicht 
ermüden laflen: mit Beracdhtung bfidte ich dabei auf den lauten 
Ruhm des Echlechten. Denn beim Eintritt ind Leben hatte mein 
- Genius mir die Wahl geftellt, entweder die Wahrheit zu erfennen, 
aber mit ihr Niemanden zu gefallen; oder aber, mit den Andern das 
Falſche zu lehren, unter Anhang und Beifall: mir war fie nicht ſchwer 
geworden **%).” Unfchäpliche Irrthümer gibt es nach Schopenhauer 
nicht, noch weniger ehrwürdige, heilige und darum zu ſchonende 
Irrthümer. Es genügt ihm nicht, daß man der Wahrheit nachſpuͤrt, 
auch wo fein Nugen von ihr abzufehen, weil diefer mittelbar fein 
und bervortreten kann, wo man ihn nicht erwartet; fondern er vers 
langt auh noch, daß man „ebenfo fehr beftrebt fein fol, jeden 
Irrthum aufzudeden und auszurotten, auch wo fein Schaden von 
ihm abzufehen, weil audy diefer fehr mittelbar fein und einft bervor- 
treten fann, wo man ihn nicht erwartet ***).” 

Da es das wirkliche metaphyſiſche Bedürfniß war, was Scho- 
penhauern zur Philofophie getrieben (in „Die Welt als Wille und Bor: 
ftellung”, ®b.2, Cap. 17, befonders S.170—173 finden Sie eine tref- 


*) Dergl. „Die Welt als Wille und Borftellung‘‘, II, 189. 
**) „Barerga und Baralipomena‘, I, 126. 
**) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, I, 40. 





48 


Andern überragt ). “Sie dürfen ſich daher nicht daran floßen, daß 
Schopenhauer öfters in feinen Werfen die Vorzüge und Berbienfte 
feiner Philoſophie felbft rühmt. Alle großen Männer haben Bon 
jeber ſtolz von fidy geredet. Denn es ift unmöglich, daß ein großer 
Geift feine Ueberlegenheit über die Andern nicht merfe. Uebrigens 
befteht die wahre, echte Befcheivenheit einer Philoſophie darin, vie 
Grenzen der menſchlichen Erfenntniß einzufehen und einzugeftehen, 
“und diefe objective Befcheivenheit hat, wie id Ihnen fchon gefagt, 
die Schopenhauer'ſche Philofophie mit der Kant'ſchen gemein, wäh- 
rend die Schelling'ſche und Hegel’fche in diefem Punkte, wegen ihrer 
Großſprecherei mit dem abfoluten Wiffen, geradezu frech und unver- 
ihämt zu nennen find, weshalb Schopenhauer auch ihre Urheber 
als Sophiften, Marktfchreier und Charlatane bezeichnet. Wenn 
Schopenhauer von fi rühmt, „Daß die Behandlung defielben Gegen- 
ftandes von irgend einem frühern Philofophen, gegen die feinige 
gehalten, flady erfcheine, und die Menfchheit Daher Manches, was fie 
nie vergeflen wird, von ihm gelernt, und feine Schriften nicht unter- 
gehen werden” **); fo Fingt das allerdings nicht befcheiden, aber iſt 
doch immer noch, zumal da es ſich auf wirflihe Verdienſte ftügt, 
jehr gelinde gegen jene Prahlerei mit dem abjoluten Wiffen, die da 
bem PBublicum weißmachen will, der Philoſoph fei-eine Incarnation 
des abjoluten Geiftes und habe, von ihm bejeflen, die Geheimniffe 
der Welt ergründet. Schopenhauer rühmt fih Feiner intellectuellen 
Anfhauung, feiner fich ſelbſtdenkenden Gedanken, Feiner abjolut ver- 
nehmenden Vernunft u. dgl. „Meine Philofophie”,. jagt Schopen- 
bauer, „fatuirt nicht die von den Philofophieprofefioren fo Flug 
erfonnene und ihnen unentbehrlich gewordene Babel von einer un- 
mittelbar und abfolut erfennenden, anfchauenden, oder vernehmenden 
Vernunft, die man nur gleich Anfangs feinen Lefern aufjubinden 
braucht, um nachher in das von Kant unferer Erfenntniß gänzlich 
und anf immer abgefperrte Gebiet jenfeit der Möglichkeit aller Er- 
fahrung, auf die bequemfte Weife, gleichfan mit vier Pferden ein- 


*) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, II, 426. 
*) „Parerga und Paralipomena‘‘, I, 123. 





Bhileiepbie. Fu meinen mädhürn Bere werte ich Inen Schepen⸗ 

band Arten über bir Pileiſerie m AIgemeinen (über Des 
fäbizunz zur Riileisphir, über Huigate zur melle eder Auntamenı 
ver Ebileicehie, uber das Kriterium rer Zabıheir ciner Püilejephic, 

über ten Umerihied ter Ebtleterker ven ten antern Winenichaften, 

über Aubyanzerunfı uud Anjanz ter Püdlewebir, über vie wahre 

Mabere unr cartich über rie Eimibeilung ter Eiileterkir) mittheilen, 

webei ich mei Schopenhauer ĩelbũ teren Irben werte, zur ba, wo es die _ 
Abtärzun, oder Berbemiidhung erieren, mar cime Birine Abweichung 

von feinem Terte erlanfens. Die erwübnsen Runfıe schören zwar 

ale zur zür Einleitung im ter Bileteubir: aber ich kann Ihmen dieſe 

Einleirung, aid durchans wermüch sum Bernindeis ber Schepen- 

banerꝰ chen Plilsiophie geberig, nice erkzten, teen Sie auch noch 

to ijchr ror Ungeduſd breunen, gleich in ven Sutelpunli des Sypitems 

teibR eintringen u wellen. Festina iemte‘ gilt, Wenn irgendwo, 

auch in ver Phileisphie. 





52 


dern nur dieſes, daß fie mit dem Theismus der Theologen, fei 
er nun Monotheismus oder Tritheismus, nichts zu fchaffen babe 
und ihn nicht begründen Fönne. Denn, fagte ich, entweber, wie 
die Alten, ausgehend von dem Wechſel und der Vergänglichkeit, dem 
Entftehen und Vergeben der vielen einzelnen Erfcheinungen, fucht die 
Philofophie das eine, allgemeine, allem Veränverlichen zu Grunde 
liegende unveränderliche, unentflandene und unvergängliche Urweſen 
oder Uxrprincip, geleitet von dem Grundſatz: Aus Nichts wird 
Nichts (Ariſtot. Metaph. I. 3.): oder aber, wie die Neuern, aus⸗ 
gehend von dem vorſtellenden Subject, In. deſſen (durch das Gehirn 
bedingten) Erfenntnißvermögen nur zumächft die objertive Welt ſich 
darſtellt und abfpiegelt, fucht fie zum Borgeftellten, zur Erſcheinung, 
das Ding an fih, das von aller Vorftelung unabhängige Reale. 
In beiden Fällen aber, mag fie nun, wie die alte, vom Object, 
oder, wie die neuere, vom Subject ausgehen, führt die Philofophie, 
wenn anders fie confjequent bleibt, und nicht Firchliche Glaubens⸗ 
artifel, trabitionelle, von außen her überfommene Dogmen in Die 
Bhilofopheme einmifcht, nicht über die Welt hinaus zu einem von 
ihr toto coelo verfchiebenen Gott, der als ein perfönliches, intelli- 
gentes Weſen die Welt mit Abficht und freier Wahl aus dem Nichts 
ins Dafein gerufen; fondern fie bleibt bei der Welt, von der fie 
objectiv ober fubjertiv ausgegangen, ftehen, indem fie den Gegenfat 
zwifchen dem Ewigen, Unentſtandenen und dem Zeitlichen, Vergaͤng⸗ 
lichen, zwifchen ber Natura naturans und der Natura naturata, oder 
zwifchen dem Ding an fih und der Erfcheinung, innerhalb der 
Welt findet; fie weiß alfo nichts von einem jenfeitigen, außerwelt- 
lichen perfönlihen Gott; fie ift folglih (in dDiefem Sinne) athei- 
ſtiſch. Ja, die ganze Gefchichte der Philofophie ift in dieſem Sinne 
nur dad Widerfpiel der Theologie. 

Dadurch, daß die pantheiftifchen Syfteme das Weltwefen, fei es 
nun, daß fie e8 als unendliche Subftanz, ober als Weltfeele, oder 
als abfoluten Geift oder wie immer auffaßten, Gott betitelten, 
haben fie zwar den Schein des Atheismus vermieden, aber nicht 
in Wahrheit und Wirklichkeit den Vorwurf des Atheismus 
von ſich abgewaͤlzt. Denn atheiftifch ift und bleibt einmal jedes 
Syftem, welchem die Welt Gott ift, denn, wie ich ebenfalls fchon 





54 


seen Orundprincipien jogar in Wireriyund iche Umt mit blos 
Garcuns und Leibaig trifft dieſer Berwurf, jeutern übcıhaupt jede 
iheelsgiäitente Philoſephie Es Tann, wie ſchen Aımı bewieien, feine 
entichiedene und conjequente Phileſophie geben, bie, zen ter Weli an⸗ 
fangend, theoretiſch genöfhigt wäre, mit einem Bett su endigen. Den 
ihlageudfien Beweis hiefür liefert aber tie game Schepenhauerſche 
Philofophie mit ihrer umwiverleglichen Kriiit des Theisnns und 
Bantheiemns, (Bergl. den pwanzgfien und einunbpwanigiien Brief.) 
Iſt nun aber die Philoſophie nit Theologie, je bleibt nichts 
übrig, als daß fie Kosmologie, im allgemeinften Sinne des Wertes, 
de 5. Echte von ter Belt fei, und als foldye wird fie denn auch 
von Schopenhauer befiimmt. Rad, Schopenhauer if die Aufgabe 
ter Philojophie folgende: Die Philofophie iR weientlih Welt: 
weisheit, ihr Problem ift tie Löfung des Räthfels der Welt*). 
Tiefe muß aus dem Berfländnig der Welt ſelbſt hervorgehen. Die 
Aufgabe der Philofophie ift Daher nicht, die Erfahrung, in der bie 
Welt dafteht, zu überfliegen, jondern fie von Grund aus zu vers 
fichen, indem Erfahrung, äußere und innere, die Hauptquelle aller 
Erfenntniß if. Nur durch die gehörige und am rechten Punkt voll- 
zogene Anfnüpfung der äußern Erfahrung an die innere und dadurch 
zu Stande gebrachte Berbindung diejer zwei fo heterogenen Erfenntniß- 
quellen, ift die Löfung des Räthfels der Welt möglich; wiewol auch 
jo nur innerhalb gewifler Schranfen, die von unferer endlichen 
Ratur unzertrennlih find, mithin fo, daß wir zum richtigen Ber: 
ſtaͤndniß der Welt ſelbſt gelangen, ohne jedoch eine abgefchlofiene 
und alle fernen Probleme aufhebende Erklärung des Daſeins zu 
erreichen **). 

Jeder ift nad) Schopenhauer noch himmelweit von einer philofos 
phifchen Erkenntniß der Welt entfernt, der vermeint, das Wefen derfelben ' 
irgendwie, und ſei es noch fo fein bemäntelt, hiftorifch faflen zu Fönnen, 
welches aber der Hall iſt, ſobald in feiner Anficht des Weſens an fich der 
Welt irgend ein Werben, oder Geworbenfein, oder Werbenwerben 


*) „Die Belt ale Wille und Vorſtellung“, II, 190. 
") „Die Welt ale Wille und Borfellung”, I, 481. 





56 


Welt, vie Ideen derfelben, zum Gegenſtand hat. Von ſolcher Er⸗ 
kenntniß geht, wie die Kunſt, fo auch die Philoſophie aus *). 


Anmert. Zur Erläuterung der obigen Säge Schopenhauer’ diene 
Ihnen noch Folgendes: | 

Der Grundirrtfum des hiſtoriſchen, kosmogoniſchen Philofophireng, 
das die Welt ald durch irgend einen Proceß, fei es nun von oben her, 
oder von unten herauf entflanden, alfo als geworden betrachtet, ift 
diefer, daß es die Kategorie de8 Werdens ohne Weiteres auf die Welt 
im Ganzen anwendet, ohne vorher unterſucht zu haben, ob und in wie 
weit dieſelbe überhaupt auf die Welt anwendbar ſei. Jedes Werben 
ober Sichverändern iſt nur mittels der Zeit und Gaufalität denkbar. 
Zeit und Cauſalität find jedoch, wie Kant und Schopenhauer nachgewiefen, 
nur Kategorien der Erfheinung, nicht des Weſens an fi der Welt 
Man kann alfo nicht ohne Weiteres die Welt im Ganzen ald geworben 
Betrachten, fondern muß unterfcheiden zwiſchen dem Wefen an fih und 
ber Erfeheinung der Welt. Das Wefen an ſich der Welt iſt ungeworben, 
ift erhaben über alles Werden und alle Veränderung, denn es iſt frei 
von Zeit, Raum und Gaufalität. Dagegen iſt die Erfcheinung ein ſtets 
Werdendes, Werhfelnded und Vergängliches. Das Hiftorifche, kosmogoniſche 
Philofophiren trifft alſo eigentlih nur die erfiheinende Seite, nicht aber 
dad Wefen der Welt. 

Der allein richtige Ausdruck für das Geſetz der Gaufalität, fagt 
Schopenhauer, ift diefer: jede Veränderung bat ihre Urfadhe in 
einer andern, ihr vorhergängigen. Wenn Etwas geſchieht, d. h. 
ein neuer Zuſtand eintritt, d. h. Etwas fi verändert, fo muß glei 
vorher etwas Anderes fich verändert haben; vor Diefem wieder etwas 
. Anderes, und fo aufwärts ins Unendliche: denn eine erſte Urfache iſt fo 
unmöglih zu denken, wie ein Anfang ver Zeit, ober eine Grenze bed 
Raums. Mehr ald das Angegebene befagt das Geſetz ver Gaufalität 
nit: alfo treten feine Anfprüche erfi bei Veränderungen ein. Co 
lange fi nichts verändert, ift nach Feiner Urfache zu fragen. Nur 
auf Zuſtände bezieht fih die Veränderung und Gaufalität. Diefe Zu: 
ſtände find e8, welche man unter Form, im weitern Sinne, verfteht: 
und nur die Formen wechſeln. Daher eben betrifft die Frage nah der 
Urſache eines Dinges flets nur deffen Form, d. 5. Zuſtand, Beichaffen- 
beit, nicht aber deſſen Materie, und auch jene nur, fofern man Gründe 
hat anzunehmen, daß fie niht von jeher geweien, ſondern durch eine 


*) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, I, 306 fg. 





58 


objective Erkennen; wie für das bloße Individuum die Zwede des 
Willens allein Interefie Haben. — Dieſerhalb ift das Ergebniß jeder 
rein objertiven, alfo auch jeder Fünftleriihen Auffaffung der Dinge 
ein Ausdrud mehr vom Weſen des Lebens und Daſeins, eine Ant: 
wort mehr auf die Frage „was iſt das Leben?” — Dieſe Frage 
beantwortet jedes echte und gelungene Kunftwerf, auf feine Weiſe, 
völlig richtig. Allein die Künfte reden ſaͤmmtlich nur die naive und 
kindliche Sprache der Anfchauung, nicht die abftracte und ernfle der 
Reflerion: ihre Antwort ift daher ein flüchtiges Bild, nicht eine 
bleibende allgemeine Erkenntniß. Ihre Antwort, fo richtig fie auch 
fein mag, wird immer nur eine einftweilige, nicht eine gaͤnzliche und 
finale Befriedigung gewähren. Denn fie geben immer nur ein Frag- 
ment, ein Beifpiel ftatt der Regel, nit das Ganze, als welches nur 
in der Allgemeinheit des Begriffe Zegeben werden kann. Für diefen 
aber, alfo für die Reflerion und in abstracto, eine eben deshalb 
bleibende und für immer genügende Beantwortung jener Frage zu 
‚geben, — iſt die Aufgabe-der Philofophie *). 


*) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, II, 405 fg. — Bergl. „Parerga und 
Baralipomena”‘, Bb.2, $. 4: „Der Dichter iſt Dem zu vergleichen, ber bie Blumen, 
der Philoſoph Dem, ber die Quinteſſenz derfelben bringt.“ 





60 


als dem erftern Satze nachhaͤngen, find Philofophen. Die Richtung 
der Andern aber ift darauf zurüdguführen, daß fie überhaupt in den 
Dingen ſtets nur das Einzelne und Individuelle ſehen, nicht das 
Allgemeine derfelben. Blos die höher Begabten fehen, mehr und 
mehr, je nach dem Grad ihrer Eminenz, in den einzelnen Dingen 
das Allgemeine verfelben. Diefer wichtige Unterfchied durchdringt 
das ganze Erfenntnißvermögen dermaßen, daß er fi auf die An⸗ 
fhauung der alltäglichften Gegenftände herab erftredt; daher fchon 
diefe im eminenten Kopfe eine andere ift, als in dem gewöhnlichen. 
Diefes Auffaffen des Allgemeinen in dem ſich jedes mal darſtellenden 
Einzelnen ift Sache des reinen, willenslofen d. 5. unintereffirten Er- 
fennens, welches auch das fubjertive Correlat der PBlatonifchen Idee 
ift; weil nur, wenn auf das Allgemeine gerichtet, die Erfenntniß 
willenslos bleiben kann, in ven einzelnen Dingen hingegen bie 
Objecte des Wollens liegen; daher denn auch die Erfenniniß der 
Thiere ftreng auf Died Einzelne befchränft ift und demgemäß ihr In- 
tellect ausfchließlidy im Dienfte des Willens bleibt. Hingegen ift 
jene Richtung des Geiftes auf das Allgemeine die unumgängliche 
Bedingung zu echten Leiftungen in der Philofophie, Poefle, überhaupt 
in den Künften und Wiffenfchaften *). 

Zum Bhilofophiren find die zwei erften Erfoderniſſe diefe: erft- 
ich, daß man den Muth habe, keine Frage auf dem Herzen zu bes 
halten; und zweitens, daß man alled Das, was fi von felpft 
verfteht, fich zum deutlichen Bewußtfein bringe, um es ald Problem 
aufzufaffen. Endlich auch muß, um eigentlich zu philofophiren, der 
Geift wahrhaft müßig fein: er muß feine Zwede verfolgen und alſo 
nicht vom Willen gelockt werden, fondern fich ungetheilt ver Be⸗ 
lehrung hingeben, welche die anfchauliche Welt und das eigene Be- 
wußtfein ihm ertheilt **). 

- Weder unfere Kenntniffe, noch unfere Einfichten werben jemals 
durch Vergleichen und Discutiren des von Andern Gefagten fonderlich 
vermehrt werben: denn das iſt immer nur, wie wenn man Waſſer 
aus einem Gefäß in ein anderes gießt. Nur durch eigene Betrach⸗ 


*) „Barerga und Paralipomena”, Bd. 2, $. 2. 
**) „Barerga und Paralipomena”, Bd. 2, $. 3. 





Gebiet der Bhilofophie gewonnene Erkenntniß zu einem fidhern und 
nicht, durch fpäter aufgedeckten Misverſtand oder Zweideutigkeit, 
uns wieder zu entreißenden Eigenthum zu machen. Ueberhaupt wird 
der echte Philoſoph überall Helle und Deutlichkeit ſuchen, und ſtets 
befirebt fein, nicht einem trüben, reißenden Regenbach zu gleichen, 
fondern vielmehr einem ſchweizer See, der, durch feine Ruhe, bei 
großer Tiefe große Klarheit hat, welche eben erft die Tiefe fichtbar 
macht. Der unechte hingegen wird zwar Teineswegs, nad Talleys 
rand's Marime, durch die Worte feine Gedanken, wol aber feinen 
Mangel daran zu verbergen fuchen*). 

Aus dem Angeführten, werben Sie, verehrter Freund, erkennen, 
daß gar nichts Geringes dazu gehört, ein Philofoph zu fein, und 
werben fi daher nicht mehr darüber wundern, daß es in allen 
Jahrhunderten fo wenig echte Philofophen gegeben hat, dag man fie 
zählen fann. Es gehören nit nur große intellectuelle Gaben, 
fondern auch ein moralifher Charakter — wenn anders der 
Muth der rüdfichtölofen Wahrheit in einer der Luͤge ergebenen Welt 
moralifch zu nennen iſt, — dazu, ein wahrer Pbilofoph zu fein. 
„Sehe ih”, fagt Schopenhauer, „auf die in dem halben Jahrhundert, 
weldyes feit Kant's Wirkſamkeit verftrichen ift, auftretenden, angeb- 
lichen Philofophen zurüd, ſo⸗erblicke ich Leider Keinen, dem ich nach⸗ 
rühmen fönnte, fein wahrer und ganzer Ernft fei die Erforfchung 
der Wahrheit gewejen: vielmehr finde ich fie Alle, wenn auch nicht 
immer mit deutlichem Bewußtfein, auf den bloßen Schein der Sadhe, 
auf Effectmachen, Imponiren, ja Myftifictren bedacht und eifrig be- 
müht, den Beifall der Vorgefebten und nächſtdem der Studenten zu 
erlangen; wobei der letzte Zwed immer bleibt, den Ertrag der Sache, 
mit Weib und Kind, behaglich zu verfhmaufen. So iſt es aber auch 
eigentlih der menſchlichen Natur gemäß, welche, wie jede thierifche 
Natur, als unmittelbare Zwede nur Eſſen, Trinfen und Pflege der 
Brut Fennt, dazu aber, als ihre Apanage, auch noch die Sucht zu 
glänzen und zu fcheinen erhalten hat. Hingegen ift zu wirklichen 
und echten Leiftungen in der Philofophie, wie in der Poeſte und den 
Ihönen Künften, die erfte Bedingung ein ganz abnormer Hang, ber, 


*) „Meber bie vierfache Wurzel des Sapes vom zureichenden Grunde‘, 6-3. 


63 


gegen die Regel der menſchlichen Natur, an die Stelle des fubjectiven 
Strebend nach dem Wohl der eigenen Berfon, ein völlig objectiveg, 
auf eine der Perſon fremde Leiftung gerichtetes Streben ſetzt und 
eben dieferhalb fehr treffend ercentrifchy genannt, mitunter wol auch 
als Donquirotiſch verfpottet wird. Eine ſolche Geiftesrichtung iſt 
allerdings eine hoͤchſt feltene Anomalie, deren Früchte jedoch, eben 
deswegen, im Laufe der Zeit, der ganzen Menfchheit zu Gute kommen, 
da fie glüdlicherweife von der Gattung ift, die fih aufbewahren läßt. 
Näher: man kann die Denker eintheilen in ſolche, die für fich feldft, 
und folde, die für Andere denken: Diefe find die Regel, Jene die 
Ausnahme. Erftere find demnach Selbftvenfer im zwiefachen, und 
Egoiften im ebelften Sinne des Worts: fie allein find ed, von denen 
die Welt Belehrung empfängt. Denn nur das Licht, welches Einer 
fih felber angezündet hat, leuchtet nachmald auch Andern ).“ 


*) Abhandlung über die Univerfitätsphilofophie im erflen Band ber „Pa⸗ 
terga und Paralipomena“, S. 142 fg. 


Fünfter Brief, 


Schopenhauer’8 Anflhten über Quelle over Fundament, und über 
das Kriterium der Wahrheit der Philoſophie. 


Mesereinftimmend mit den Ihnen im dritten Briefe dargelegten An- 
ſichten Schopenhauer’8 über die Aufgabe der Philofophie lauten feine 
Anfichten über die Duelle oder das Fundament der Philo- 
fophie. Allgemeine Begriffe folen nach ihm zwar der Stoff fein, 
in welchen die Philofophie ihre Erfenntniß abjept und nieverlegt; 
jedoch nidyt die Duelle, aus der fie foldye fchöpft: der terminus ad 
quem, nidyt a quo. Sie ift nicht, wie Kant fie Definirt, eine Wiffen- 
ſchaft aus Begriffen, fondern in Begriffen *). 

Alle abftracte Erkenntniß, wie fie aus der anfchaulichen ent 
fprungen ift, hat auch allen Werth allein durch ihre Beziehung auf 
diefe, alfo dadurch, daß ihre Begriffe, oder deren Theilvorftellungen, 
dur Anfchauungen zu realifiren, d. b. zu belegen find. Begriffe 
und Abftractionen, die nicht zuletzt auf Anfchauungen binleiten, 
gleichen Wegen im Walde, die ohne Ausgang endigen. Der gegebene 
Stoff jeder Bhilofophie ift demnach Fein anderer, ald das empi- 
rifhe Bewußtſein, weldes in das Bewußtfein des eigenen Selbft 
(Selbftbewußtjein) und in das Bewußtfein anderer Dinge (aͤußere 
Anfhauung) zerfällt. Denn dies allein ift das Unmittelbare, das 
wirklich Gegebene. Jede Philofophie, die, ſtatt hiervon auszugehen, 
beliebig gewählte abftracte Begriffe, wie 3. B. Abfolutum, abjolute 


*) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, II, 44. 





voces fidelissime reddit, et veluti dietante mundo conscripta est, 
et nihil aliud est, quam ejusdem simulacrum & reflectio, 
neque addit quidquam de proprio, sed tantum iterat et resonat. 
(De augm. scient. L. 2. c. 43.) *) 

Gemäß dieſer Anfiht über die Erfahrung, als die alleinige 
Duelle over das Zundament der Bhilofophie, betrachtet Schopenhauer 
natürlich auch die Lebereinftimmung mit der (äußern und innern) 
Erfahrung als das einzige Kriterium der Wahrheit einer 
Philoſophie. Da, fagt er, die Entzifferung der Welt in Beziehung 
auf das in ihr Erfcheinende, alfo das richtige univerfelle Berftänpniß 
der Erfahrung, die wahre Auslegung ihres Sinnes und Gehalts, 
die Aufgabe der Philofophie if, fo muß eine ſolche Entzifferung ihre 
Bewährung aus fi felbft erhalten, durch die Uebereinſtimmung, in 
welche fie die fo verfchiedenartigen Erfcheinungen der Welt zu einander 
feßt, und welche man ohne fie nicht wahrnimmt. — Wenn man 
eine Schrift findet, deren Alphabet unbefannt if, fo verfucht man 
die Auslegung fo lange, bi8 man auf eine Annahme der Bedeutung 
der Buchftaben geräth, unter welcher fie verſtaͤndliche Worte und zu- 
fammenhängende Perioden bildet. Dann aber bleibt fein Zweifel 
an der Richtigkeit der Entzifferung; weil es nicht möglih if, daß 
die Uebereinſtimmung und der Zufammenhang, in welchen biefe Aus- 
-fegung alle Zeichen jener Schrift fest, blos zufällig wäre, und man, 
bei einem ganz andern Werthe der Buchftaben, ebenfalls Worte und 
Perioden in dieſer Zufammenftellung derfelben erkennen könnte. Auf 
ähnliche Art muß die Entzifferung der Welt ſich aus fich ſelbſt vollfommen 
bewähren. Sie muß ein gleichmäßiges Licht über alle Erfcheinungen 
der Welt verbreiten und aud die heterogenften in Webereinftiimmung 
bringen, ſodaß auch zwifchen den contraftirendflen der Widerfpruch 
gelöft wird. Diefe Bewährung aus fi felbft ift das Kennzeichen 
ihrer Echtheit. Denn jede falfche Entzifferung wird, wenn fie auch 
zu einigen Ericheinungen paßt, den übrigen deſto greller widerſprechen. 
Das gefundene Wort eines Räthfels erweift ſich als das rechte da⸗ 
durch, daß alle Ausfagen defielben zu ihm pafien **). 


*) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, I, 94. 
**) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, II, 186 fg. 





68 


rechten Ende angreife. Das zu erflärende Phänomen ber Welt 
bietet nun aber unzählige Enden bar, von denen nur Eines das 
rechte fein kann: es gleicht einem verfchlungenen Kadengewirr mit 
vielen daran hängenden, faljchen Eubfäden: nur wer den wirklichen 
bherausfindet, Tann das Ganze entwirren. Dann aber entwidelt ſich 
leicht Cined aus dem Andern, und daran wird kenntlich, daß ed das 
rechte Ende geweſen fei. Auch einem Labyrinth kann man es ver 
gleichen, welches hundert Eingänge darbietet, die in Eorridore öffnen, 
welche alle, nad langen und vielfach verfchlungenen Windungen, 
am Ende wieder Yinausführen; mit Ausnahme eines einzigen, deſſen 
Windungen wirflidy zum Mittelpunfte leiten, woſelbſt das Idol fteht. 
Hat man diefen Eingang getroffen, jo wird man den Weg nicht 
verfehlen: durch feinen andern aber wird man je zum Ziele ge- 
langen *). 

Anmerk. Schopenhauer verhehlt nit feine Meinung, „daß nur 

(br, au Wille in und das regte Ende bed. Kuadengewirred, der wahre Ein- 

ang des Ladyrinthes, ſei,“ und da fein Syſtem buch dieſen Eingang 
eingedrungen, fo rühmt er von bemfelben, daß es Uebereinſtimmung und 
Zufammenhang in dem contraflivenden Gewirre der Erſcheinungen dieſer 
Welt erblicken laffe und die unzähligen Widerſprüche Idfe, melde vafjelbe, 
von jedem andern Standpunkte aus gefehen, varbiete: „es gleiht daher 
infofern einem Rechenerempel, welches aufgeht **).” 

Ob und inwieweit dieſes Selbfllob wahr fei, darüber werben Sie 
fid, verehrter Freund, erft nach vollendetem Stublum ver Schopenbauer’fchen 
Philoſophie ein Lirtheil bilden Eönnen, und es wird mir alsdann lieb fein, 
Ihre Meinung darüber zu vernehmen, fo wie ih alsdann auch mit der 
meinigen nicht zurüdhalten werde. Seht wären Erörterungen über viefen 
Punkt, da das Object, worauf fie ſich beziehen, Ihnen nod nicht feiner 
innerften Natur nad) bekannt ift, jevenfall® zu früh und fländen am 
unrechten Orte. Marten wir daher mit dem Gericht über die Schopen- 
bauer’fhe Philofopbie bis zum Schluß unferer Correſpondenz. 


*) „Parerga und Baraliponena”, Bb. 1, 8. 12. 
"*) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, II, 187. 





70 





‘ 


und zur Grenze fegen, iſt gerade das eigentliche Problem der Philofophie, 
bie folglich infofern da anfängt, wo die Wiffenfhaften aufhören *). 


Anmerk. Die fpeciellen Wiſſenſchaften haben nah Schopenhauer 
eigentlih immer nur das Berhältniß der Erfeinungen ber Welt zu 
einander, gemäß dem Sag vom Grunde und dem durch ihn allein gel: 
tenden und beveutenden Warum, zum Inhalt. Die Nahweifung jenes 
Berhältniffes heißt Erklärung. Diefe Tann alfo nie weiter geben, als 
daß fie die Verknüpfung einer gewiffen Claſſe von Erſcheinungen nad ver 
jevesmaligen Art des Gaufalverhältniffes, die gerade in viefer Glaffe von 
Erſcheinungen herrſcht, aufzeigt"). IF fle dahin gelangt, fo kann gar 
nit weiter Warum gefragt werben. Hat die Mathematik z. B. das 
Berhältniß der Winkel im Dreieck zu deſſen Seiten beflimmt und ge- 
funden, welcher Zuſammenhang zwifhen ver Länge der Seiten und der 
Größe der Winkel flattfindet, fo iſt die Erklärung zu Ende und es 
fann nicht weiter nah dem Warum dieſes Berhältniffes zwiſchen Winkel, 
und Seiten gefragt werben. Iebe naturwiffenfhaftlide Erklärung ftößt 
ebenfalls zulegt auf ein völlig Dunkles, Unerklärliches, auf eine urfprüng- 
lihe Naturfraft. Bei einer folden muß fie zulegt flehen bleiben, fie muß 
baber das innere Wefen eines Steins ebenfo unerklärt laſſen, wie das 
eined Menſchen; kann fo wenig von der Schwere, Gohäfton, chemiſchen 
Gigenfhaften u. f. w., die jener äußert, als vom Erkennen und Han—⸗ 
deln Dieſes Mechenfchaft geben. Zwei Dinge nämlich find ſchlechthin un⸗ 
erflärlih und Bilden die Vorausfegung jeder Erklärung: erfllih der Sa 
vom Grunde jelbft, in allen feinen vier Geftalten, weil er dad Princiy 
aller Erklärung ift, Dasjenige, in Beziehung worauf fie allein Bedeutung 
bat; und zweitend Das, was nicht von ihm erreicht wird, was aber 
eben das Urfprünglihe in allen Erſcheinungen bilvet: es ift das Ding 
gun iS, deffen Erkenntniß gar nit dem Sag vom Grund unterworfen 
if. Uber gerade da, wo die Naturwiffenfchaft, ja jede Wiſſenſchaft, vie 
Dinge ftehen läßt, indem nit nur ihre Erklärung berfelben, ſondern 
fogar das Princip diefer Erklärung, der Sag vom Grund, nidt über 
biefen Punkt Hinausführt, da nimmt eigentlich die Philofophie die Dinge 
wieder auf und betrachtet fie nach ihrer, von jener ganz verſchiedenen 
MWeife***). 


*) „Die Welt als Wille und Borftellung”, I, 93. 
**) Bergl. in „Ueber bie vierfache Wurzel des Sabes von zureichenden 
Grunde“, 6. 51. 
+) ‚Die Welt als Wille und Borflellung”, I, O1 fg. 





72 


St.sHilaire, Euvier u. A. um dieſelbe Wiſſenſchaft, fofern fie Alle 
die durchgängige Analogie, die innere Berwandtfhaft, den bleibenden Ty⸗ 
pus und den gefeßmäßigen Zufammenbang ber thierifhen Geftalten ber- 
vorgehoben haben. 

Treffend bemerkt ſodann Schopenhauer über die ihre Wiffenfchaft 
ohne philoſophiſchen Geift betreibenden Empiriker: Empiriſche Wiſſen⸗ 
ſchaften, rein ihrer ſelbft wegen und ohne philoſophiſche Tendenz betrieben, 
find eine paſſende Beſchäftigung für gute Capacitäten, denen jedoch vie 
höchſten Fähigkeiten abgehen, welche auch eben den minutidfen Forſchungen 
folher Art Hinderlih fein würden. Sole concentriren ihre ganze Kraft 
und ihr gefammtes Wiffen auf ein einziged abgeſtecktes Feld, in welchem 
fie daher vie möglihft vollftändige Erfenntniß erlangen koͤnnen; währen 
der Philoſoph alle Felder überfehen, ja in gewiffem Grabe darauf zu 
Haufe fein muß; wobei die Vollfommenheit, die man nur dur das 
Detail erlangt, nothwendig ausgeſchloſſen bleibt. Dafür aber find Jene 
den genfer Arbeitern zu vergleichen, deren Einer lauter Räder, ver Andere 
lauter Federn, der Dritte lauter Ketten macht; der Philoſoph bingegen 
dem lihrmader, der aus dem Allen erft ein Ganzes bervorbringt, welches 
Bewegung und Bereutung bat. Auch kann man fie ven Muficis im 
Orcheſter vergleichen, Jever von welchen Meifter auf feinem Inftrument ift, 
den Philofophen hingegen dem Kapellmeifter, ver die Natur und Be 
handlungsweiſe jedes Inftruments Eennen muß, ohne jedoch fie alle, oder 
auch nur eines in größter Vollkommenheit, zu fpielen”). 


Das Angeführte wird genügen, Sie davon zu überzeugen, daß 
bie Philoſophie, obwol fie mit den empirifhen Wiſſenſchaften Diejes 
gemein bat, daß fie, wie biefe, ihre Begriffe aus der Erfahrung 
fhöpft, dennoch fich wiederum wefentlid) von ihnen unterfcheibet, 
indem fie nicht eine beſtimmte, befondere Erfahrung, fondern die 
Erfahrung im Ganzen, überhaupt und als foldye, alfo ihrer Mög- 
lichkeit, ihrem Gebiete, ihrem wefentlichen Inhalte, ihren innern 
und äußern Elementen, ihrer Form und Materie nach, zum Gegen- 
ftande hat. 

In meinem nächften Briefe werde ich Ihnen Schopenhauer’s 
Anfihten über Ausgangspunkt und Anfang der Philofophie ent: 
wideln. Diefer Punkt ift ebenfo wichtig, wie Die Trage nach der 
wahren Methode. Ueberhaupt kommt es ja in allen Dingen darauf 


*) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, II, 128 fg. 


73 


an, den rechten Anfang zu machen und dann auf dem richtigen 
Wege methodiſch fortzufahren. Verkehrt angefangen, oder auch, nad) 
richtigen Anfang, falfch fortgeſetzt, kann Fein Werf gelingen. Car⸗ 
tefius 3. B. bat ganz richtig angefangen, aber falfch fortgefeßt. 
Anfangs ganz befonnen und Eritifch an der Realität der Außenwelt 
zweifelnd und nur die Selbfigewißheit des worftellenden Subjects von 
fi) (das cogito ergo sum) übriglafjend, fährt er damit fort, die Res 
alität der Außenwelt ganz gläubig auf den Credit Gottes anzu⸗ 
nehmen, der und doch wol nicht betrügen werbe, „wobei es ſich frei- 
lich wunderlich ausnimmt, daß, während die andern theiftifchen Phi⸗ 
lofophen aus der Eriftenz der Welt die Eriftenz Gottes zu erweifen 
bemüht find, Eartefius umgefehrt erfi aus der Exiſtenz und Wahr: 
baftigfeit Gottes die Eriftenz der Welt beweiſt ).“ Alſo nächftene 
über den wahren Ausgangspunft und Anfang der Philofophie. 


*) „Barerga und Paralipomena‘, I, 4 fg. 


Siebenter Brief. 


Schopenhauer's Anfichten über den Ausgangspunkt und Anfang der Philv: 
fophie. — Einfeitigkeiten des idealiſtiſchen und realiftifhen Ausgangspunktes. 





Scqhopenhauer's Anfichten über den Ausgangspunft und An- 
fang der Philofophie find folgende: Der philofophifche Schrift: 
fteller ift der Zührer und fein Lefer der Wanderer. Sollen fie zu⸗ 
fammen anfommen, fo müflen fie, vor allen Dingen, zufammen aus- 
gehen: d. h. der Autor muß feinen 2efer aufnehmen auf einem 
Standpunkt, den fie ficherlich gemein haben: dies aber Tann Fein 
anderer fein, ald der des und Allen gemeinfamen, empirifchen Bes 
wußtjeing. Hier alfo fafle er ihn feft an der Hand und fehe nun, 
wie hoch über die Wolfen hinaus er, auf dem Bergespfade, Schritt 
vor Schritt, mit ihm gelangen könne. So hat e8 auch noch Kant 
gemacht. Er. geht vom ganz gemeinen Bewußtfein, fowol des eigenen 
Selbft, al8 auch der andern Dinge, aus. Wie verkehrt ift e8 hin⸗ 
gegen, den Ausgang nehmen zu wollen vom Standpunkte einer an⸗ 
geblihen intellectualen Anfchauung hyperphyſiſcher Verhältniffe, oder 
gar Vorgänge, oder auch einer das Weberfinnliche vernehmenden 
Vernunft, oder einer abfoluten, fich felbft denfenden Vernunft: denn 
das Alles heißt vom Standpunft nicht unmittelbar mittheilbarer Er- 
fenntniffe ausgehen, wo daher, ſchon beim Ausgange felbft, der Lejer 
nie weiß, ob er bei feinem Autor ftehe, oder meilenweit von ihm *). 


*) „Parerga und Paralipomena”, Bd. 2, $. 5. 





— — — — —2—. 


lin). gran EN 5} ..- . r F 
4 


76 
N 

fi felber mehr am Herzen liegt, als alle Andere zufammenge- 
nommen; — was baher kommt, daß es allein ſich feldft ı unmittelbar, 
alles Andere aber nur mittelbar erfennt. Wenn man nun nun nodh 
hinzunimmt, daß bewußte und erlennende Weſen fchlechterbings 
nur als Individuen denkbar find, die Bewußtlofen aber mur ein 
halbes, ein blos mittelbares Dafein haben, fo fällt alle eigentliche 
und wahre Eriftenz in die Individuen. Wenn man endlid gar noch 
fi darauf befinnt, daß das Object durch das Subject bedingt ift, 
folglich) jene unermeßlihe Außenwelt ihr Dafein nur im Bewußt- 
fein erfennenver Weſen bat, folgli an das Dafein der Individuen, 
die defien Träger find, gebunden iſt; — wenn man dies Alles ins 
Auge faßt, jo geht man zu der Anficht über, daß nur die nad) 
innen gerichtete, vom Subject, ald dem unmittelbar Gegebenen, 
ausgehende Philofophie, alfo die der Neuern feit_Gartefius, auf 
dem richtigen Wege fei, mithin die Alten die Hauptfache über: 
fehen haben *). 

Doh Schopenhauer geht vom Subject keineswegs im Sinne 
des Fichte'fchen Idealismus aus, um aus ihm die ganze objective 
Welt, aus dem Ich das Nichtih, zu debuciren. Bielmehr erflärt 
er ſich aufs entfchiedenfte ebenfo gegen diefed Ausgehen vom Sub- 
jeet, um daraus alles Object abzuleiten, wie gegen das umgefehrte 
Ausgehen vom Object, um daraus das Subject zu erflären, und 
widerlegt ausführlidy den aus jenem entjpringenden Idealismus, wie 
den aus biefem hervorgehenden Materialismus **), 

Schopenhauer fodert, daß das im Ausgangspunft des Philo- 
fophirens einftweilen als gegeben Genommene, (fei es nun ein 
Subjectives, oder ein Dbjectives) nachmals wieder compenfirt 
und gerechtfertigt werde. Um. die begangene Borausfegung zu recti⸗ 
fieiren, „muß man nachher den Standpunft nft wecjeln und auf den 
entgegengefeßten treten, von welchem aus man nun bas Anfangs 
als gegeben Genommene in einem ergänzenden Philofophem wieder 
ableitet: sic res accendunt lumina rebus. Geht man 3. B. vom 


*) „Parerga und Paralipomena“ Bp.2, $. 20. 
**) „Die Welt ale Wille und Borftelung” Bo. 1, $. 7. 





. 78 


von einem Geſichtspunkt aus darſtellt. Erhebt man fi aber 
über den Standpunkt eined folden Syſtems hinaus, fo erfennt 
man die Relativität feiner Wahrheit, d. 5. feine Einfeitigfeit. Nur 
ber höchfte, Alles überfehende und in Rechnung bringende Stand» 
punft kann abfolute Wahrheit liefern ).“ 


*) „Parerga und Paralipomena‘, Bd. 2, $. 19. 





80 


ift auch Schopenhauer's Methobologie nur ein Abzug der von ihm 
felöft befolgten Methode. Cie iſt folgende: 

Plato der göttliche und der erflaunlihde Kant, fagt Echopen- 
bauer, vereinigen ihre nachdrucksvollen Stimmen in ber Anem- 
pfehlung einer Regel zur Methode alles Philofophirens, ja alles 
Wiſſens überhaupt. Man foll, fagen fie, zweien Geſetzen, dem ver 
Homogeneität und dem der Spercification, auf gleiche Weile, 
nicht aber dem einen zum Nachtheil des andern, Genüge leiften. Das 
Geſetz der Homogeneität heißt uns, durch Aufmerfen auf die Achn- 
lichfeiten und Uebereinſtimmungen der Dinge, Arten erfafien, dieſe 
ebenfo zu Gattungen und diefe zu Gefchlechtern vereinigen, bis wir 
zulegt zum oberften, Alles umfaflenden Begriff gelangen. Da vieles 
Gefes ein unferer Vernunft wefentliches ift, feßt e8 Uebereinſtimmung 
der Natur mit fih voraus, welche Borausfegung ausgebrüdt ift in 
der alten Regel: entia praeter necessitatem non esse multiplicanda. 
— Das Gefeg der Specification drüdt Kant Dagegen fo aus: 
entium varietates non femere esse minuendas. &8& heifcht nämlich, 
daß wir die unter einem vielumfaffenden Gefchlechtöbegriff vereinigten 
Gattungen und wiederum die unter diefen begriffenen, höhern und 
nievern Arten wohl unterfcheiden, uns bütend, irgend einen Sprung 
zu machen und wol gar die niedern Arten, oder vollends Individuen, 
unmittelbar unter den efchlechtsbegriff zu fubfumiren; indem jeder 
Begriff noch einer Eintheilung in niedrigere fähig ift und fogar Feiner 
auf die bloße Anfchauung herabgeht. Kant lehrt, daß beide Gelege 
transcendentale, Webereinflimmung der Dinge mit ſich a priori poftu- 
lirende Orundfäße der Vernunft feien, und Plato ſcheint Daffelbe auf 
feine Weife auszudrücken, indem er fagt, diefe Regeln, denen alle 
Wiffenfhaft ihre Entftehung verdanfe, feien zugleich mit dem Feuer 
des Prometheus vom Götterfige zu uns herabgeworfen *). 

Die Vollkommenheit einer Wiffenfchaft als folcher, d. 5. ber 
Form nad, befteht nach Schopenhauer darin, daß fo viel wie mög» 
lich Subordination und wenig Eoorbination ber Säge fei, Damit, 
. wie Plato wiederhofentlich anempfiehlt, nicht blos ein Allgemeines 
und unmittelbar unter biefem eine unüberfehbare Mannichfaltigfeit 


*) „Weber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde”, $. 1. 





82 


folhe Grundfeften der Wiſſenſchaft aus der unüberfehbaren Menge 
realer Dinge berauszuheben: Das ift das Werk der Urtheilskraft, 
welche in dem Vermögen, das anſchaulich Erfannte tichlig und genau 
ins abftracte Bewußtfein zu übertragen, befteht, und demnach die 
Bermittlerin zwifchen Vexſtand (dem Vermögen. der Anfhauung) und 
Vernunft (dem Denke oder Begriffsyermögen) if. Säte aus Eägen 
zu folgern, zu beweifen, zu fchließen, vermag ever, der nur gefunde 
Vernunft hat. Hingegen das anſchaulich Erfannte in angemeffene 
Begriffe für die Neflerion abſetzen und fixiren, fobaß einerfeits das 
Gemeinfame vieler realen Objecte dur einen Begriff, anvererfeits 
ihr Verſchiedenes durch ebenfo viele Begriffe gedacht wird, und alfo 
das Verſchiedene, troß einer theilweifen Uebereinftimmung, doch ale 
verfchieden, dann aber wieder das Identiſche, troß einer theilweifen 
Verſchiedenheit, doch als identiſch erkannt und gedacht wird, Alles 
gemäß dem Zwed und der Rüdfiht, die jedes mal obwalten: Dies 
Alles thut die Urtheilsfraft. — Es kann feine Wahrheit geben, 
die unbedingt allein durch Schlüſſe herauszufinden wäre; fondern 
die NRothwendigfeit, fie blos durch Schlüffe zu begründen, ift immer 
nur relativ, ja fubjertiv. Da alle Beweife Schlüffe find, fo ift für 
eine neue Wahrheit nicht zuerft ein Beweis, fondern unmittelbare 
Evidenz zu fuchen, und nur fo lange ed an diefer gebricht, der Be- 
weis einftweilen aufzuftellen. Durch und durch beweisbar kann Feine 
Wiffenfchaft fein; fo wenig als ein Gebäude in der Luft ftehen Fann: 
alle ihre Beweife müflen auf ein Anſchauliches und Daher nicht mehr 
Deweisbares zurüdführen. Denn die ganze Welt der Reflerion ruht 
und wurzelt auf der anfchaulichen Welt. Alle lebte, d. b. urfprüng- 
lihe Evidenz ift eine anfchauliche: dies verräth fchon das Wort. 
Jeder Begriff hat feinen Werth und fein Dafein allein in der, wenn 
auch jehr vermittelten, Beziehung auf eine anfchauliche Vorftellung: 
was von den Begriffen gilt, gilt auch von den aus ihnen zufammen- 
gefegten Urtheilen und von den ganzen Wiflenfchaften *). 

Anmerk. Die Methode der Philofophie, das werden Sie nicht 
leugnen, muß fih ganz nad der Aufgabe derfelben rihten. Da nun 
nah Schopenhauer die Aufgabe der Philofophie iſt, das Ganze der Er: 


7) „Die Welt ale Wille und Vorſtellung“, Bb.1, $. 14. 





84 


duet, — Bellimmen, Beſtimmtwerden, Beſtimmtheit, — Grenze, Begren- 
zen, Begrenztfein, — Einheit, Vielheit, Mannichfaltigkeit, — Ipentität, 
Diverfität, Indifferenz, — Denken, Sein, Welen u. |. w. Da durch 
dergleichen weite Abftracta unendlich Diele gedacht wird, Tann In ihnen 
nur äußerſt wenig gedacht werben: es find leere Hülſen. Dadurch aber 
wird nun der Stoff des ganzen Philofophirens erflaunlih gering und 
ärmlih, woraus jene unfäglide und marternde Langweiligfeit entfleht, die 
allen folhen Schriften, befonders aber denen Hegel’8 und feiner Geſellen, 
eigen I°).” 


Das Operiren mit weiten Abftractis, unter gänzlichem Verlaſſen 
der anfchaulichen Erfenntniß, aus der fie abgezogen worden und 
welche daher die bleibende, naturgemäße Eontrole derfelben ift, war 
zu allen Zeiten die Hauptquelle der Irrthümer des dogmatifchen 
Philoſophirens. Bine Wiflenfchaft, aus der bloßen Vergleichung von 
Begriffen, alfo aus allgemeinen Sägen aufgebaut, könnte nur dann 
fiher fein, wenn alle ihre Säge fynthetifche a priori wären, wie 
dies in der Mathematif der Kal ift: denn nur foldhe leiden feine 
Ausnahmen, Haben die Säbe hingegen irgend einen empirifchen 
Stoff, fo muß man biefen ftets zur Hand behalten, um die allge 
meinen Säpe zu controliren (a. a. D.). 


Anmerk. Die größere Sicherheit ver Mathematik und Logik, wo- 
durch fi dieſelben vor allen andern, auf empirifhen Datis beruhenden 
Wiſſenſchaften, alfo au vor der auf dem Ganzen der Erfahrung ruhen: 
den Philoſophie, ausgeldänen, beruht, wie Schopenhauer gezeigt, darauf, 
daß Mathematik und Logik, ald apriorifhe Wiſſenſchaften, vom Grunde 
auf die Folge geben, welcher Weg ſtets fiher iſt, währenn die empi- 
vifchen Wilfenfchaften von der Bolge auf den Grund zu geben haben, 
welcher Weg fletd unflder, ja die Quelle alles Irrthums ift"*). Ihre 
völlige Untruͤglichkeit erlangen die a priori, d. h. unabhängig von der 
Erfahrung urtbellenden Wiſſenſchaften dadurch, Daß in ihnen die Kolge 
ans dem Grunde erkannt wird, welche Grfenntniß allein Nothwendigkeit 
bat: z. B. die Gleichheit der Seiten wird erkannt als begründet durch 
die Gleichhelt der Winkel; da Hingegen alle empiriiche Anſchauung und 
der größte Thell aller Erfahrung nur umgekehrt von ver Folge zum 


*) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, II, 83 — 86. 
**) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, II, 90; I, 89 fg. 





6 
ws wur sh Arms ai Sbrgrifier iss: Ki m mehr icbontem, 
wu su Läuse eafkalsen. auc vemen fir abgracaer. Tmt” ı. 


ang von Bunt fe of geiapele Berner tic:r veñneht, ach 
«Aupsulnuer, een ir einen Zubjumiren vor. Begriñen unter Bes 
yene, Ructſicht auf ven Urjprung perielben, ımt ohne Prüfung 
ws Kugler un Ausicjließlidjleit einer tollen Subiummon, we 
vard. un rt, aut Iangerm over fürzerm Ummege, au Talı jedem 
Leisehiyen Neſultau, vs man ſich ale Ziel vorgeñcctt hatır, gelangen 
lan, ser viele Werntnfieln vom eigentlichen Sophifticiren wur 
sen Yımae va verſchleden if. 


YHussıt Weitplele folgen Vernüuftelns fahr: Schopenbauer mehre“) 
wi, aus Keusu, ul ein eigentlihet „Gabineküd, übergehenn in ent⸗ 
dir Euphifluisen”, ſolgendes Räfonnement bed Platoniters Ma: 
»muG 'byıluy hier flehen mag: „‚Iebe Ungerechtigkeit if Die Ent- 
ripung tue Mus eh gibt Bein anderes Gut, als bie Ingenb: die 
days uber iſt nicht zu entreißen; alfo iſt «8 nicht möglich, daß ver 
suysanhutle Unynreligkelt erleine von dem Boͤſen. Nun bleibt übrig, 
u me ehe Iingerechtiglelt erlitten werben kann, oder daß ſolche 
us Bidle wun heim den erleide. Ullein ber Boͤſe befigt gar Fein Gut; 
un hs Yhunenk ein folches iſt: alſo kann ihm keines genommen 
mer ln kaum much er keine Ungerechtigkeit erleiden. Alſo iſt vie 
Knereulgkels eine uunnliche Buche.‘ 


Yun beraten Mernänftelelen aber, fährt Schopenhauer fort, wird 
dedet ſhihe, welche Uhwege jener Mgebra mit bloßen Begriffen, die Feine 
Vaſcaun anltalltel, afſen Mehr, und Bap mithin für unſern Intellect 
bin Uüaſſhannnn Sant iſt, wag für unſern Veib Der feſte Boden, auf wel⸗ 
möon voſftehee verlaſſen wir joue, ſo iſt Allede, inatabilis tellus, innabilis 
win” le Urtheilakraft, welche in dem Vermögen, bad an⸗ 
ſchauliib Werke NDR und genau in abitracte Begriffe zu über- 
hunen, beſteht, iſt zwar auch auf Dem Gebiete Des blos abftracten 
Urkeuneng thaliq, wo ſie Vegriffe nur mie Begriffen vergleicht: das 
her iſt indes Uriheil, im logiſchen Sinne dieſes Worts, allerdings ein 
Werk der Urtheilokraft, indem Dabei immer ein engeren Begriff einem 


Dr Welt ale Wille und Workellung”, U. ISO fg. 
I. Die Wen als We uud Vorſtellung“. IL ST jg. 





— — — — 


grifSarhisch, er ichiedet leine langen Schiupfenen, er ham 
feine bohanigerührten Gedaufenhürme (ih erinnere Sie her zu 
Da6 in meinem zweien Briefe Gelagee), tendern er Tummelı 
alle Strablen ver wirflichen Welt in einen engen Focus, wie ein 
Brennglas, und baber das Zünbende feiner Bhilsierhie. 

Naͤchitens über ieine Einıheilung ber Pbiloiephie 


Reunter Brief. 


Gintheilung ver Philofophie nah Schopenhauer. — Gegen die Eintheilung 
in die theoretifche und praftifche Philofophie. — Warum die Pſycho— 
logie keine beſondere philofophifche Wiſſenſchaft fe. — Eigenthümliche Be: 
griffsheftiinmung des Verſtandes und der Vernunft in der philosophia 
prima. — Stellung ver Rechts- und der Religionsphilofophie. 


Was die Einteilung der Philofophie betrifft, fo ik Schopen- 
bauer gegen die Eintheilung derfelben in die theoretifche und 
praftifhe Meiner Meinung nad, fagt er, iſt alle Philofophie 
immer theoretifch, inden ed ihr wefentlich ift, fi, was auch immer 
der nächfte Gegenftand der Unterfuchung fei, ſtets rein betrachtend 
zu verhalten und zu forfchen, nicht vorzufchreiben. Hingegen praftiich 
zu werden, dad Handeln zu leiten, den Charakter umzufchaffen, find 
alte Anfprüche, die fie, bei gereifter Einficht, endlich aufgeben follte. 
Denn, wo ed den Werth oder Unwerth eines Dafeind, wo ed Heil 
oder Verdammniß gilt, geben nicht ihre todten Begriffe den Als⸗ 
fhlag, fondern das innerfte Weſen des Menſchen jelbft, der Dämon, 
der ihn leitet. Die Tugend wird nicht gelehrt, fo wenig als der 
Genius: ja, für fie ift der Begriff fo unfruhtbar und nur als Werks 
zeug zu gebrauchen, wie er es für die Kunft ift. Wir würden daher 
ebenfo thöricht fein zu erwarten, daß unfere Moralfyfteme Tugends 
hafte, Edle und Heilige, als daß unfere Aefthetifen Dichter, Bildner 
und Muftfer erwedten. Die Philofophie fann nirgends mehr thun, 
als das Vorhandene deuten und erflären, das Wefen der Welt, wel 
ches in concreto, d. h. als Gefühl, Jedem verftändlich fid aus— 


N 


90 


fpricht, zur deutlichen, abftracten Erfenntniß der Vernunft bringen, diefes 
aber in jeder möglichen Beziehung und von jedem Gefichtspunft aus *). 

Aus der Aufgabe der Philofophie, die Erfahrung (aber nicht, 
gleich den übrigen Wiffenfchaften, dieſe oder jene befondere Erfah: 
rung, fondern die Erfahrung felbft, überhaupt und als folche) ihrer 
Möglichkeit, ihrem Gebiete, ihrem wefentlihen Inhalte, ihren innern 
und Außern Elementen, ihrer Form und Materie nach, zu deuten, — 
aus diefer Aufgabe folgt, daß das Erfte, was fie zu betrachten hat, 
fein muß das Medium, in weldhem die Erfahrung überhaupt 
ſich darftellt, nebft der Form und Beichaffenheit deſſelben. Diefes 
Medium ift die Vorftelung, die Erfenntniß, alfo der Intellert. Diefer- 
halb hat jede Philofophie anzuheben mit der Unterfuchung des Ers 
fenntnißvermögens, feiner Formen und Gefege, wie aud) ver Gültig- 
feit und der Schranken berfelben. Eine foldye Unterfuhung wird dem⸗ 
nach philosophia prima fein. Sie zerfällt in die Betrachtung der 
primären, d. i. anfchaulihen Vorſtellungen, welden Theil man 
Dianviologie, oder Berftandedlehre, nennen Tann; und in die 
Betrachtung der fecundären, d. i. abftracten Vorftellungen, nebft der 
Gefegmäßigfeit ihrer Handhabung, alfo Logik oder Vernunftlchre**). 

Anmerk. Damit e8 Ihnen nicht auffalle, daß Schopenhauer bie Lehre 
von den primären oder anſchaulichen Vorftellungen Verſtandeslehre, vie 
von den fecundären oder abftracten Vorftellungen Hingegen Bernunftlehre 
nennt, — fo will ih bier gleih Gelegenheit nehmen, Ihnen die Deftni- 
tionen des Verftandes und der Vernunft nah Schopenhauer zu ge: 
ben. Es ift fein geringes DVerbienft der Schopenhauer'ſchen Philofophie, 
daß fie, der herrſchenden Verwirrung und Vermiſchung der Begriffe von 
Verſtand und Vernunft gegenüber, endlich klar die Grenzen zwifchen bei- 
den beftimmt und die eigenthümlichen Functionen, vie jedem der beiden 
genannten Vermögen zukommen, ſcharf gefondert bat, wobel fie ſich voll: 
fommen mit der Erfahrung und dem Sprachgebrauch in Webereinftim: 
mung befindet. 

Verſtand ift nad Schopenhauer das Vermögen der Anſchauung, 
Vernunft hingegen dad Vermögen der Begriffe Es ift, wie Schopen- 
bauer nachgewieſen Hat, grundfalfh, die Sinne für dad Vermögen ber 


*) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, I, 305 fg. 
**) „Parerga und Baralipomena‘, Bd. 2, $. 21. 





92 


Welt, indem nämlih das a priori und bewußte Gefeß- der Gaufalität 
angewandt wird auf das Verhältniß des unmittelbaren Objects (des 
Leibes) zu den andern, nur mittelbaren Objecten: vie Erkenntniß deſſel⸗ 
ben Geſetzes, angewandt auf die mittelbaren Objecte allein und unter 
einander, gibt, wenn fie einen böhern Grab von Schärfe und GBenauig: 
feit hat, die Klugheit, welche ebenfo wenig als die Anfhauung überhaupt 
dur abflracte Begriffe beigebracht werden Tann: daher vernünftig fein 
und ug fein zwei fehr verſchiedene Eigenſchaften fin. 

Die nähere Ausführung und Begründung biefed Unterſchieds zwifchen 
Verſtand und Vernunft finden Sie, außer in dem angeführten $. 1 
der Abhandlung „Ueber das Sehen und die Farben‘, noch in $. 21 u. 26fg. 
der Abhandlung „Ueber vie vierſache Wurzel des Satzes vom zureichenden 
Grunde‘, 2. Aufl., fowie in der „Die Welt ald Wille und Vorſtellung“, 
Bd. 1, $. 3, A, 6, 8, und Bd. 2, Cap. 4—7. Schopenhauer zeigt. babei 
au, wie die von ihm aufgeftellten, feſten und fcharfbeftimmten Unter: 
ſchiede zwiſchen Verſtand und Vernunft mit dem Sprachgebrauch aller 
Völker und Zeiten übereinflimmen, und tadelt daher mit Recht in feiner 
Kritik der Kant'ſchen Philoſophie“) die Konfuflon, die in Kant's Erflä- 
rungen über Verſtand und Vernunft berrfcht. 

Da Erkenntniß urjprünglih nur durch den Verſtand zu Stande 
fommt, fo nennt Schopenhauer dag Erkennen den eigentlihen Gha- 
rakter der Thierheit, woburd ſich biefelbe von der Pflanzenwelt, die nur 
für Reize empfänglidh ift, unterfcheldet. Der unterſcheidende Gharafter 
des Menfchen vom Thiere ift vie Vernunft. Den Berfland haben bie 
Tiere mit dem Menfchen gemein, nur die Grade feiner Schärfe und bie 
Ausdehnung feiner Greenntnißfphäre find innerhalb beider Gattungen. 
höchſt verfchieven, mannichfaltig und vielfach abgeftuft, vom niebrigften 
Brad der Wahrnehmung eines äußern Objects als Urfache der vom Leibe 
mitteld des Taſt- oder Sehorgand empfundenen Einwirkung, bis zu den 
höhern Graven ver Erkenntniß des caufalen Zufammenbhangs der Ob— 
jecte unter einander, melde bis zum Verſtehen ver zufammengefegteften 
Verkettungen von Urſachen und Wirkungen in der Natur gebt. — Im 
praftiihen Leben heißt die Schärfe des Verſtandes im Auffaflen der cau: 
falen Beziehungen der Objecte unter einander — Klugheit. Mangel 
an Verſtand Heißt im eigentlichen Sinne Dummheit, und if eben 
Stumpfheit in der Anwendung des Geſetzes der Gaufalität, Unfähigkeit 
zur unmittelbaren Auffaffung der Verkettungen von Urſache und Wir- 
fung, Motiv und Handlung. Gin Dummer flieht nit den Zufammen: 


*) „Die Welt als Wille und Borftellung“, I, 484 — 488. 





9 


andern fubfumirende). „Die Urtheildfraft iſt demnach die Vermittlerin 
zwifchen der anſchauenden und der abſtracten Erfenntnißart, oder zwifchen 
Verſtand und Vernunft. Bel ven meiften Menſchen iſt fie nur rudimen- 
tarifch, oft fogar nur nominell, vorhanden: fie find beftinnmt, von Andern 
geleitet zu werden). Mangel an Urtheilskraft ift Einfalt**). 

Hiermit haben Sie eine kurze Ueberfiht Defjen, mas Schopenhauer 
in der philosophia prima ausführlicher lehrt. Die philosophia prima, 
als die Unterfuhung über das Erkenntnißvermögen, enthält die Betrady- 
tung des DVerftandes, der Vernunft und der Urtheilskraft, fo: 
wie der objectiven Gorrelate derfelben, namlich ver anfhaulidden Vor: 
ftellungen, ver Begriffe und der Urtheile, fowol in theoretifher als 
praktifcher Beziehung. Bon theoretifher Seite kommen dabei wichtige und 
ſchwierige ragen zur Sprache, wie bie: was in unferer Erkenntniß 
apriorifh und was apofteriorifch fe. Sodann enthält viefer Theil 
auch die eigentlihe Wiffenfhaftslehre und gibt eigenthümliche Auf- 
fhlüffe über die Methodenlehre ver Mathematik, fowie, was Sie gewiß 
nicht erwarten, über die Theorie des Lächerlihen. In praktiſcher Hinfict 
fommt der praftifhe Gebraud der Vernunft und der, Stoicismus zur 
Sprade, Alle diefe Betrachtungen reihen fih am gehörigen Orte an den 
Grundunterſchied zwifhen primären und fecundären Borflellungen, 
oder zwifhen Verftand und Vernunft, und deren Verbindung durch 
die Urtheilskraft, an. 


Die auf foldye Unterſuchungen folgende Philofophie im engern 
Einne ift ſodann Metaphyſik; weil fie nicht etwa nur das Vor- 
handene, die Natur, Fennen lehrt, orbnet und in feinem Zuſammen⸗ 
hange betrachtet, fondern es auffaßt ald eine gegebene, aber irgend- 
wie bedingte Erfcheinung, in welcher ein von ihr verfchievened We- 
fen, welches demnach das Ding an fich wäre, ſich darſtellt. Diefes 
nun fucht fie näher kennen zu lernen: die Mittel hierzu find theils 
das Zujammenbringen der äußern mit der innern Erfahrung, theils 
bie Erlangung eines Verſtändniſſes der gefammten Erſcheinung, mit— 
tels Auffindung ihres Sinnes und Zufammenhanges, — zu verglei« 
chen der Ablefung bis dahin räthfelhafter Charaktere einer unbekannten 
Schrift. Auf diefem Wege gelangt fie von der Erfeheinung zum 
Erſcheinenden, zu Dem, was binter jener ftedt. 


*) „Ueber die vierfahe Wurzel des Sapes vom zureichenden Grunde‘, 
2. Aufl, $. 28. 
**) ‚Die Welt als Wille und Borftellung“, I, 27. 





96 


ftanden werden, indem Mikrofosmus und Makrokosmus fich gegen 
feitig erläutern, wobei fie als im Wefentlichen Dafielbe fich ergeben. 
Diefe an das Innere ded Menfchen gefnüpfte Betrachtung durchzieht 
und erfüllt die ganze Metaphyſik in allen ihren Iheilen, Tann alfo 
nicht wieder gefondert auftreten, ald Piychologie. Hingegen An⸗ 
thropologie, als Erfahrimgswiffenfchaft, läßt fich aufitellen, ift aber 
theil8 Anatomie, theils Phyfiologie, theild blos empirische Pſycholo⸗ 
gie, d. i. aus der Beobachtung gefchöpfte Kenntnig der moralifchen 
und intellectuellen Aeußerungen und Eigenthümlichfeiten des Men- 
ſchengeſchlechts, wie auch der Verſchiedenheit der Indivipualitäten in 
diefer Hinfiht. Das MWichtigfte daraus wird jedoch nothwendig, als 
empirifcher Stoff, von den drei Theilen der Metaphyſik vorwegge 
nommen und bei ihnen verarbeitet *). j 

Die abgefonderte Behandlung der Pſychologie ſetzt ſchon voraus, 
was erft zu beweifen wäre, daß die Pſyche ein apartes Weſen, eine 
vom Leibe verfchiedene, ja demfelben radical entgegengefegte, immas 
terielle Subftanz fei. Dies ift fie aber, wie Schopenhauer auf 
Kant'ſchem Grunde und in Mebereinftimmung mit der Phyſtologie 
nachgewielen, keineswegs. Die Seele bedeutet nad Schopenhauer 
wefentlich nichtd anderes, als den Intellect, d. h. das Erfenntniß- 
vermögen. Die Betrachtung deſſelben fällt aber von feiner leib- 
lien Seite (ald wo er in den Einnedorganen und im Gehirn vers 
förpert erfcheint) der Phyfiologie anheim; der metaphyfifche Ur: 
fprung des Intellectd (der ſelbſt phyſiſcher Beichaffenheit ift) hingegen 
wird in der Metaphyfif der Natur**) nachgewiejen, als wo er aus 
dem Willen, dem Kern des Weſens, abgeleitet wird. Was endlich 
die verfchiedenen Yunctionen des Intellects betrifft, das Anfchauen, 
Degriffbilden, Urtheilen u. f. w., fo finden Sie diefe verſchiedenen 
Bunctionen in der philosophia prima abgehandelt, alfo in der Ab- 
handlung „Ueber die vierfache Wurzel bes Sapes vom zureichenden 
Grunde”, „Ueber das Sehen und die Farben” und in ganzen erften 





”) „Barerga und Paralipomena“, II, 18 fg. 

“) „Dom Willen in der Natur“, ©. 54 f9. und 70fg. Ferner: „Die Welt 
als Wille und Vorſtellung“, Bd. 2, Gap. 22, und Gap. 19 vom Brimat des 
Willens. 





98 


auch erfehen, weiche Bedeutung, nah Schopenhauer, die Religion 
hat. — Was das befondere Berhältniß der Schopenhauer/ichen Phi⸗ 
loſophie zum Chriſtenthum betrifft, jo babe ich daſſelbe ausführ⸗ 
licher in meiner 1848 (Darmſtadt, Leske) erfchienenen Schrift: 
„Ueber das wahre Berhältnig der Bernunft zur Offenbarung”, 


dargeftellt. 


Zehnter Brief. 


Allgemeine Anfihten über Metaphyſik. — Warum die Phyſik zur 

Löfung des Räthſels ver Welt unzulänglid fei. — Warum das Thier 

fein metaphyſiſches Bevürfnig habe. — Der Menſch ald animal meta- 

physicum. — Zwei grundverfchievene Arten von Metaphyſik. — Urſache 
der geringen Fortfchritte der Metaphyſik. 


— — — 


Ware die Phyſik fähig, uns das Raͤthſel der Welt zu loͤſen, jo bes 
bürften wir, verehrter Freund, Feiner Metaphyſik und Eönnten uns 
alles metaphufifche Kopfzerbrechen erfvaren. Aber leider ft die 
Phyſik zur Löfung des Räthfels der Welt unguläinglid. 
Die Phyfif (im weitelten Sinne des Worts) vermag, fagt 
Schopenhauer, ihrer Natur nach feine genügende Erklärung der Er- 
feheinungen in der Welt zu geben. Sie bedarf einer Metaphyfif, 
fich darauf zu ftügen, fo vornehm fie auch gegen diefe thun mag. 
Tenn fie erklärt die Erfcheinungen durch ein nody Unbefanntereg, 
als dieſe felbft find: durch Naturgefege, beruhend auf Naturkräften. 
Allerdingd muß der ganze gegenwärtige Zuftand aller Dinge auf 
der Welt, oder in der Natur, nothwendig aus rein phnfifchen Ur- 
jadhen erflärbar fein. Allein ebenſo nothwendig müßte eine folche 
Erflärung — geſetzt, man gelänge wirklich fo weit, fle geben zu Fönnen, 
— ſtets mit zwei wejentlihen Unvollkommenheiten behaftet fein 
(gleihfam mit zwei faulen Fleden, oder wie Achill mit der verwund- 
baren Ferſe, oder der Teufel mit dem Pferdefuß) vermöge welcher 
alles fo Erflärte doch wieder eigentlih unerflärt bliebe. Erſtlich 


nämlich mit diefer, daß der Anfang der Altes erflärenden Kette 
7* 


100 


von Urſachen und Wirkungen, d. 5. zufammenhängenden Berändes 
rungen, fehlechterdings nie zu erreichen ift, fondern, eben wie bie 
Grenzen der Welt in Raum und Zeit, unaufhörlih und ins Unend- 
liche zurüchveicht; und zweitens mit diefer, daß fämmtliche wirkende 
Urfachen, aus denen man Alles erflärt, ſtets auf einem völlig Uner⸗ 
färbaren beruhen, nämlich auf den urfprünglihen Qualitäten ber 
Dinge und den in biefen fich hervorthuenden Naturfräften, ver 
möge welcher jene auf beftimmte Art wirken, z. B. Schwere, Härte, 
Stoßfraft, Elafticität, Wärme, Eleftricität, chemifche Kräfte u. ſ. w., 
und welche nun in jeder gegebenen Erklärung ftehen bleiben, wie 
‘eine gar nicht wegzubringende unbekannte Größe in einer fonft volle 
fommen .aufgelöften algebraifchen Gleichung. Diefe zwei unaus⸗ 
weichbaren Mängel in jeder rein phyſikaliſchen, d. h. caufalen Er⸗ 
flärung, zeigen an, daß eine ſolche nur relativ wahr fein fann, 
und daß die ganze Methode und Art derfelben nicht die einzige, nicht 
die legte, alfo nicht Die genügende, d. h. nicht diejenige fein kann, 
welche zur befriedigenden Löfung des fchweren Räthfeld der Dinge 
und zum wahren Berftändniß der Welt und des Dafeins jemals zu 
führen vermag; fondern daß die phyfifche Erklärung, überhaupt 
und als foldhe, noch einer metapbyfifchen bedarf, welche den 
Schlüfſel zu allen ihren Borausfegungen lieferte, eben deshalb aber 
aud einen ganz andern Weg einfchlagen müßte*). 

Unter Metapbpyfit-verftehe ich, fagt Schopenhauer, jede an- 
geblihe Erfenntniß, welche über die Möglichkeit der Erfahrung, alfo 
über die Ratur oder die gegebene Erfcheinung der Dinge hinausgeht, 
um Auffhluß zu erteilen über Das, wodurch jene, in einem ober 
dem andern Sinne, bedingt wäre, oder, populär zu reden, über Das, 
was hinter der Natur fledt und fie möglich macht **). 

Der Grund und Boden, auf dem alle unjere Erfenntniffe und 
Wiſſenſchaften ruhen, ift das Unerklaͤrliche. Auf dies führt Daher 
jede Erklärung, mitteld mehr oder weniger Mittelgliever zurüd; wie 
auf dem Meere dad Senfblei den Grund bald in größerer, bald in 


— — 


*) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, II, 173 ig. Vergl. Dazu „Bar: 
erga und Baralipomena‘‘, U, 110 fg. 
») „Die Welt ale Wille und Vorſtellung“, II, 163. 





402 

feft am Stamme der Natur, dem fle entfproflen, und ift der unbes 
wußten Allwifienheit der großen Mutter theilhaft. Erſt nachdem 
das innere Wefen der Natur (der Wille zum Leben in feiner Ob⸗ 
jectivation) ſich durch die beiden Reiche der bewußtlofen Weſen und 
dann durch die lange und breite Reihe der Thiere, rüftig und wohls 
gemuth, gefteigert hat, gelangt e8 endlich, beim Eintritt der Vernunft, 
alfo im Menfchen, zum erften male zur Befinnung: dann \ounbert 
es fih über feine eigenen Werfe und fragt fi, was es ſelbſt fei. 
Seine Berwunderung ift aber um fo ernfllicher, ald ed bier zum 
erften male mit Bewußtfein dem Tode gegenüber fteht, und neben 
der Endlichfeit alles Daſeins auch die Bergeblichfeit alles Streben 
fi) ihm mehr oder minder aufdringt. Mit diefer Befinnung und 
diefer Verwunderung entfteht daher das dem Menfchen allein eigene 
Bedürfnig einer Metaphyſik: er ift ſonach ein animal meta- 
physicum. — $e niedriger ein Menſch in intellectualer Hinficht ftebt, 
defto weniger Räthfelhaftes hat für ihn das Dafein felbft: ihm 
fcheint vielmehr ſich Alles, wie es ift, und daß es fei, von felbft zu 

. verftehen. Died beruht darauf, daß fein Intellect feiner urfprüng- 

lichen Beitimmung, dem Willen dienftbar zu fein, noch ganz treu 

geblieben und deshalb mit der Welt und Natur, als integrirender 
| Theil derfelben, eng verbunden, folglich weit entfernt davon ift, fich 





| vom Oanzen der Dinge gleihfam ablöfend, demfelben gegenüber zu 

; treten und fo einftweilen als für fich beftehend, die Welt rein objectiv 
aufzufaffen. Hingegen ift die hieraus entfpringende philofophifche 
Verwunderung im Einzelnen durch höhere Entwidelung der Intelli- 
genz bedingt, überhaupt jedoch nicht Durch diefe allein; fondern ohne 
Zweifel ift ed das Wiffen um den Tod, und neben diefem die Be- 
trachtung des Leidens und der Roth ded Xebens, was den ftärfften 
Anftoß zum philofophifchen Befinnen und zu metaphyſiſchen Aus⸗ 
legungen der Welt gibt *). 

Religion und Philofophie find nah Schopenhauer nur 
zwei verjchiedene Arten von Metaphyfif. Die große urfprüng- 
liche Verſchiedenheit der Berftandeskräfte, fagt er, wozu noch bie der 

‚ viele Muße erfodernden Ausbildung derſelben kommt, fept einen 


— — 





p 


*) „Die Welt als Wille und Borftelung“, II, 159 fg. 





10 


Ten legserwäbnten IUmümt, daöü vie cute, bevor {te zur 
in Beichlag gensmmen find, betrachtet Schevenhaner and als die 
Urſache der geringen Fortſichritte Der phileſephiſchen Me⸗ 
taphyiif. 

Wenn man, jagt er, wie te eft geſchiebt, ver Meupigkl ver 
wirft, im Laufe fo vieler Jahrhunderte to geringe Fortjchritte gemacht 
zu haben, jo jolte man auch berüdichtigen, daß feine antere Wiſfen⸗ 
ihaft, gleich ihr, unter fortwährentem Drade erwachſen, feine von 
außen jo gehemmı und gehindert werden iR, wie fie alle Zeit durch 
die Religion jedes Landes, als welche, überall im Berg des Bons 
pols metaphyfifcher Extenntnifie, fie neben ſich anficht wie eim wildes 
Kraut, wie einen unbereihtigten Arbeiter, wie eine Zigennerhorde, 
und fie in der Regel nur unter der Bedingung tolerirt, daß fie fi 
bequeme, ihr zu dienen und nachzufolgen. Wo ift denn je wahre 
Gevanfenfreiheit geweſen? Geprahlt bat man genug damit, aber 
fobald fie weiter gehen wollte, als etwa in untergeortneten Dogmen 
von der Landesreligion abzuweichen, ergriff die Berfündiger der Tos 
leranz ein Heiliger Schauder über die Bermeijenheit, und es hieß: 
feinen Schritt weiter! — Welche Zortichritte der Metaphyſik waren 
unter ſolchem Drude möglih? — Ja, nicht allein auf die Mitthei- 
lung ver Gedanfen, fondern auf das Denfen jelbft erftredt ſich 
jener Zwang, den die privilegirte Metaphufif ausübt, dadurch daß 
ihre Dogmen dem zarten, bilpfamen, vertrauensvollen und gebanfens 
(ofen Kindesalter unter ftubirtem, feierlich ernftem Mienenfpiel fo feft 
eingeprägt werben, daß fie, von Dem an, mit dem Gehirn verwachſen 
und faft Die Ratur angeborener Gedanken annehmen, wofür manche 
Philofophen fle daher gehalten haben, noch mehre aber fie zu halten 

ı vorgeben. Nichts kann jedoch der Auffaffung aud nur des Pro- 
blems der Metaphufif fo feft entgegenftehen, wie eine ihm vorher: 
gängige, aufgedrungene und dem Geiſte früh eingeimpfte Löfung 
defielben: denn der nothwendige Ausgangspunft zu allem echten 
Philofophiren ift die tiefe Empfindung des Sofratifchen „dies 

| Gine weiß id), daß ich nichts weiß.” Die Alten ftanden auch in 
biefer Rüdfiht im Vortheil gegen und; da ihre Landesreligionen 
zwar die Mittheilung des Gedachten etwas befchränften, aber vie 


405 


Freiheit des Denkens felbft nicht beeinträchtigten, weil fie nicht. 
förmlich und feierlich den Kindern eingeprägt, wie auch überhaupt , 
nicht fo ernfthaft genommen wurden. Daher find die Alten nod) 
unfere Lehrer in der Metaphyfif *). 


*) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, I, 188. Vergl. dazu „Parerga 
und Baralipomena‘, Bd. 2, 8. 14. 


Eifter Brief, 


Usher Die Möglileit und Die Grenzen ver Maaphril. — lirjade 

ver Unlödbarkeit der metaphyñſchen Problem. — Schopenhauer's 

klares Bewußtjein über vie Philoſophie — Die vrei Sophiſten: 

Fichte, Schelling und Hegel. — Eintrirtscontrole im tie Geſellſchafi 
ver Philoſophen. 


— — — 


Cs ik mir, verehrter Freund, fehr lieb, daß Sie in Ihrem letten 
Schreiben offen Ihre Bedenklichkeiten über die Möglichkeit der Me 
taphyfif geäußert, indem Eie die geringen Yortichritte derfelben nicht 
blos, wie Schopenhauer aus der mangelnden Gedanfenfreikeit oder 
Lehrfreiheit ableiten, fondern ihre Duelle tiefer ſuchen, nämlich 
in den Schranfen der menſchlichen Erfenntniß überhaupt, wegen deren 
Eie an der Möglichfeit der Löjung der metaphyiiihen Probleme 
zweifeln. Hören Sie daher jegt Schopenhauer’d Anfihten über bie 
Möglichkeit ver Metaphyſik. 

Schopenhauer erflärt es für eine petitio principii Kant's, welche 
diefer in $. 1 der Prolegomena am deutlichften ausjpricht, dag Me: 
taphyſik ihre Grundbegriffe und Grundſaͤtze nicht aus der Erfahrung 
ihöpfen dürfe. Dabei, fagt Schopenhauer, wird nämlih zum Bor: 
aus angenommen, daß nur Das, was wir vor aller Erfahrung 
wiffen, weiter reichen koͤnne, als mögliche Erfahrung. Hierauf ger 
ftügt fommt dann Kant und beweift, daß alle ſolche Erkenntniß nichts 
weiter fei, als die Form des Intellectd zum Behuf der Erfahrung, 
folglih über dieſe nicht hinaus leiten könne; woraus er dann die 
Unmöglichkeit aller Metaphyſik richtig folgert. Aber, fagt Schopen- 





= 


408 


welchen Raum fie audy erleuchten mag: ftetd wird unfer Horizont von 
tiefer Nacht umgrenzt bleiben *).“ 

Nie, fagt Schopenhauer, habe ich mich vermeflen, eine Philos 
ſophie aufzuftelen, die Feine Fragen mehr übrig ließe. In diefem 
Sinne ift Philofophie wirklich unmöglidh: fie wäre Allwiffenheit. 
Aber est quadam prodire tenus, si non datur ultra: es gibt eine 
Grenze, bid zu welcher dad Nachdenfen vordringen und fo weit die 
Nacht unſers Daſeins erhellen fann, wenngleich der Horizont flets 
dunkel bleibt **). 

Die Schranfen der menfchlihen Erfenntniß entfpringen nad) 
Schopenhauer daraus, daß der Intellect ausfchließli zu praftifchen 
Zweden beftimmt, das bloße Medium der Motive des Willens 
ift, mithin durch richtige Darftellung diefer feine Befimmung erfüllt, 
nicht aber dazu angethan ift, das Wefen der Dinge an fi zu er 
füffen. Die urfprünglih erfenntnißlofe und im Yinftern treibende 
innere Kraft der Ratur erreicht, wenn fie ſich bis zum Selbftbewußt- 
fein emporgearbeitet hat, dieſe Stufe nur mittelft Production eines 
animalifchen Gehirns und der Erfenntniß, als Yunction beflelben, 
wonach in diefem Gehirn das Phänomen der anfchauliden Welt 
entfteht. Aus dieſem mundus phaenomenon (Gehimphänomen), 
aus diefer, unter fo vielfachen Bedingungen entftehenden Anfcyauung 
find nun aber alle unfere Begriffe geichöpft, haben allen Gehalt 
uur von ihr, oder doch nur in Beziehung auf fie. Daber find fie, 
wie Kant jagt, nur von immanentem, nicht von trandcendentem Ge⸗ 
brauch: d. h. dieſe unfere Begriffe, dieſes erſte Material ded Den» 
feng, folglich noch mehr die durch ihre Zufammenfegung entftehenden 
Urteile, find der Aufgabe, das Weſen der Dinge an fi und ben 
wahren Zufammenbhang der Welt und des Dajeind zu denfen, unan- 
gemeflen. Denn unfer Intellect, urfprüngli nur beflimmt, einem 
individuellen Willen feine Heinlichen Zwede vorzubalten, faßt dem- 
gemäß bloße Relationen der Dinge auf und dringt nicht in ihr 
Inneres, in ihr eigenes Weien: & ift demnad eine bloße Flächen: 


») Die Belt als Wille und Vorſtellung“, U, 187. 
») ‚Die Welt als Wille und Vorſtellung“, U, 588 





440 





der Natur verftehen, aber nicht die Natur felbft, wenigftens nidht 
: unmittelbar *). 

Kant hat nachgewiefen, daß die Probleme der Metaphyſik, 
welche Jeden, mehr oder weniger, beunruhigen, feiner birecten, über: 
haupt Feiner genügenden Löfung fähig feien. Died nun aber beruht 
nach Schopenhauer im legten Grunde darauf, daß fie ihren Urſprung 
in den Formen unferd Intellects, Zeit, Raum und Gaufalität, haben, 
“während dieſer Intellect blos die Beftimmung hat, dem individuellen 
Willen feine Motive vorzufchieben, d. h. die Gegenftände feines 
Wollens, nebft den Mitteln und Wegen, ſich ihrer zu bemächtigen, 
ihm zu zeigen. Wird nun aber diefer Intellect abusive auf das 
Weſen an fi) der Dinge, auf das Ganze und den Zufammenhang 
ver Welt gerichtet, fo gebären die befagten, ihm anhängenden %ors 
men des Reben», Nach⸗ und Durcheinander aller irgend möglichen 
Dinge. ihm die metaphuftfhen Probleme, wie etwa vom Urfprung 
und Zwed, Anfang und Ende der Welt und des eigenen Selbſt, 
von der Vernichtung dieſes durch den Tod, oder deſſen Fortdauer 
troß demfelben, von der Freiheit des Willens u. vergl. m. — Den- 
fen wir und nun aber, jagt Schopenhauer, jene Formen ein mal 

aufgehoben und dennoch ein Bewußtfein von den Dingen vorhanden, 
fo würden dieje Probleme nicht etwa gelöft, fondern ganz verfchwuns 
den fein, und ihr Ausdrud feinen Sinn mehr haben. Denn fie ent- 
fpringen ganz und gar aus jenen Formen, mit denen es gar nicht 
auf ein Berftehen der Welt und des Dafeins, fondern blos auf ein 
Verſtehen unferer perfönlicden Zwecke abgefehen iſt *). 

Eine Philoſophie nun, welche dieſe Beſchraͤnkungen als ſolche 
zum deutlichen Bewußtſein bringt, iſt transcendental und, ſofern 
fie die allgemeinen Grundbeſtimmungen der objeciven Welt dem 
Subiect vindicirt, ift fie transcendentaler Idealismus, während 
diejenige Philefophie, welche, was nur Form der Gricheimung, d. h. 
ver durch ein animaliſches, cerebraled Bewußtſein vermittelten Bor: 
Rellungen iR, dem Dinge an ſich ſelbſt beilege und demnach für die 
Ur und Grundbeſchaffenheit der Welt audgibt, — tem Kantkhen 


. Die Welt abe Bille uur Vorſtellung“. II. IS7—AU 
VRarerge ua Varatiremena“ IN. 





— — 
ñi 


—. — 


142 
Bekannte, der Wille in und, muß und die Auslegung zu dem nur 
mittelbar Bekannten geben; nicht umgekehrt. Aber audy der Wille 
zeigt fih dem Intellert, der allein das der Erkenntniß Fähige if, 
noch in einer, wenn auch der allerleichteiten Verhüllung (unter der 
Form der Zeit), auch er iſt alfo gewifiermaßen noch Erſcheinung 
und auch bei ihm läßt fich zuletzt noch fragen, was er fchlechthin 
an fi felor fei. Doc dieſe Frage, fagt Schopenbauer, ift nie 


zu beantworten, weil das Erfanntwerben (Erfcheinen) felbft fchon 


dem Anfichfein widerfpricht und jedes Erfannte fchon als ſolches 
nur Erfcheinung iſt. (Dafelbfl.) 

Aus den NAngeführten erfehen Sie, wie ehrlih und redlich 
die Schopenhanerfhe Philoſophie ift, und wie wenig fie daran 
denft, fih pomphaft für eine Offenbarung des „abfoluten Geiſtes“ 
auszugeben, wie fehr fle vielmehr überall ihres menſchlichen Urs 
fprunge eingedenf, darauf bedacht ift, die Relativität und nur 
immanente Oültigfeit aller menſchlichen Weltweisheit einzu: 


‚ fihärfen. 


Schon dieſes klare Bewußtſein über die Philofophie, ihren 
Urſprung, ihren Umfang und ihre Grenzen, kann Sie davon übers 
zeugen, daß Schopenhauer der wahre und echte Nachfolger Kant’e 
if, der ja eben dadurch unfterbli geworden, daß er die Philo⸗ 
fopbie zum Selbftbewußtfein über fih, zur Selbſtbeſinnung, zur 
Einkehr in fi gebracht bat. Und von diefem Standpunft aus 
gejeben, werden Sie es gewiß nicht ungerecht finden, daß Schopen- 
bauer von Fichte, Schelling und Hegel nur als von den „drei 
Sophiſten“ fpricht und von ihnen fügt, daß fie nicht „die Eintritte- 
controle befteben und nicht eingelajien werben fonnen in die ehr 
würdige Gefelichaft der Denker fürs Menjchengefchlecht ).“ 

Um die Gintrittöcontrole zu beſtehen, muß man wirklich alles 
von Schopenhauer über die Philojophie im Allgemeinen und vie 
Metaphyſik inobeſondere Geſagte, wie ich ed Ihnen bisher mir 
gerbeilt, in succum et sanguinem aufgenommen haben, und ba 
diefed bei Ihnen ale einem beſonnenen Denker, ver ſich nicht durch 
dir „drei Sophiſten“ den Kopf bat verrüden laſſen, ter Haupt 


») „Nurtya und Ruralieeuemu“. U IA 


443 


fahe nach gewiß der Fall ift, fo erkläre ich Sie hiermit reif zum 
Eintritt — in „Die Welt ald Wille und Vorſtellung“. Ich werde 
Ihnen in meinem nädften Briefe zuerft dieſen Grundunterſchied 
der Welt nah Schopenhauer entwideln und alsdann wollen wir 
die beiden Welthemifphären, Wille und Borftellung, jede für 
fi etwas näher in Augenfchein nehmen. 


Fmwölfter Brief. 


Grundunterfähied ver Welt nah Schopenhauer. — Das Falſche des 

Gartefianifhen Dualismus zwiſchen Geift und Materie. — Ber: 

dienft Schopenhauer’8 durch Befeitigung des Streites zwiſchen Mate: 

rialismus und Spiritualismus. — Riückfall der nachkantiſchen 
Philoſophen hinter Kant. 


Meinem Programm gemäß entwidele ich Ihnen jet zuerft den 
Schopenhauerihen Grundunterſchied der Welt. 

Die Welt zerfällt nah Schopenhauer in die reale (vom Er- 
fennen unabhängige) und ideale (vorgeftellte), oder, nad Kant'ſchem 
Austrud, in Dinaanfidh und Erjheinung. Diejes find nur zwei 
verichiedene Ausdrüde für einen und denfelben Grundgegenfat. Die 
reale Welt oder das Ding an fi it Wille, die ideale oder Er- 
icheinungswelt it Vorftellung. 

Daß dieje Zerfällung der Welt in eine reale und ideale Seite 
richtiger fei, ald die durch Gartefius aufgefommene in Materie 
und Geift, beweift nicht nur das ganze Schopenhauer'ſche Syſtem, 
jondern beſonders auch die diefen Orundgegenjag betreffende „Skizze 
einer Gejchichte der Lehre vom Idealen und Realen‘‘ *). 

In dieſer vortrefflihen Abhandlung zeigt Schopenhauer, wie feit 
Carteſius alles Philoſophiren ſich hauptjächlih um das Problem vom 
Idealen und Realen, d. b. um die Frage dreht, was in unferer 
Erkenntniß obiertiv und was darin fubjectiv ei, alje was barin 


— — — — 





*) . Rarerga und Paralipomena“, l. 1I-1I9. 





446 


ideale Seite gefallen und er ift bei der vargeftellten Welt ftehen 
geblieben. „Diefe, bezeichnet durch ihre Form der Ausdehnung, hält 
er für das Reale, mithin für unabhängig vom PVorgeftelltwerden, 
d. h. an fi, vorhanden. Da hat er dann freilich Recht, zu fagen, 
daß Das, was ausgedehnt ift, und Das, was vorgeftelt wird, — 
d. 5. unfere Vorftelung von Körpern und diefe Körper felbft, — 
Eines und Daffelbe jel. Denn allerdings find die Dinge nur als 
Vorgeftellte ausgedehnt und als Ausgedehnte vorftellbar. Die Welt 
als Vorftelung und die Welt im Raume ift una eademque res: 
dies fönnen wir ganz und gar zugeben. Wäre nun die Ausdehnung 
eine Eigenfchaft der Dinge an fich, fo wäre unfere Anfchauung eine 
Erfenntniß der Dinge an fi: er nimmt ed auch fo an, und hierin 
befteht fein Realismus. Weil er aber diefen nicht begründet, nicht 
nachweift, daß unferer Anfchauung einer räumlichen Welt eine von 
diefer Anfchauung unabhängige räumliche Welt entfpricht, fo bleibt 
das Grundproblem ungelöft. Died aber fommt eben daher, daß die 
Durchſchnittslinie zwifchen dem Realen und Idealen, dem Objectiven 
und Subjectiven, dem Ding an fi) und der Erfcheinung, nicht 
richtig getroffen ift: vielmehr führt er, wie gefagt, den Schnitt mitten 
durch die ideale, fubjective, erfcheinende Eeite der Welt, alfo durdy 
die Welt ald Borftellung, zerlegt diefe in das Ausgebchnte oder 
Räumliche, und unfere Vorſtelluug von demfelben, und ift dann fehr 
bemüht, zu zeigen, daß Beide nur Eines find, wie fie es auch in 
der That find *).” 

Ich füge zur Erläuterung diefer Stelle noch Folgendes Hinzu: 

Nachdem einmal Geift und Materie, Denken und Ausdehnung 
(cogitatio und extensio), als zwei grundverfchiedene, ihren Wefen 
nach von einander unabhängige Subftanzen von Eartefiud ange- 
nommen worden waren, mußte man fich freilih wundern, wie dieſe 
beiden entgegengefegten Subftangen, die ihrem Begriffe nach gar nichts 
mit einander gemein hatten, dennoch in der Wirflichfeit dazu fommen 
fonnten, ein Ganzes auszumachen und als Seele und Leib auf einan- 
der zu wirken, gegenfeitigen Einfluß auf einander auszuüben. Da 
zerbrach man fich denn den Kopf über diefen wunderbaren Zufanımen- 


*) „Barerga und Baralipomena‘, I, 11. 





118 

legen, jedes äußerlich als materiell Vorgeſtellte innerlich als imma- 
teriell denken. Materie und Kraft ſind alſo unzertrennlich. In jedem 
Materiellen wirft eine immaterielle Kraft und jede Kraft wiederum 
erfcheint Außerlich al8 ausgedehnte Materie, von dem rohen, unors 
ganifirten Steine an, in welchem nur die Schwere wirft, bis hinauf 
zu dem fein organifirten Gehirn, dem Sige der Denf- und Ur: 
theilsfraft. 

Die Frage: Wie hängen Leib und Seele zufammen, wie foms 
men Materie und Geift dazu, ein Ganzed auszumachen und auf 
einander zu wirfen? iſt alfo im Grunde genonmen nur die Frage: 
Wie fommen wir dazu, und ein und daſſelbe Ding auf zwei ganz 
heterogene Weifen vorzuftellen? Es ift alfo nur die Frage nad) 
dem Zufammenhange zweier grundverfchiedener Vorftellungsweifen. 

Die Materialiften, wie die Spiritualiften, leiten, ohne es zu 
wiffen, die Welt aus Dem ab, was eine bloße Vorſtellungs— 
weife des erfennenden Subjects ift, find alfo Beide, freilich ohne 
ed zu wiffen, Fritiflofe Realiften, indem fie das blos Borgefelite 
für an fi real halten. 

„sn Wahrheit”, fagt Schopenhauer, „gibt e8 weder Geift, noch 
Materie, wol aber viel Unfinn und Hirngefpinnfte in der Welt. Das 
Streben der Schwere im Steine iſt gerade fo unerflärli, wie das 
Denken im menſchlichen Gehirn, würde alfo, aus dieſem Grunde, 
auch auf einen Geift ſchließen lafen .... . . Sobald wir, felbft 
in der Mechanik, weiter gehen, als das rein Mathematiiche, fobald 
wir zur Undurchbringlichkeit, zur Schwere, zur Starrheit, oder Zluis 
bität, oder Oafeität, fommen, ftehen wir fchon bei Aeußerungen, die 
uns ebenfo geheimnigvoll find, wie dad Denfen und Wollen des 
Menfchen, alfo beim direct Unergründlichen: denn ein jolches ift jede 
Naturkraft. Wo bleibt nun alfo jene Materie, die ihr fo intim 
fennt und verfteht, daß ihr Alles aus ihr erflären, Alles auf fie 
zurüdführen wollt? — Rein begreiflid und ganz ergrünplich int 
immer nur dad Mathematiiche; weil ed das im Subject, in unferm 
eigenen Borftellungsapparat Wurzelnde ift: fobald aber etwas eigent- 
ih Objectived auftritt, etwas nicht a priori Beftimmbares, da ift 
es fofort auch in letzter Inſtanz unergründlihd. Was überhaupt 
Einne und Berftand wahrnehmen, if eine ganz oberflächliche Er⸗ 





128 


- jedem Schritte durch Das ausnahmelofe Gefeb der Caufalität ge- 

regelt wird, in allen diefen Stüden aber nur die Geſetze befolgt, 
welche wir, vor aller Erfahrung davon, angeben fönnen, — daß 
eine ſolche Welt da draußen ganz objectivsreal und ohne unfer Zu- 
thun vorhanden wäre, dann aber durch Die bloße Sinuesempfindung 
in unfern Kopf hineingelangte, wofelbft fie nun, wie da draußen, 
noch einmal daftände *), 

Man würde aber Schopenhauer fehr mißverftehen, wenn man 
aus feiner Bezeichnung der objectiven Welt als eines bloßen Gehirn- 
phänomens fchlöffe, daß er die empirifche Realität der Außenwelt 
leugne. Der wahre Idealismus, fagt er, läßt die empirifche Nea- 
lität unangetaftet, hält aber feft, daß alles Object, alfo das em- 
pirifch Reale überhaupt, durch das Subject zwiefach bedingt ift: 
erftlih ald Object überhaupt, weil ein objectived Dafein nur 
einem Subject gegenüber und als deſſen Vorſtellung denkbar ift; 
zweitens formell, indem die Art und Weife der Eriftenz des 
Objects, d. h. des Vorgeſtelltwerdens (Raum, Zeit und Baufalität) 
vom Subject ausgeht, im Subject prädisponirt iſt **). Schopen- 
bauer faßt alfo keineswegs die Körperwelt nur als „Hirngeſpinnſt“ 
auf, wie fih Dorguth ausprüdt ***); — der Ausdrud „Hirngefpinnft‘ 
führt den falſchen Begriff mit fi, als fei, nad Schopenhauer, bie 
Außenwelt ganz und gar nur, wie es der abfolute Fichtefche Idea⸗ 
lismus annimmt, ein Product der reinen Thätigfeit des Subjects 
oder Ich's; — fondern als durch das Gehirn vermittelte Erfchei- 
nung, die jedoch nicht ohne einen von der vorftellenden Thaͤtigkeit 

| N des Gehirns unabhängigen Kern ifl. „Die Körperwelt ift Gehirn: 
ji . phänomen”, das will, bei Schopenhauer, eben nur foviel fagen, 
IE: als: das Ding an fi, eingehend in die worftellende Gehirnthätigfeit 
N des Subjects, ſtellt fich in diefer ald Object und zwar als in Raum 
h und Zeit ausgedehntes und dem Baufalnerus unterworfenes Ob⸗ 
1 ject dar. 


5 
* 
* 





*) „Weber bie vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde”, 
2. Aufl, ©. 51. | 

») ‚Die Welt als Wille und Vorſtellung“, I, 8 fg. 

***) „Vermiſchte Bemerkungen über bie Philofophie Schopenhauer's, ein Brief 
an den Meilter” (Magdeburg 1852), ©. 19. 


Doch genug hiervon. Die bereitd angeführten Stellen aus 
Schopenhauer's Werfen werben Ihnen, wenn Sie fie vollftändig 
nachlefen, hinlänglich den Sinn feines Idealismus zu erfennen gebeh. 
Es ift jept Zeit, daß ich Ihnen die Beweiſe mittheile, die Schopen- 
hauer dafür gibt, daß nicht blos das DObjectfein überhaupt der 
Aupenwelt durd) das Subject bedingt ift, fondern auch die Art und 
Weife, wie diefelbe ſich als Object darftellt, nämlich als aus— 
gedehnt in Raum und Zeit und dem Gaufalnerus unterworfen, durch 
die angeborenen, apriorifchen, d. h. aller Erfahrung vorhergehen- 
den, ja fie erft möglich machenden Formen des Intellects oder Er— 
fenntnißvermögens bedingt ift, 

Daß die Welt, um Object zu fein, eines vorftellenden Sub⸗ 
jeets bedarf, für welches fie Object ift, das läßt allenfalls noch 
Ieder bei näherer Befinnung gelten. Schon der tiefe, traumlofe 
Schlaf kann einen Jeden überzeugen, daß es nur für vorftellende 
Köpfe eine objective Welt gibt. Schliefe Alles auf ewig in der 
Natur einen tiefen Schlaf und erwachte nie zum Bewußtſein, wie 
die Pflanzen, fo wäre nie und nirgends die Nede von einer Außens 
welt. Aber wie in aller Welt, werden Sie fragen, beweift denn 
Schopenhauer, daß nicht blos das Objectjein, fondern auch die 
Räumlichkeit, Zeitlichfeit und der Cauſalnexus der Welt nur 
Vorftellung ift und nicht den Dingen an ſich zufommt? Kann 
nicht die Welt, obgleich ich mir ihrer nur dann bewußt werde, wenn 
mein Kopf fie anfhaut, und obgleidy fie, wenn allen anſchauenden 
Weſen die Köpfe abgehauen würden, aufhörte, als Object zu exi« 
fliren, dennoch außer und unabhängig von allen Köpfen ausgedehnt 
fein in Raum und Zeit und in der Verknüpfung von Urſachen und 
Wirfungen ftehen? Ein Spiegelbild ift allerdings nur möglich, 
wenn ein Spiegel da ift, und würden alle Spiegel zerftört, fo 
gäbe es auch Fein Spiegelbild mehr. Aber folgt daraus ſchon, daß 
die ſich abſpiegelnden Gegenftinde an ſich nicht fo find, wie fie, 
wenn der Spiegel da ift, in demfelben ſich abſpiegeln? 

‚Hören Sie daher nun Schopenhauer's Beweife, die, wie Sie 
ſchen werben, auch durch die Naturwiſſenſchaften beftätigt werben. 
Die Ipealität der Zeit findet Schopenhauer eigentlich, ſchon in 

dem der Mechanit angehörenden Gefege der Trägheit ausge 


X 





120 


Bewußtſein gebracht zu haben, welches nicht darin befteht, den Zu⸗ 
fammenbang zwifhen Materie und Gelft, fondern den Zufammen- 
bang der ganzen Welt ald Vorftellung (innerhalb deren jene 
beiden liegen), mit dem Ding an fih, d. b. mit dem von der 
Vorftelung und ihren Kormen unabhängigem Wefen an ſich der 
Welt nachzuweiſen. Diefes bat Schopenhauer gethan und darum 
bat auch nur er einen wirklichen Kortfchritt über die Kant'ſche Philo⸗ 
fopbie hinaus gemacht, während die Andern wieder hinter Kant zurück⸗ 
gefallen find. 

In meinem nächften Briefe werbe ich Ihnen, übergehend zur 
Betrachtung der Welt als Vorftellung, zunächft die Grundformen 
diefer entwickeln. 





122 

alles Object. Die Welt ald Vorftelung hat alfo zwei wefentliche, 
nothwendige und untrennbare Hälften. Die eine iſt das Object, 
die andere das Subject. Verſchwände das erfennende Subject, fo 
wäre aud die Welt ald Vorſtellung (Object) nicht mehr. Denn 
jede diefer beiden Hälften bat nur durch und für die andere Bedeu: 
tung und Dafein *). 

Daß die objective Welt da wäre, aud wenn gar fein er- 
fennendes Wejen eriftirte, fcheint zwar freilich auf den erften Anlauf 
gewiß. Allein, fagt Schopenhauer, wenn man biefen Gedanken 
realifiren wil und demnach verfucht, eine objective Welt ohne 
erfennendes Subject zu imaginiren, fo wird man inne, daß 
Das, was man da imaginirt, in Wahrheit das Gegentheil von Dem 
ift, was man beabfichtigte, nämlich nichts Anderes, als eben nur ber 
Vorgang im Intelleet eined Erfennenden, der eine objective Welt 
anfchaut, alfo gerade Das, was man ausfchließen gewollt hatte. 
Denn diefe anfhaulihe Welt ift offenbar ein Gehirnphänomen: das 
her liegt ein Widerfpruch in der Annahme, daß fie auch unabhängig 
von allen Gehirnen, als eine ſolche, dafein follte. 

Diefes Bedingtfein alled Objects durdy das Subject macht die 
Idealität der Welt als Vorftellung aus. Auch unfer Leib, in- 
fofern wir ihn al8 Object, d. h. als ausgedehnt, raumerfüllend 
und wirkend erfennen, ift nur Gehirnphänomen, befteht nur in der 
Anfchauung unferd Gehirns. Keineswegs aber ift und unmittelbar, 
etwa im Gemeingefühl des Leibes, oder im innern Selbftbewußtfein, 
irgend eine Ausdehnung, Geftalt und Wirkfamfeit gegeben. Das 
Dafein unferer Berfon, vder unferd Leibes, als eines Ausge— 
dehnten und Wirfenden, feht allezeit ein Erfennendes vor: 
aus: weil ed wefentlih ein Dafein in der Appreheufion, in der 
Vorftelung, alfo ein Dafein für ein erfennendes Subject ift. 

Inzwiſchen verfteht e8 fih, daß dad Dafein, welches durd ein 
Erkennendes bedingt ift, alfo das Dafein im Raum als Ausge— 
dehntes und Wirfendes nicht ald für die einzige Art des Dafeins zu 
halten ift; fondern außer diefem Dafein für ein Subject (Erfens 
nendes) hat jedes auf diefe Weife Dafeiende noch ein Dafein für 


*) „Die Welt als Wille und Borftellung‘, Bo. 1, 8.2. 





= 
——— 


. 4128 


jectiv und an fich felbft vorhanden wäre und ein bloße Abbild 
defielben, als eined Unendlichen— durch die Augen in unfern Kopf ge- 
langte, ift der abfurdefte aller Gchanfen, aber in einem gewiſſen Sinne 
der fruchtbarfte, weil, wer die Abfurbität deffelben deutlich inne wird, 
eben damit das bloße Erfcheinungspafein diefer Welt unmittelbar 
erfennt, indem er fie als ein bloßes Gehirnphänomen auffaßt, wel 
ches, als folches, mit dem Tode des Gehirns verſchwindet, um eine 
ganz andere, die Welt der Dinge an fich, übrig zu lafien. Daß der 
Kopf im Raume fei, hält ihn nicht ab, einzufehen, daß der Raum 
doch nur im Kopfe ift*). 

Lode war zu diefer Erfenntniß ber Idealität des Raumes nod) 
nicht gefommen. Nur die durch die Nerven der Sinnesorgane be⸗ 
dingten Eigenfchaften, wie Farbe, Ton, Gefhmad, Geruch, Härte, 
Weichheit, Glätte, Raubigfeit u. f. w. hielt er für fubjeciv und 
brachte fie von der Befchaffenheit ver Dinge an ſich in Abrechnung; 
hingegen Ausdehnung, Undurddringlichfeit, Geftalt, Bewegung oder 
Ruhe, und Zahl waren ihm noch Beftimmungen der Dinge an fidh, 
die- ihnen alfo auch außerhalb unferer Vorftelung und unabhängig 
von ihr zufommen ſollten *). Da trat Kant auf und zeigte un« 
widerleglich die Idealitaͤt des Raumes, folglich der Ausdehnung und 
aller mit ihr zufammenhängenden' Eigenfchaften, als da find: Geftalt, 
Größe, Verhältniß gegen einander ***). Es fann demnach, fo lange 
die Kantfhen und die zu ihrer Beftätigung noch binzufommenden 
Schopenhauer'ſchen Beweife von der Ipealität ded Raumes nicht 
widerlegt find — und fie werden fchwerlicy je widerlegt werden — 
nur für Unwiſſenheit und Gebanfenlofigfeit oder Kritikloſigkeit gelten, 
wenn fortan noch von Soldyen, die ſich Philofophen nennen, die 


Raͤumlichkeit für eine Beſchaffenheit der Dinge an ſich ausgegeben 


wird. Das ift zwar dem gemeinen Menfchenverftand, der über den 
Urfprung und die Grenzen der Erfenntniß nicht reflectirt, ange 
mefien, aber fehr unphilofophifch. Nichts kann wol fchlagender fein, 


*) „Parerga und Baralipomena”, Bd. 2, $. 30. 
**) Vergl. „Parerga und Paralipomena‘, I, 14 fg., die Belegftellen. 
"*) „Kritik der reinen Vernunft im erflen Abfchnitt der transcenventalen Aefthe: 
tif‘, Ausgabe von Rofenfranz, ©. 34 fg. 





430 

Schopenhauer nun behält diefe Kant'ſchen Beweife bei, ergänzt 
fie aber noch durch die phyſiologiſchen, aus der Befchaffenheit 
der Sinnedempfindung bergenommenen. Was für ein ärmliches 
Ding, fagt er, ift doch die bloße Sinnedempfindung. Selbft in den 
edelften Sinnesorganen ift fie nichts mehr, als ein locales, fpeci- 
fifches, innerhalb feiner Art einiger Abwechslung fähiges, jedoch an 
ſich ſelbſt ſtets fubjertived Gefühl, welches als ſolches gar nichts 
‚ DObjectives, alfo nichts einer Anfchauung Aehnliches enthalten kann. 
Denn die Empfindung jeder Art ift und bfeibt ein Vorgang im Or- 
ganismus felbft, als ſolcher aber auf das Gebiet unterhalb der Haut 
beſchraͤnkt, kann daher, an fich felbft, nie etwas enthalten, das jen- 
feit diefer Haut, alfo außer und läge. Sie kann angenehm oder 
unangenehm fein, — welches eine Beziehung auf unfern Willen befagt, 
— aber etwas Objectived liegt in feiner Empfindung. Erſt wenn 
der Berftand, — eine Function, nicht einzelner zarter Nervenenden, 
fondern des ſo Fünftli und räthjelhaft gebauten Gehirns — in 
Tpätigfeit geräth und feine einzige und alleinige Yorm, das Geſetz 
der Kaufalität, in Anwendung bringt, geht eine mächtige Ber: 
wandlung vor, indem aus der fubjectiven Empfindung die objective 
Anfhauung wird. Er nämlid faßt, vermöge feiner felbfteigenen 
Form, alfo a priori, d. i. vor aller Erfahrung (denn dieje ift bis 
dahin noch nicht möglich) die gegebene Empfindung des Leibes als 
eine Wirfung auf, die als ſolche nothwendig eine Urfache haben 
muß. Zugleich nimmt er die ebenfalls im Intellect, d. i. im Ges 
birn, prädisponirt liegende Form des äußern Sinned zu Hülfe, 
den Raum, um jene Urfache außerhalb des Organismus zu ver: 
legen: denn dadurch erft entfteht ihm das Außerhalb, deſſen Möglidy- 
feit eben der Raum ift, fovaß die reine Anfchauung a priori bie 
Grundlage der empirifchen abgeben muß. Bei diefem Proceß nimmt 
nun der Berftand alle, felbft die minutiöfeften Data der gegebenen 
Empfindung zu Hülfe, um, ihnen entfprechend, die Urſache ber: 
felben im Raume zu conftruiren. — Demnad hat der Verſtand bie 
objective Welt erſt felbft zu fchaffen: nicht aber kann fie, fchon vor: 
her fertig, dur) die Sinne und die Deffnungen ihrer Organe, bloß 
in den Kopf Hineinfpazieren. Die Sinne nämlich liefern nichts 
weiter, al8 den rohen Stoff, welchen allererfi der Verſtand in die 





— — 


u on 


132 


fubifche Geſtalt des Koͤrpers. Braͤchte er die Vorftellung einer Ur⸗ 
face und eines Raumes, nebft den Gefegen deſſelben, nicht ſchon 
mit, fo könnte nimmermehr aus jener fucceffiven Empfindung in feiner 
Hand das Bild eines Kubus hervorgehen. 

Neugeborene Kinder empfangen zwar den Licht- und Farben- 
eindrud, allein fie apprehendiren noch nicht die Objecte und fehen fle 
daher eigentli noch nicht, fondern ſie find, die erften Wochen hins 
durch, in einem Stupor befangen, der fih alsdann erft verliert, 
wenn ihr Berftand anfängt, feine Yunction an den Datis der Sinne 
des Getaſts und Geſichts zu üben, wodurch die objective Welt all: 
mälig in ihr Bewußtfein tritt. — Seit Cheſſelden's berühmt gewor⸗ 
denem Blinden bat der Fall fich oft wiederholt und es ſich jedes mal 
beftätigt, daß biefe fpät den Gebrauch der Augen erlangenden Leute 
zwar gleih nad der Operation Licht, Barben und Umriffe fehen, 
aber noch Feine objective Anfchauung der Gegenftände haben: denn 
ihr Verſtand muß erft die Anwendung feines Caujalgefeges auf die 
ihm neuen Data und ihre Veränderungen lernen *). 

Diefe Intellectualität der Anfchauung der Außenwelt, d. h. 
ihre Bedingtheit durch den Verſtand (Eie fehen hier beiläufig, daß 
das Wort „intellectuelle Anfchauung“ bei Schopenhauer einen ganz 
andern und wahrern Sinn bat, als bei Schelling), finden Sie in 
dem citirten $. 21, aus welchem ich obige Beifpiele entlehnt habe, 
noch weiter auf Die gründlichfte und gelehrtefte Weile, geſtützt auf 
die Bhyfiologie der Sinne, namentli des Sehens, dargelegt. Es 
geht daraus aufs überzeugendfte hervor, daß das Eehen von Ob⸗ 
jecten feineöswegs eine bloße Sache der Empfindung ift, jondern daß 
Derftand dazu gehört. Verſtand gehört 3. B. dazu, daß wir das 
auf der Retina ſich verkehrt Abbildende (daS Unterſte oben) dennoch 
aufrecht ſehen. Beftände das Sehen im bloßen Empfinden, fo wür- 
den wir den Eindrud des Gegenftanded verfehrt wahrnehmen, weil 
wir ihn fo empfangen; ſodann aber würden wir ihn auch als etwas 
im Innern ded Auges Befindliches wahrnehmen, indem wir eben 
ftehen blieben bei der Empfindung. Run tritt aber der Berftund 


*) „Weber die vierfahe Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde”, 
2. Aufl., $. 21. 





4134 


tereffanten, auf geiftreiche Erperimente geflügten Artifel über Taſt⸗ 
finn und Gemeingefühl*) fagt. Weber fpricht zuerfi „über die 
Umftände, durch welche man geleitet wird, manche Empfindungen auf 
äußere Dbjecte zu beziehen” und fagt da: „Bei allen Empfindungen 
müflen wir die reine Empfindung von unferer Auslegung ver 
felben unterfcheiden. Die Empfindungen ded Hellen und Dunfeln 
und der Farben find reine Empfindungen; daß etwas Helles, Dunf- 
-(e8 und Yarbiged entweder in uns, oder im Raume vor und fei und 
eine Gehalt babe, ruhend fei oder fich bewege, ift eine Auslegung 
derfelben. Aber diefe Auslegung affociirt fich fo fehr mit der Ems; 
pfindung, daß fie von ihr unzertrennlidy ift und von und für einen 
Theil der Empfindung gehalten wird, während fie doch die Bors 
ftellung if, die wir und von der Empfindung machen.” (Schopens 
bauer jagt über diefen Bunft, die Trennung der Empfindung von 
Dem, was in der Anihauung der Intellect hinzugethan, d. h. 
von ihrer Auslegung durch den Berftand, werde uns darım fo ſchwer, 
weil wir fo fehr gewohnt find, von der Empfindung ſogleich zu ihrer 
Urſache überzugehen, daß dieſe fi und darftellt, ohue daß wir bie 
Empfindung, welche bier gleichfan die Prämiflen zu jenem Schluſſe 
des Berftandes liefert, an und für fi) beachten **). „Aber“, führt 
Weber fort, „nicht nur richtige, fondern auch faliche Auslegungen der 
Empfindungen vermifchen fih in manchen Fällen jo vollfommen mit 
ihnen, daß man fie gar nicht von ihnen fcheiden fann, auch daun, 
wenn man den Irrthum nnd die Urſache des Irrthums erfannt bat.“ 
Als ein Beijpiel folcher falfchen Auslegung führt Weber Fol: 
gendes an: „Daß die aufgehende und untergchende Sonne und Moud 
einen größern Durchmeſſer zu haben jcheinen, ald wenn beide bodh 
ı am Himmel ftehben, obgleich der Gefihtöwinfel, unter welchem wir 
| diefe Himmelsförper in beiden Faͤllen fehen, wie die Mefiung beweiſt, 
: genau derjelbe if, — dieſe Täufchung beruht auf einer faljcdyen Aut: 
- legung, die Jeder durch die Umflände genöthigt wird zu machen. 
Wir glauben unmittelbar wahrzunehmen, dag die aufgehende Sonne 





) Bergi „Wagners Handworterbuch ver Phyſiologie“, Br. 3, Abtd. 2. 
**) ‚Ueber die vierfache Wurzel dea Satzes rom zureichenden Grande“, 
3. Aufl, ©. Sa. 





436 


ftäbchen zwifchen die Zähne und betaften es mit denfelben, fo glau⸗ 
ben wir das Stäbchen zwifchen den Zähnen zu fühlen, wir meinen 
den Widerfland, den es uns leiftet, an der Oberfläche der Zähne zu 
fühlen, wo wir doch, da fle ohne Nerven ift, gar nicht empfinden 
fönnen. Wir haben aber nicht die mindefte Empfindung vom Drude 
an ber in der Zahngelle verborgenen Oberfläche der Zahnmwurzel, 
wohin fich wirklich der Druc zu der die Zahnwurzel umgebenden 
° nervenreihen Haut fortpflanzt und dafelbft auf die Nerven wirft.‘ 

Wie hier die Empfindung des Drudes durch unfer Urtheil nad 
außen verlegt wird, fo beruht, wie Weber noch ausführlich zeigt, 
auch die Erfeheinung, daß der Schall nicht im Kopfe empfunden 
wird, wo er unfere Gehörnerven erfchüttert, fondern außerhalb unfers 
Kopfes, „auf einem fehr zufammengefegten Urtheile“. Auf einem 
ähnlichen Urtheile beruht es auch, daß wir die Urſache der Gerüde 
außerhalb unfers Körperd im Raume fuchen und nicht da, wo die 
Riechſtoffe die Schleimhaut unferer Nafe berühren; fowie auch, daß 
wir die Wärmequelle der in unferer Haut empfundenen Wärme nach 
außen verlegen. - 

Durch alled Diefed, was Sie in dem bezeichneten Artikel noch 
volftändiger nachgewiefen finden, und wodurd die Schopenhauer: 
ſchen Beweife für die Intellectualität der Anfchauung beftätigt 
werden, kommt dann Weber zu dem Refultat, „daß wir durch Die 
reine Empfindung urfprünglich gar nichts über den Ort wiſſen, wo 
auf Die die Empfindung vermittelnden Nerven eingewirft wird, 
und daß alle Empfindungen urfprünglich nur unfer Bewußtfein ans 
regende Zuftände find, welche dem Grade und der Qualität nad) 
verfchieden fein fönnen, aber unmittelbar feine räumlichen Verhaͤltniſſe 
zu unferm Bewußtfein bringen, fondern nur mittelbar durch die An⸗ 
regung einer Thätigfeit unferer Seele, mittel deren wir uns bie 
Empfindungen vorftellen und in Zufammenhang bringen, und zu 
welcher wir durch eine angeborene Seelenanlage oder Seelenfraft 
angetrieben werden.” 

Sie jehen hieraus fchon, wie die Schopenhauer’fche Lehre von 
der Intellectualität der Anfchauung, d. h. von ihrem Bedingtfein 
duch den Berftand, in der Phyfiologie ihre Stüge findet, wie es 
denn überhaupt ein Borzug der Schopenhauer’ihen Philojophie if, 





u ——. 


PP u & 0 2202283 


138 

1. Die Bewegungen in den und umgebenden Körpern, die ſich 
in die Materie unferer Sinnorgane hinein fortfegen; 

2. Die Bewegungen in unfern Rervenfäden, die von jenen 
Bervegungen verurfadht werden, aber von anderer Art find; 

3. Die Beränderungen in unferm Bewußtjein, weldye durch die 
Rervenbewegungen angeregt werben und die wir Empfindungen 
nennen; 

4. Die Borftellung der Empfindungen in den Kategorien der Zeit, 


. des Raumes und der Zahl. 


— 





5. Die abſtracten Begriffe der genannten und aller andern 
Kategorien, ſowie auch die durch ihre Zuſammenſetzung entſtehenden 
Begriffe.“ 

Dieſer Brief, verehrter Freund, iſt, wie ich ſo eben bemerke, etwas 
lang ausgefallen. Aber die Natur des Gegenſtandes brachte es mit 
ſich, denſelben ausführlicher zu beſprechen. Denn Nichts fällt uns fo 
ſchwer einzufehen, Nichts Elingt uns fo paradox, ald daß die Außen 
welt unfere Borftellung, daß fie ein Product unfers Verſtandes 
fei, weil wir uns der unmittelbaren und inftindiven Thätigfeit 
defielben beim Uebergange von der innerhalb unferd Körpers liegen- 
den Empfindung als einer Wirfung zu der nad) außen verlegten 
Urfache nicht bewußt werden, fowie wir, eben wegen biefer Bewußt- 


loſigkeit über unfer eigenes Thun, im Traume alle noch fo wunder: 


lihen Begebenheiten und Erfcheinungen für objective, unabhängig 
von und und an fih beftehenve halten, und durch fie entweder er: 
freut oder erfchredt werden, obgleidh wir nach dem Erwachen eins 
fehen, daß Alles nur Himphänomen war. Daß wir Etwas, was 


unſer Product ift, nicht als ſolches wiedererfennen, fondern e8 für 
ein unabhängig von und beftehended Ding an ſich anfehen, dazu 
iſt ja eben weiter nichts erfoderlich, als daß wir uns, wie der 
' ITräumende, unferer ſubjectiven That nicht bewußt werben *). 


Sollten Sie, verehrter Freund, gegründete Einwendungen gegen 
diefen die objective Welt für bloße Vorftellung oder Gehirnphaͤno⸗ 
men erflärenden Idealismus zu machen haben, fo wird es mir fehr 





*) Bergleihen Sie hiermit, was Schopenhauer in „Die Welt als Wille und 
Vorſtellung“, I, 18-2, über die Achnlichkeit des Lebens mit dem Traume fagt. 





439 

lieb fein, diefelben zu vernehmen, und werde idy nicht verfehlen, 
diefelben alsdann gewiflenhaft zu prüfen und, falls ich fie wahr 
finde, Ihnen beizutreten, Denn ich bin keineswegs ein fo ver: 
blendeter Anhänger der Kant’fchen und Schopenhauer’fchen Lehre, 
daß mir nicht die Wahrheit mehr gelten follte, ald Kant und 
Schopenhauer, wofern fich wirklich nachweifen ließe, daß Raunı, 
Zeit und aufalität nicht blos in unfern Köpfen fpufen, fondern 
auch an ſich da draußen real vorhanden find. 


Bierzehater Brick. 


Borkant’fher Idealismus bei Maupertuis. — Kant und Herbart. — 
Kant's Achillesferſe. 


Bür Ihr letztes Schreiben, bin ich Ihnen, verehrter Freund, vielen 
Dank ſchuldig, denn Sie haben mich darin auf Mehres aufmerkffam 
gemacht, was allerdings beachtet zu werben verdient. Was zuerft 
Ihre biftorifche Rotiz betrifft, fo meinen Sie, daß die Ipealität des 
Raumes fchon vor Kant müfle befannt gewefen fein, da Boltaire 
vom Locke'ſchen Standpunfte aus, der nur Töne, Farben n. vergl. 
für ſubjective Senfationen erflärte, die Ausdehnung aber für eine 
Eigenfchaft der Dinge an ſich hielt, in feiner gegen Maupertuis 
gerichteten Schmähfchrift „Akakia’ unter Anderm fage: „Le Candidat 
(Maupertuis) se trompe quand il dit que l’&tendue n’est qu’une 
perception de notre äme. S’il fait jamais de bonnes &tudes, il 
verra que l’&tendue n’est pas comme le son et les couleurs, qui 
n’existent que dans nos sensations, comme le sait tout &colier.‘ 
Hieraus folgern Sie, daß ſchon Maupertuis den Raum oder Die 
Ausdehnung für ein fubjectives Seelenphänomen, fo gut wie bie 
Farben und Töne müſſe gehalten, daß er folglich ſchon vor Kant 
die Spealität ded Raumes müfje erkannt haben. Die Sache hat 
ihre Richtigkeit. Auch die Idealität der Zeit wurde ſchon vor 
Kant ausgefprochen, wie Sie aus den bei Schopenhauer („Parerga 
und Baralipomena”, I, 4, und II, 39) angeführten Stellen erfehen 
fönnen. Ich befite zufällig die „Lettres” von Maupertuis, welche 





142 


embarras, et meme dans des Contradictions, lorsqu’on veut rai- 
sonner sur la Nature de cette Etendu£&; lorsqu’on veut la dis- 
Llinguer ou la confondre avec l’Espace; lorsqu’on veut la pousser 
a Vinfini, ou la d&composer dans ses derniers El&mens. 

„Reflechissant donc sur ce qu'il n’y a aucune ressemblance, 
aucun rapport entre nos perceptions et les objets exterieurs, on 
conviendra que tous ces objets ne sont que de simples Phe- 
nomenes: L’Etendu& que nous avons prise pour la Base de tous 
ces Objets, pour ce qui en constitue l’Essence, l’Etendus elle 
me&me ne sera qu’un Phénomène. 

„Mais qu’est-ce qui produit ces Phenomenes? Comment sont- 
ils appergües? Dire que c’est par des parties corporelles, n’est 
rien avancer, puisque les Corps eux-m&mes ne sont que des 
Phenomenes. Il faut que nos Perceptions sofent causdes par 
quelques autres Etres, qui ayent une force ou une puissance pour 
les exciter. 

„Voila ol nous en sommes: Nous vivons dans un Monde 
oü rien de ce que nous apercevons, ne ressemble ä ce que 
nous appercevons: Des Etres inconnus excitent dans notre äme 
tous les sentimens, toutes les perceptions qu’elle &prouve; et ne 
ressemblant à aucune des choses que nous apercevons, nous 
les r&presentent toutes.‘ 

Da haben Sie Maupertuis’ ganzen Idealismus, von dem ich es 
dahingeftellt fein lafie, ob Kant aus ihm gefchöpft habe. Die Etres 
inconnus, qui excitent dans notre úme toutes les perceptions, 
find die Dinge an fich, und die perceptions, wozu nicht blos Bars 
ben, Töne, Gerüche, Getaſte, Gefchmäde, fondern aud) Ausdehnung, 
Größe, Geſtalt, Diftanz gehören, find Erfcheinungen oder Vor⸗ 
ftelungen, durch die erftern angeregt. 

Ih gehe nun zu dem zweiten Theile Ihres Briefes über. Sie 
machen nämlidy gegen den Schopenhauer’ichen Ipealismus, demzu⸗ 
folge die ganze objective Welt nur Borftellung fei, geltend, was bes 
reits Herbart in feinem „Lehrbuch zur Einleitung in die Philofophie‘‘*) 
gegen den Kunt’fhen Idealismus gefagt Habe: „Man mag Raum 


*) $. 150 der vierten Auflage, Gefammtausgabe von Hartenflein, I, 258. 





Akk 


Sinnedempfindungen für rein apofteriorifh, Raum, Zeit und Gau- 
falität hingegen für rein apriorifch zu nehmen *); während doch in 
Wahrheit in den Sinnedempfindungen, alfo in der Wahrnehmung 
von Karben, Tönen, Gerüchen, Gefhmäden, Tafteindrüden, ebenfo ein 
apriorifches, angeborenes Element durch die urjprüngliche unwan- 
delbare Beichaffenheit der Sinnesfunctionen, oder, wie e8 bie Phyſio⸗ 
logen nennen, bie fpecififchen Sinnesenergien, gegeben ift, wie umges 
fehrt in der Wahrnehmung von Räumen, Zeiten und Gaufalver- 
fnüpfungen ein apofteriorifches Element durdy die Verſchieden⸗ 
beit der Räume, Zeiten und Gaufalverfnüpfungen, die wir in der 
Wirklichkeit wahrnehmen. 

Der Gegenfag zwifchen Stoff (Materie) und Form der Erfcheinung 
oder zwifchen Apofteriorifchem und Apriorifchem ift alfo nicht fu zu ver- 
theilen, daß die Sinne nur die Materie, das Apofteriorifhe aufnähmen, 
der Verſtand dagegen nur die Form, das Apriorifche derfelben lieferte, 
jenen alfo nur Receptivität, diefem nur Spontaneität zufäme; 
fondern das ganze Gebiet der Erfenntniß zerfällt in einen apriori- 
fchen (formellen) und einen apofteriorifchen (materiellen) Theil. Es ift 
alfo ungenau, wenn Kant fagt: „Raum und Zeit find die reinen For⸗ 
men der Wahrnehmung, Empfindung überhaupt die Materie. Sene 
können wir allein a priori, d. i. vor aller wirflidden Wahrnehmung 
erfennen, und fie heißt darum reine Anfchauung; dieſe aber ift Das 
in unferem Erkenntniß, was da macht, daß fie Erfenntniß a poste- 
riori, d. i. empiriſche Anfchauung heißt. Iene hängen unferer Sinns 
lichkeit ſchlechthin nothwendig an, welcher Art auch unfere Empfindungen 
fein mögen; diefe können fehr verfchieden fein‘ **). Als ob nicht auch 
die wahrgenonmenen Räume, Zeiten und Caufalverfnüpfungen in 
der Wirklichfeit fehr verſchieden wären, welche Verſchiedenheit uns 
feineswegs nothwendig anhängt, — und als ob nicht auch anderer- 
feitö den Sinnesempfindungen, troß aller ihrer empirifchen Verſchieden⸗ 
beit, dennoch nothwendige, apriorifche, angeborene Formen, in den 


*) Bergl, die transeendentale Äſthetik, im Anfange ber „„Kritif der reinen 
Vernunft“, 1. Aufl, 

**) „Kritif der reinen Bernunft“, Ausg. von Roſenkranz, S. 49; 1. Auf: 
lage, S 24. 





446 


litätögefeg anwenden, unleugbar fubjectiv; und endlich ſogar der 
Raum, in welden wir mittels diefer Anwendung die Urfacdhe der 
Empfindung als Object verfegen, ift eine a priori gegebene, folglich 
fubjective Form unfers Intellects. Mithin bleibt die ganze empi- 
rifche Anfchauung durchweg auf fubjectivem Grund und Boden, 
als ein bloßer Vorgang in und, und nichtd von ihr gänzlich Ver⸗ 
fhiedenes, von ihr Unabhängiges, Täßt fi ald ein Ding an ſich 
hineinbringen ).“ | 

Die fehlerhafte Ableitung des Dinges an ſich nennt Schopen» 
bauer die „Achillesferſe“ der. Kant’fchen Philofophie und widerlegt 
fie noch näher im erften Theile der „Parerga und SBaralipomena” **), 
Schopenhauer zeigt dort die Unhaltbarkeit des Kaut'ſchen Arguments, 
wonad der Stoff der Erfcheinungswelt, da er keineswegs aus den 
apriorifchen Formen der Erfcheinung abzuleiten ift, vielmehr nad) 
Abzug derfelben als ein zweites, vollig diſtinctes, dabei aber doch 
feineöwegs von der Willfür des erfennenden Subjects abhaͤngiges 
Element übrig bleibt — dem Dinge an fich felbft zuzufchreiben, mits 
hin ganz als von außen kommend anzujehen fei. Gehen wir, fagt 
Schopenhauer hingegen, dem Stoff der empirifchen Erfenntniß bis 
zu feinem Urfprunge nad, fo finden wir dieſen nirgends anders, 
als in unferer Sinnesempfindung: denn eine auf der Rep 
haut des Auges, oder im Gehörnerven, oder in den Fingerfpigen 
eintretende Veränderung iſt e8, welche die anſchauliche Vorſtellung 
einleitet, d. b. den ganzen Apparat unferer a priori bereit liegenden 
Erfenntnißformen zuerft in dasjenige Spiel verfegt, deſſen Refultat 
die Wahrnehmung eines äußerlichen Object ift. Auf jene empfundene 
Veränderung im Sinnedorgane nämlich wird zunächft, mittels einer 
nothwendigen und unausbleiblichen Verftandesfuncdion a priori, das 
Geſetz der Baufalität angewandt: dieſes leitet mit feiner aprio- 
riihen Sicherheit und Gewißheit, auf eine Urfache jener Bers 
änderung, welde, da fie nicht in der Willfür des Subjects fteht, 
jett als ein ihm Aeußerliches ſich darftellt, eine Eigenfchaft, die ihre 


) Kritif der Kant'ſchen Bhilofophie im Anhang zum erften Band von „Die 
Welt ale Wille und Vorſtellung“, S. 490. 


) „Gtläuterungen zur Kant'ſchen Philoſophie“, S. 85 fg. 


447 


Bedeutung erft erhält mittel der Form des Raumes, welde Iehtere 
aber ebenfalls der eigene Intellect zu dieſem Behufe alsbald Hinzu- 
fügt, wodurch nun alfo jene nothwendig vorauszufegende Urfache 
ſich fofort anſchaulich darftellt, ald8 ein Dbject im Raume, welches 
die von ihr in unfern Sinnedorganen bewirkten Veränderungen als 
feine Eigenfhaften an fih trägt”). 

Auf die Weife, wie Kant es that, läßt fi alfo dad Ding an 
fh nicht einführen. Die Annahme, daß der empirifche, nicht in 
unferer Willfür ſtehende und uns nicht angeborene Stoff der Vor⸗ 
ftellungen von einem Ding an ſich als Urfache deſſelben herrühren 
müfle — oder wie Maupertuis fagt, von Etres inconnus, qui 
excitent dans notre äme les perceptions —, fommt nur durch An- 
wendung des Cauſalgeſetzes zu Stande, folglih iſt das ald Urfache 
des apofteriorifchen Theiles unferer Erfenntnig angenommene Ding 
an fi ja nur unfere Vorſtellung. Wir fellen uns nämlich zu 
dem Wahrgenommenen noch eine von und unabhängige Außere 
Urſache ald PVeranlafferin defielben vor. Diefe Ableitung des Dinges 
an fi bringt uns alfo nicht über das Gebiet der Welt ald Bors 
ftellung hinaus, und Schopenhauer bat folglich Recht, daß dem Ding 
an fi) auf dem Wege der Borftellung nimmermehr beizufommen fei**). 


) a. a. O. 
25) Die Welt als Wille und Vorſtellung“, Bd. 2, Gap. 1, zur idealiſtiſchen 
Grundanſicht. 


- 


10* 


_ Funfzehnter Brief. 

Schopenhauer’ 8 Weg ind Innere der Natur. — Der Wille — 

Warnung vor Verwechſelung des Willens mit ver Willkür. — Iden⸗ 

tität des Willens auf allen Stufen feiner Erſcheinung. — Argumentum 

ad oculos. — Grundzug der Schopenhauer’fhen Lehre. — Verhältniß 
des Intellects zum Willen. 


Sie ſind, verehrter Freund, in Folge meines letzten Schreibens, wie 
Sie ſagen, ſehr geſpannt auf die Art, wie Schopenhauer zur Er- 
fenntniß des Dinges an ſich gelange, nachdem er die Kant'ſche Ab⸗ 
leitung beflelben verworfen habe. Sie erflären fi für überzeugt, 
daß man auf dem Wege der Vorftellung und dur Anwendung 
ihrer apriorifhen Formen durchaus nicht über die vorgeftellte 
Welt hinaus zu dem an fi Realen, d. 5. zu dem von der vor- 
ftellenden Ihätigfeit des Subject unabhängigen Wejen der Dinge 
gelangen Fönne. Aber Sie möchten eben darum nun audy gem 
wiflen, welchen andern Weg, als den der VBorftelung, Schopenhauer 
denn habe? 

Hören Sie daher nun 1 Schopenhauers Aeußerungen bierüber. 
Die nachgeforfchte Bedeutung der mir lediglich als meine Vorftellung 
gegenüberftehenden Welt, fügt er, ober der Uebergang von ihr, ale 
bloßer Borftelung des erfennenven Subjects, zu Dem, was fie noch 
außerdem fein mag, würde nimmermehr zu finden fein, wenn der 
Forſcher ſelbſt nichtd weiter ale das rein erfennenre Subject (ges 
flügelter Engelskopf ohne Leib) wäre. Run aber wurzelt er ſelbſt 
in jener Welt, findet ſich nämlich in ihr als Indiriduum, d. h. 





a nn m 


930 

der Borftellung ausgehend, jagt Schopenhauer, wird mam nie über 
vie Borflellung, D. i. Die Ericheinung, hinaus gelangen, wird affe 
bei der Außenſeite der Tinge fliehen bleiben, nie aber im ihr. Sumeres 
dringen und erforſchen fünnen, was ite am fich jelbit, d. h. für füdh 
jelbit jein mögen. So weir jiimme ich mit Kant überein. Sun 
aber habe ich, ald Gegengewicht dieſer Wahrheit, jene andere herver⸗ 
gehoben, dag wir nicht blos Das erfennende Subject find, few 
dern andererfeits auch ſelb ſt zu den zu erfennenden Weſen gehören, 
rel6ft Bas Ding an fi find; dag mithin zu jenem jelbilsecigemen 
and innern Weſen der Tinge, bis zu weldem wir von 'aufen 
nicht dringen können, und ein Weg von innen offen ftcht, gleichſam 
ein unterirdiſchet Gang, eine geheime Bearbintung, Vie und, wie 
durch Verrath, mit Einem male in die Feſtung verſegt, welche durch 
Angriff von außen zn nehmen unmögli war. Das Ding an 
fi lann, eben als folches, nur ganz unmittelbar ins Bewußtſein 
fommen, nämlich dadurch, daß es jelbft fich jeiner bewupt wird: 
e6 objectto erfennen wollen, heist etwas Widerjprechendes verlangen. 
Alles Objective ik Borfiellung, mithin Erſcheinung, ja bloßes Gehirn⸗ 
phaͤnomen ”). 

Da nun bie Erfenntniß, die Jever von feinem eigenen Wollen 
hat, eine folhe unmittelbare, intime iR, jo betrachtet Schopen- 
hauer unfer Wollen als die einzige Gelegenheit, die wir haben, 

irgend einen fi äußerlich darſtellenden Borgang zugleich) aus feinem 
ı Innern zu verftehen. Hier liegt ihm aljo das Datum, welches 
allein tauglich iſt, der Schlüffel zu allem Andern zu werben, ober 
bie einzig enge Pforte zur Wahrheit. Demzufolge, fagt er, müſſen 
wir die Natur verflehen lernen aus uns felbft, nicht umgefehrt ung 
felbR aus der Natur. Das uns unmittelbar Bekannte muß uns 
bie Auolegung zu dem nur mittelbar Bekannten geben; nicht 
umgelehrt. Verſteht man etwa dad Fortrollen einer Kugel auf ers 
haltenen Stoß gründlicher, als feine eigene Bewegung auf ein wahr: 
nenommenee Motiv? Mander mag ed wähnen: aber es iſt umge⸗ 
fehrt **), Die unmittelbare Erkenntniß, welche Jever vom Wefen 


*) „Die Welt ale Wille und Worſtellung“, II, 198 fg. 
°.) a. a. D. 





152 


nr — 


| firacten Motiven, alfo unter Leitung der Vernunft fih Außernden 


| 


auf alle ſchwaͤchern undeutlihern Erfcheinungen defielben Weſens 


Willen verftehen wollte, welcher nur die beutlichfte Erfcheinung des 
Willens if. Das und unmittelbar befannte innerfte Weſen eben 
diefer Erfcheinung müflen wir in Gedanfen rein ausfondern, ed dann 


übertragen, wodurch wir bie verlangte Erweiterung des Begriffe 
Mille vollziehen. — Bisher, fagt Schopenhauer, fubfifmirte man 
den Begriff Wille unter den Begriff Kraft: dagegen mache ich es 
gerade umgekehrt und will jede Kraft in der Natur ale Wille ge 
dacht wiffen. Man glaube ja nicht, daß Died Wortftreit oder gleich- 
gültig fei: ‚vielmehr iſt es von der allerhöchften Beveutfamfeit und 
Wichtigkeit. Denn dem Begriff Kraft liegt, wie allen andern, zuleßt 
die anfchauliche Erfenntniß der objectiven Welt, d. h. die Erfcheinung, 
die Vorftellung, zum Grunde. Er ift aus dem Gebiet abftrahirt, wo 
Urfache und Wirkung herrſcht, alſo aus der anfchaulichen Vorftellung, 
und beveutet eben das Urfachfein der Urfache, auf dem PBunfte, wo 
es Atiologifh durchaus nicht weiter erflärlich, fondern eben die noth⸗ 
wendige Vorausfegung aller ätiologifchen Erklärung ft. Hingegen 
der Begriff Wille ift der einzige, unter allen möglichen, der feinen 
Urfprung nicht aus der Erfcheinung, nit aus bloßer anfchaulicher 
Borftelung hat, fondern aus dem unmittelbarften Bewußtfein eines 
Jeden, in welchem biefer fein eigenes Individuum, feinem Wefen 
nach, unmittelbar erfennt. Führen wir daher den Begriff der Kraft 
auf den des Willens zurüd, fo haben wir in der That ein Linbe- 
kanntes auf ein unendlich Belannteres, ja auf das einzige uns 
wirflih unmittelbar und ganz und gar Bekannte zurücdgeführt und 
unfere Erfenntniß um ein fehr großes erweitert. Subfuniren wir 
bingegen, wie bisher geſchah, den Begriff Wille unter den ber 
Kraft, fo begeben wir uns der einzigen unmittelbaren Erfenntniß, 
bie wir vom innern Wefen der Welt haben, indem wir fie unters 
gehen laffen in einen aus der Erfeheinung abftrahirten Begriff, mit 
welchem wir daher nie über die Erfcheinung hinaus können ®). 
Diefen Grundgevanfen Schopenhauer’8 hatte ich, verehrter 
Freund, längft aus feinen Schriften kennen gelernt, ehe ich feine 


*) „Die Welt als Wille und Borftellung”, Bd. 1, $. 22. 


R 154 

des Willens oder, wie Schopenhauer es nennt, zu feinen verſchiedenen 
„Objectivationsſtufen“. An ſich aber und ihrem inneren Wefen 
nach, find fie alle identiſch. — Wer, jagt Schopenhauer, die Ueber: 
jeugung gewonnen hat, daß das Weſen an ſich feiner eigenen Er⸗ 
ſcheinung, welche als Borftelung fi) ihm fowol durd feine Haud⸗ 
(ungen, als durch das bleibende Subftrat diefer, feinen Leib,” darſtellt 
fein Wille if, der das Unmittelbarfte feines Bewußtſeins ausmacht, 
— dem wird diefe Ueberzgeugung ganz von felbR der Schlüſſel 
werden zur Erfenntmniß des innerften Weſens der gefammten Natur, 
indem er fie nun auch auf alle jene Erfcheinungen überträgt, bie 
ihm nicht, wie feine eigene, in unmittelbarer Erfenntniß neben ber 
mittelbaren, fondern blos in legterer, alfo blo8 eiufeitig, als Bors 
ſtellung allein, ‘gegeben find. Nicht allein in denjenigen Erſchei⸗ 
nungen, welche feiner eigenen ganz ähnlich find, in Menfchen und 
Thieren, wird er als ihr innerſtes Wefen jenen naͤmlichen Willen 
anerfennen, fondern die fortgefegte Reflerion wird ihn dahin leiten, 
auch die Kraft, welche in der Pflanze treibt und vegetirt, ja die 
Kraft, durch welche der Kryftall anfchießt, die, weldye den Magnet 
zum Nordpol wendet, die, deren Schlag ihm aus der Berührung 
heterogener Metalle entgegenfährt, die, welche in ven Wahlverwanbt- 
fhaften der Stoffe als Fliehen und Suchen, Trennen und Bereinen 
erfcheint, ja zulebt fogar die Schwere, weldye in aller Materie fo 
gewaltig ftrebt, den Stein zur Erde und die Erde zur Sonne zieht, 
— biefe alle nur in der Erfcheinung für verfchieden, ihrem innern 
Weſen nad aber als Dafielde zu erkennen, als jenes ihm un⸗ 
mittelbar und fo wohl und befler als alles Andere Bekannte, was 
da, wo es fih am vollfommenften manifeftirt, Wille heißt. Er iR 
das Innerfte, der Kern jedes Einzelnen und ebenfo des Ganzen: er 
erfheint in jeder blindwirfenden Raturkraft: er auch ericheint im 
überlegten Handeln des Menfchen; welcher beiden große Verfchieden- 
heit doch nur den Grad des Erfcheinens, nicht das Wefen des Ers 
ſcheinenden trifft *). " 

. Die Erfenntniß der wefentlichen Identität des Willens auf allen 
Stufen feiner Erfheinung wird nur Dem jchwer, der den Willen 


*) „Die Welt ale Wille und Borftellung”, Bo. 1, 8. 21. 





456 


gehen. Dieſes find die Urfahen im engern Sinne und bie 
Reize”). 

Diefe werde ih Ihnen in meinem nächften Briefe kurz ent 
wideln, und Sie werden dadurch die Ueberzeugung gewinnen, baß 
alle Verfchiedenheit der Raturftufen oder Raturreiche nicht den Kern 
oder dad Wejen an fich der Ratur trifft, fondern nur die Er- 
fheinungsweife derfelben. Die Natur ift auf allen Stufen ihrem 
Weſen nad Wille; doch auf den verfchievenen Erfcheinungs» oder 
Dbjectivationsftufen wird diefer eine und derjelbe Wille durch vers 
fhiedene Arten von Urſachen in Bewegung gejebt. 


®) „Ueber den Willen in der Natur“, ©. 97 fg. 


Schhjehnter Brief. 


Die drei Arten von willenbewegenven Urfachen. — Unterſchied ver unor: 
ganifhen Natur, des Pflanzen: und des Thierreihd. — Fortſchritt Scho— 
penhauer’3 über Kant hinaus, 


— — — — 


Sie wiffen, daß man Die ganze Natur in bie unorganifche oder 
leblofe und in die organifche oder belebte eintheilt, und daß Die 
fegtere wiederum in das Pflanzen- und Thierreich zerfaͤllt. Obgleich 
nun das eigentliche innerfte Weſen der unorganifchen, wie der orga⸗ 
nifirten Körper und innerhalb der lestern wiederum der Pflanzen, 
wie der Thiere, nah Schopenhauer Wille ift, fo entipricht doch 
dem dreifachen Unterfchied von unorganifchen Körpern, Pflanzen und 
Thieren eine dreifache Art von Caufalität oder von willenbewegenden 
Urfachen in der Erſcheinungswelt. 

Die Urfache im_engften Sinne des Worts ift die, nad) welder 
ausſchließlich die Beränderungen im unorganifchen Reiche erfolgen, 
alfo diejenigen Wirfungen, welche das Thema der Mechanik, Phnfif 
und Chemie find. Bon ihr allein gilt das dritte Newton’fche Grund⸗ 
geſetz „Wirkung und Gegenwirkung find einander gleich”: es befagt, 
daß der vorhergehende Zuftand (die Urfache) eine Veränderung er- 
fährt, die an Größe der gleihfommt, die er hervorgerufen hat (ber 
Wirkung). Ferner it nur bei diefer Form der Eaufalität der Grad 
der Wirfung dem Grade der Urſache ſtets genau angemeflen, fodaß 
aus dieſer jene fich berechnen läßt und umgefehrt. 

Die zweite Art der Caufalität ift der Reiz: fie, beherriht dag 
Leben der Pflanzen und den vegetativen, d. 5. bewußtlojen Theil des 
a FIN 9 in 


4858 


thierifchen Lebens, der ja eben ein Pflangenleben ift. Diefe Art der 
Gaufalität charakteriſirt fih durch Abwefenheit der Merkmale ver 
erften Art. Alfo find bier Wirkung und Oegenwirfung einander 
nicht glei, und keineswegs folgt die Intenfität der Wirkung durch 
alle Grabe der Intenfität der Urfache: vielmehr Fann durch Ber- 
ftärfung der lirfache die Wirkung fogar in ihr Gegentheil umjchlagen. 

Endlich die dritte Art der Caufalität ift dad Motiv. Diefes 
beherrfcht das eigentlich animalifche Leben, d. b. die mit Bewußts 
fein gefchehenden Actionen der thieriſchen Weſen. Das Medium 
der Motive ift die Erfenntniß: die Empfänglichfeit für fie erfobert 
folglich einen Intellect. Daher ift das wahre Charafteriftifon des 
Thiered das Erkennen, das Borftelen. Dit der Erfenntniß fehlt 
nothwendig auch die Bewegung auf Motive und bleibt nur die auf 
Reize (im vegetativen Leben) und auf Urfachen im engften Sinne 
des Worts (im unorganifchen Reich) übrig. So wie die Wirfunges 
art der Reize jehr verfchieden Ift von ber der Urfachen, fo ift wiederum 
die Wirfungsart der Motive fehr verſchieden von ber ber Reize. 
Die Einwirkung eined Motivs kann nämlich fehr kurz, ja fie braucht 
nur momentan zu fein: denn ihre Wirffamfeit hat nicht, wie bie 
eined Reized, irgend ein Verhältniß zu ihrer Dauer, zur Nähe des 
Gegenftandes u. dergl. ım., fondern das Motiv braucht nur wahr- 
genommen zu fein, um zu wirfen; während der Reiz ſtets des 
Eontacts, oft gar der Intusfusception, allemal aber einer gewifien 
Dauer bedarf”). 

In allen Körpern, fie mögen nun ald unorganifhe auf Urfachen 
(im engften Sinne des Worts), wie Stoß, Drud, Anziehung, fi 
bewegen, oder als Pflanzen auf Reize, wie Luft, Licht, Wärme, 
Nahrung, oder endlih als Thiere auf Motive, d. 5. auf wahrs 
genommene oder gedachte Gegenftände (die Motive zerfallen nämlich 
in die anjchaulichen und begrifflihen) — in allen if, wie Schopen⸗ 
bauer lehrt, das Wefen, der Kern ihrer Erfcheinung der Wille, 
und die Verſchiedenheit der einwirfenden Urfachen, ob dieſe nämlich 


*) „Weber die vierfache Wurzel des Saßes vom zureichenden Grunde‘, 2. Aufl., 
©. 45—47. NYusführlicher noh in ‚Die beiden Grundprobleme der Ethif‘‘, 
©. 0 fg. 


459 


ee 
Folge des Grades der Empfänglichfeit des zu ereitirenden Willens, 
Je größer diefe, deſto leichterer Art kaun die Einwirkung fein: der 
— muß geſtoßen werden; der Menſch gehorcht einem Blick *). 
Die geringere Empfänglichfeit des Willens im Steine als in 
ve Dia, um m der Pflanze als im Thiere, erflärt Schopen- 
bauer folgendermaßen: Erinnern wir uns, — 
Thleren das Erfenntnigvermögen, wie jedes andere Organ, nur 
Behufs ihrer Erhaltung eingetreten ift und daher in genauem und 
unzählige Stufen qulaffendem Verhältniß zu den Bedürfniffen jeder 
Thierart ſteht ); dann werden wir begreifen, daß die Pflanze, da 
fie fo fehr viel weniger Bedürfniſſe Hat, als das Thier, endlich gar 
feiner Erfenntnig mehr bedarf. Auf der niedrigern Stufe der Pflan- 
zenwelt, wie auch des vegetativen Lebens im thierijchen Organismus, 
vertritt als Bejtimmungsmittel der einzelnen Aeußerungen des Willens 
amd als das Vermittelnde zwifchen der Außenwelt und den Ber 
änderungen eines ſolchen Wefens, Neiz und zuletzt im Unorganifchen 
vhyfiſche Einwirkuug überhaupt, die Stelle der Grfenntniß und flellt 
ſich als ein Surrogat der Erkenntniß, mithin als ein ihr blos Ana— 
loges dar. Wir fönnen nicht fügen, daß die Pflanzen Licht und 
Sonne eigentlich wahrnehmen: allein wir fehen, daß fie die Gegen- 
wart oder Abwefenheit derfelben verſchiedentlich fpüren, daß fie ſich 
mad; ihnen neigen und wenden, und daß die Richtung ihres Wach 
ſens durch das Licht ebenfo wie eine Handlung durch ein Motiv 
beftimmt und planmäßig modificirt wird, desgleichen bei den ranfens 
den Pflanzen durch die vorgefundene Stüge, 
deren Ort und Geftalt. Weil alfo die Pflanze doch überhaupt Ber 
bürfniffe hat, wenngleich nicht foldhe, die den Aufwand eines Sen- 
foriums und Intellects erfodern, fo muß etwas Analoges am bie 
Stelle treten, um den Wilfen in den Stand zu ſehen, wenigftens 
Die ſich ihm darbietende Befriedigung zu ergreifen, wenn auch nicht 
fie aufjufuchen. Diefes nun ift die Empfänglichfeit für Reiz, deren 


)a0.D. 
=) Diefes hat Schopenhauer näher nachgewieſen in feiner Abhanplung Vom 
Willen in ber Natur”, unter der Nubrif „Vergleichende Anatomie”, 


460 


Unterfchied von der Erfenntniß darin befteht, daß bei der Erfenntniß 
das als Vorftelung fich darftellende Motiv und der darauf erfolgende 
Willensart deutlich von einander gefondert bleiben und zwar 
um fo deutlicher, je vollfommener der Intellect ift; — bei der bloßen 
Empfänglichfeit für Reiz hingegen dad Empfinden des Reizes von 
dem dadurch veranlaßten Wollen nicht mehr zu unterfcheiden ift und 
‚beide in Eins verſchmelzen. Endlich in der unorganifhen Natur 
hört auch die Empfänglichfeit für Reiz auf, deren Analogie mit ber 
Erfenntnig nicht zu verfennen ift: es bleibt jedoch verfchiedenartige 
Reaction jedes Körperd auf verichiedenartige Einwirkung : dieſe 
ftelt fi nun, für den von oben herabfchreitenden Gang unferer Be: 
trachtung, auch Hier noch als Surrogat der Erfenntniß dar. Reagirt 
der Körper verfchieven; fo muß auch die Einwirfung verfchieden fein 
und eine verfchiedene Affection in ihm hervorrufen, die, in aller ihrer 
Dumpfheit, doch noch entfernte Analogie mit der Erfenntniß hat. 
Wenn alfo 3. B. eingefchloffenes Waſſer endlich einen Durchbruch 
findet, den e8 begierig benust, tumultuariſch dahin fi drängen, 
fo erfennt es ihn allerdings nicht, fo wenig als die Säure das hin- 
zugetretene Alkali, für welches fie das Metall fahren läßt, wahr: 
nimmt, oder die Papierflode den geriebenen Bernftein, zu welchem 
fie fpringt; aber dennoch müflen wir eingeftehen, daß Das, was in 
allen diefen Körpern fo plögliche Veränderungen veranlaßt, noch 
immer eine gewiſſe Achnlichkeit haben muß mit Dem, was in uns 
vorgeht, wenn ein unerwarteted Motiv eintritt. Was für. Thier 
und Menfch die Erfenntnig ald Medium der Motive leiftet, daffelbe 
leiftet den Pflanzen die Empfänglichkeit für- Reiz, den unorganifchen 
Körpern die für Urfachen jeder Art, und genau ‘genommen ift Das 
Alles blos dem Grade nad) verfhieden. Denn ganz allein in Bolge 
davon, daß beim Thier, nad) Maßgabe feiner Bedürftigfeit, die 
Empfänglichkeit für aͤußere Eindrüde fich gefleigert hat bis dahin, 
wo zu ihrem Behuf ein Nervenfoftem und Gehirn ſich entwideln 
muß, entfteht, als eine Yunction dieſes Gehirns, das Bewußtſein 
und in ihm bie objective Welt, deren Formen, Zeit, Raum, Caufa- 
lität die Art find, wie dieſe Function vollzogen wird. Wir finden 
alfo die Erfenntniß urfprünglicd ganz auf das Subjective berechnet, 
blos zum Dienfte des Willens beftimmt, folglich ganz fecundärer und 





Durch diefe Ableitung des Intellects aber fam Schopenhauer 
nicht blo8 zu dem Kant'ſchen Refultate, daß der Intellect auf bloße 
Erſcheinungen befchränft ift, fondern er zeigte dazu auch noch den 
eigentlichen und legten Grund, warum er auf bloße Erfcheinungen 
befchränft fein muß. Wir haben, fagt Schopenhauer, im Zus 
fammenhange der Natur das Erfenntnißvermögen ald ein Be 
dingted gefunden, deſſen Ausſagen eben deshalb Feine unbedingte 
Gültigkeit haben Fönnen. Nach dem Studium der Kritif der reinen 
Bernunft, welcher unfer objertiver Standpunft wefentlidy fremd ift, muß 
e8 Dem, der fie verflanden hat, doch noch vorfommen, ald habe Die 
Natur den Intellect abfihtli zu einem Vexirſpiegel beftimmt und 
fpiele Verfted mit und, Wir aber find jest auf unferm realiftifch- 
objectiven Wege, d. b. ausgehend von ber objectiven Welt ald dem 
Gegebenen, zu demfelben Refultat gelangt, welches Kant auf dem 
idealiſtiſch⸗ſubjectiven Wege, d. 5. durch Betrachtung des Jutellects 
felbft, wie er das Bewußtſein conftituirt, erhielt: und da hat fi 
ergeben, daß die Welt als Borftelung auf der ſchmalen Linie 
fhwebt zwifchen der Außern Urſache (Motiv) und ber hervorges 
rufenen Wirkung (Willensact) bei erfennenden (tbieriichen) Weſen, 
als bei welchen das deutliche Wuseinandertreten beider erft anfängt. 


Thiere es if, was ben Intellect überhaupt, als ben Ort oder das Mebium der 
Motive hervorbringt, fo if auch wiederum innerhalb tes Thierreichs tie Steige: 
rung ber Bebürfniffe der Grund, warum die höhern Thirre einen vellflommnern 
Jutellect (fihtbar werdend in dem entwideltern Gehirn) ale vie niedern baben. 
Je complicirter nämlich, durch höhere Entwidelung, tie Organiſation der Thiere 
wonrde, deſto mannichfaltiger und fpecieller beftimmt murten auch ibre Bedürfniſſe, 
folglich deſto fihwieriger und von ber Gelegenheit abbingiger tie Herbeiſchaffung 
des ſie Befriedigenden. Da bedurfte es alfo eines weitern Geſichtekreiſes, eimer 
genauern Anffafung, einer richtigern Unterſcheidung der Dinge in ter Aufenwelt, 
in allen ihren Umfänden und Bezichungen. Demgemäß ichen wir tie Ber: 
Rellangefräfte wat ihre Organe, Gehirn, Nerven, Einneswerfzeuge, immer voll: 
fommener bervortreten, je bößer wir in der Etwienleiter der Thiere animirte 
geben: and in tem Maße, wie das Gerebralfpiiem ſich entwidelt, üclle ch vie 
Anpramwelt immer deutlicher. vielſeitiger, volllemmener im Bernstein var *). 


ie Belt alt Mile unt Berkclluny. IL 28 i5 Bearyl . Uchr in Billen a 
ver Her“, SM ip. 


163 


Ita res accendunt lumina rebus. Ürft durdy dieſes Erreichen auf 
zwei ganz entgegengefebten Wegen erhält das große von Kant 
erlangte Refultat feine volle ‘Deutlichfeit, und fein ganzer Einn 
wird flar, indem es fo von zwei Seiten beleuchtet erfcheint *). 


*) „Weber den Willen in ver Natur‘, ©. 75fg. „Die Welt als Wille und 
Borftellung‘‘, II, 371 fg. 


11* 


Siebzehnter Brief. 


Schopenhauer’8 vierfadhe Wurzel de8 Satzes vom zureihenden Grunde. — 

Verhältniß der drei Arten von Urfahen zur vierfahen Wurzel — 

Eintheilung der Wiffenfhaften nah dem Satz vom Grunde. — Zeit: 

verhältniß zwifchen Grund und Folge. — Die vierfadhe Nothwendigkeit. 

— Falſche Abgrenzung des Gebieted der Freiheit von dem der Notb- 

wendigkeit. — Schopenhauer als Antipode des Anaragora® und der 
fpeculativen Theologie. 


Si. fragen mich, verehrter Freund, in welchem Verhältniß denn die 
in meinem vorigen Briefe Ihnen dargelegten drei Urfachen, nämlid) 
bie Urfachen im engften Sinne des Worts (die mecdhanifchen), die 
Reize und die Motive, zu der vierfahen Wurzel des Subes vom 
zureihenden Grunde, über die Schopenhauer eine befondere Abhand- 
lung gefchrieben, ſtehen. Run, um es Ihnen nur mit kurzen Worten 
zu fagen, jene drei Urfachen bilden zufammengenommen nur eine Ge- 
ftalt des Satzes vom zureichenden Grunde, nämlich die, welche das 
Werden oder die Beränderung beherrſcht (principium rationis 
sufficientis fiendi). Außer diefer Geftalt hat aber der Sag vom 
Orunde, wie Sie bald fehen werben, noch andere. 

Bor Schopenhauer unterfchieb man bereits, obgleich nicht ohne 
häufige Berwechölungen, zwei Anwendungen des Sapes vom zu⸗ 
reichenden Grunde: die eine auf Urtheile, die, um wahr zu ſein, 
immer einen Grund (Erkenntnißgrund) haben müſſen; die andere auf 
Beränderungen realer Objecte, bie immer eine Urſache (Grund 


165 


des Werdens) haben müffen. Erſt Schopenhauer hat zu diefen beir 
den Elaffen nod eine neue dritte hinzu entdeckt, indem ex gezeigt, 
daß in jenen beiben nicht alle Fälle begriffen find, in denen wir 
nad) einem Grunde oder, was Daffelde ift, in denen wir Warum 


Ben ich, fagt Schopenhauer, frage: Warum find in biefem 
Triangel die drei Seiten glei)? fo ift die Antwort: weil Die drei 
Winfel gleich, find. Iſt nun die Gleichheit der Winkel Urſache der 
Gleichheit der Seiten? Nein, denn hier ift von Feiner Veränderung, 
alfo von feiner Wirfung, die eine Urſache haben müßte, die Rede, 
IR fie blos Erlenntnißgrund? Nein, denn die Gleichheit der Winkel 
iſt nicht blos Beweis der Gleihheit der Seiten, nicht blos Grund 
eines Urtheils: aus bloßen Begriffen ift ja nimmermehr einzufehen, 
daß, weil die Winfel gleich find, auch die Seiten gleich fein müffen: 
denn im Begriff von Gleichheit der Winkel liegt nicht der von Gleich⸗ 
beit der Seiten. Es ift hier alfo Feine Verbindung zwiſchen Be— 
geiffen oder Urtheilen, fondern zwifchen Seiten und Winkeln. Die 
Gleichheit der Winfel it nit unmittelbar Grund zur Erkennt— 
niß der Gleichheit der Seiten, fondern nur mittelbar, indem fie 
Grund des So-feins, hier des Gfeichfeins der Seiten ift: darum 
daß die Winfel gleich find, müffen die Seiten gleich fein, Es findet 
fi) hier eine nothwendige Verbindung zwifchen Winfeln und Seiten, 
nicht unmittelbar eine nothwendige Verbindung zweier Urtheile. — 
Oder wieberum, wenn ich frage, warum zwar infectn facta, aber 
nimmermehr facta infecta fieri possunt, aljo warum denn eigentlich) 
die Vergangenheit ſchlechthin unwiederbringlich, die Zufunft unaus- 
bleiblich feiz fo läßt fid) dies auch nicht vein logiſch, mittels blofer 
Begriffe, datthun. Und ebenfowenig ift es Sade der Caufalität, 
da biefe nur Die Begebenheiten in der Zeit, nicht dieſe ſelbſt ber 
berrjcht. Aber nicht durch Gaufalität, fondern unmittelbar durch ihr 
bloßes Dafein felbft, defien Eintritt jedoch unausbleiblid war, hat 
die jegige Stunde die verflofiene in den bodenlofen Abgrund ber 
Vergangenheit geftürgt und auf ewig zu Nichts gemacht. Dies 
laßt ſich aus bloßen Begriffen nicht verftchen, noch durch fie ver- 

‚ fondern wir erfennen es ganz unmittelbar und intuitiv, 
eben wie den Unterſchied zwiſchen Rechts und Links und was von 


| 


466 


diefem abhängt, 3. B. daß ber linke Handſchuh nicht zur rechten 
Hand paßt”). 

Da nun alfo nicht alle Fälle, in denen der Sag vom zureichen- 
den Grunde Anwendung findet, fi) zurüdführen laffen auf logiſchen 
Grund und Folge (Erfenntnißgrund) und auf Urſache und Wirkung 
(Grund des Werdens oder der Veränderung), fo war die frühere 
Eintheilung in das principium rationis sufficientis cognoscendi und 
fiendi unvolftändig. Es fommt zum Erfenntnißgrund und zum 
MWerdensgrund, als dritte Claſſe, noch der Seinsgrund Hinzu, 
der die Mathematif beherrfcht (principium rationis sufficientis es- 
sendi), Raum und Zeit haben nämlich die Beichaffenheit, daß alle 
ihre Theile in einem Verhaͤltniß zu einander ftehen, in Hinficht auf 
welches jeder derfelben durch einen andern beftimmt und bebingt if. 
Im Raum heißt diefes Verhältniß Lage, in der Zeit Folge. Diefe 
. Berhältniffe find eigenthümliche, von allen andern möglichen Verhält⸗ 
niffen unferer Vorftellungen durchaus verfchiedene, daher weder der 
Derftand, noch die Vernunft, mittel8 bloßer Begriffe, fie zu faflen 
vermag; fondern einzig und allein vermöge der reinen Anfchauung 
a priori find fie und verftänplich: denn was Oben und Unten, Rechts 
und Linfs, Hinten und Born, was Vor und Rad) fei, ift aus bloßen 
Begriffen nicht deutlich zu machen. Sant belegt died fehr richtig 
damit, daß der Unterſchied zwifchen dem rechten und linken Hand» 
ſchuh durchaus nicht anders als mitteld der Anfchauung verftändlich 
zu machen ift **). 

Schopenhauer nennt den die räumliche Lage, und die zeitliche Folge 
beherrfchenden Grund den Seinsgrund, weil in dem Rebeneinander- 
und NacheinandersSein der Theile des Raumes und der Zeit jeder 
Theil durch den andern genau fo beftimmt ift, wie er es if. Die nähere 
Ausführung davon müflen Sie ſelbſt 6. 37—40 der Abhandlung 
„Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“ 
nachlefen. Auf dem Rerus der Theile der Zeit beruht alles Zählen, 
alfo die ganze Arithmetif. Auf dem Nerus der Lage der Theile 


) „Weber bie vierfahe Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde”, 
2. Aufl., $. 15. 
**) „Ueber bie vierfadge Wurzel bes Satzes vom zureichenden Grunde‘, $. 36. 


. 467 


des Raumes beruht die ganze Geometrie, für die übrigens Schopen- 
bauer eine richtigere, dem Seinsgrund angemefienere Methode, als 
die Euflivifche, angegeben hat *), die aud) bereits von einem gegen- 
"wärtig lebenden Mathematiker, Namens Koſack, acceptirt und. in 
Anwendung gebracht worden ift **). (Kofat ift mathematiſcher Lehrer 
am Gymnafium zu Nordhaufen und hat in dem zur öffentlichen Prüs 
fung am 5. und 6. April 1852 einladenden Programm „Beiträge 
zu einer foftematifchen Entwickelung der Geometrie aus der An 
ſchauung“ mit einer Bigurentafel geliefert, worin er, geftügt auf die 
Schopenhauer ſche Lehre vom Seinsgrund, die ebene Geometrie 
Planimetriel in fünf Abſchnitten aus der Anfchanung entwidelt.) 
Nun fügt Schopenhauer zwar zu den angegebenen drei Geftalten 
bes Sahes vom zureichenden Grunde, zu dem Erfenntnißs, Wer⸗ 
bens- und Seinsgrund, noch als eine vierte befonbere Geftalt, den 
Grund des Handelns, principium rationis sufficientis agendi, 
es auch nennt, das Geſetz der Motivation hinzu, 

demzufolge wir und „bei jedem wahrgenommenen Entſchluß ſowol 
Anderer, als unferer ſelbſt, für berechtigt halten, zu fragen War 
zum? d. h. als nothwendig vorausfegen, es fei ihm etwas vorher⸗ 
gegangen, daraus er erfolgt ift, und weldes wir den Grund, genauer, 
das Motiv der jegt erfolgenden Handlung nennen“ ***), Aber da 
das Motiv, ohne welches die Handlung „uns fo undenfbar ift, wie 
bie Bewegung eines Teblofen Körpers ohne Stoß oder Zug”, zu den 
Ur fachen gehört, nur bie dritte und höchſte Stufe der in meinem 
vorigen Briefe Ihnen dargelegten drei Arten von Urfachen bildet und 
auch bereits won Schopenhauer felbft#) unter der Rubrif des Sahes 
vom zureichenben Grunde des Werdens oder der Veränderung 
aufgezählt und «harakterifirt worden ift, fo gibt es eigentlich im 
Ganzen nur drei Geftalten des Sates vom zureichenden Grunde: 








 *) „Meber bie vierfache Wurzel des Satzes vom zureidhenden Grunde”, g. 39 
umb „Die Welt als Wille und Vorftellung“, ®b. 1, $.15, und Bd. 2, Gap. 13, 
VBergl. meinen Artifel in den „Blättern für literatiſche Unterhaltung” (1852, 
35): „Eine beadhtenswerthe Erſcheinung in der Mathematit. 

_=#) „Ueber die vierfache Wurzel des Sapes vom zureichenden Grunde”, $. 43. 
7) Bergl. „Ueber die vierfache Wurzel des Sapes vom zureichenden Grunde”, 
— 


” 


4168 


1) den Erfenntnißgrund, 2) Seinsgrund und 3) Werdens— 
grund oder Geſchehensgrund, unter welchem lebtern die (mechani- 
fhen) Urſachen, die Reize und die Motive nur drei Unter⸗ 
arten bilden. 

Schopenhauer.hat nur darım das Geſetz der Motivation als 
eine befondere vierte Geſtalt des Sabes vom zureichenden Grunde 
aufgeführt, weil und unfere eigenen auf Motive erfolgenden Hand⸗ 
lungen nicht mehr, wie die auf (mecdhanifche) Urſachen und Reize 
erfolgenden Veränderungen in der äußern Ratur, ald etwas Fremd⸗ 
artiges, Myſteriöſes gegenüberftehen, fondern und einen Blid in das 
Innere thun laflen und dadurch der Schlüffel zur Auslegung der 
Borgänge in der Außern Ratur werben. „Dort (in der Körperwelt 
der Außern Natur) ift die Cauſalitaͤt das Band der Veränderungen 
unter einander, indem die Urfache die von außen hinzutretende Be⸗ 
dingung jedes Vorgangs ifl. Das Innere folder Vorgänge hin 
gegen bleibt und dort ein Geheimniß: denn wir ftehen dafelbft immer 
draußen. Da fehen wir wol diefe Urfache jene Wirfung mit Roth- 
wendigfeit hervorbringen: aber wie fle eigentlih Das Fönne, was 
nämlich dabei im Innern vorgehe, erfahren wir nicht. So fehen wir 
die mechanifchen, phufifalifchen, chemifchen Wirkungen, und audy die 
der Reize auf ihre refpectiven Urfachen jedes mal erfolgen, ohne des⸗ 
wegen. den Vorgang jemals durch und durch zu verftehen, fondern 
die Hauptfache dabei bleibt ung ein Miyfterium: wir fchreiben fie 
alddann den Eigenfchaften der Körper, ven Raturfräften, auch der 
Lebenskraft, zu, welches jedoch lauter qualitates occultae find. Richt 
befier nun würde e8 mit unferm Verftändniß der Bewegungen und 
Handlungen der Thiere und Menfchen ſtehen, und wir würden auch 
diefe auf unerflärliche Weife Durch ihre Urfachen (Motive) bervor- 
gerufen jehen, wenn uns nicht hier die Einfiht in das Innere des 
Vorgangs eröffnet wäre: wir wiffen nämlich aus der an ung felbft 
gemachten innern Erfahrung, daß daffelbe ein Willensact ift, welcher 
durch das Motiv, das in einer bloßen Vorſtellung befteht, hervor: 
gerufen wird. Die Einwirfung des Motive alfo wird von uns 
nicht blos, wie Die aller andern Urſachen, von außen und daher nur 
mittelbar, fondern zugleich von innen, ganz unmittelbar und daher 
ihrer „ganzen Wirfungsart nach, erkannt. Hier ftehen wir gleichfam 





470 


bie Handlungen, hat zu feinem fubjectiven Correlat den innern 
Stun ober ige Sclbübenuätiein „Die mit dem Subject fofort 
auch das Object gefegt ift (da fogar das Wort funft ohne Bedeutung 
ift) und auf gleiche Weife mit dem Object das Subjert, und alfo 
Subjertfein gerade fo viel bedeutet, al8 ein Object haben, und Ob⸗ 
jectfein fo viel, ald vom Subject erfannt werden: genau ebenfo ift 
auch mit einem auf irgend eine Weife beftimmten Object fos 
fort au) das Subject als auf eben ſolche Weife erfennend 
gefegt. Inſofern ift es einerlei, ob ich fage: die Objecte-haben ſolche 
und folche ihnen anhängende und eigenthümliche Beftimmungen, 
oder: das Subjert erkennt auf ſolche und foldye Weiſen; einerlei, ob 
ich fage: die Objecte find in ſolche Elaffen zu theilen, oder: dem 
Subject find ſolche unterfchievene Erfenntnißfräfte eigen. Auch von 
diefer Einſicht findet fi die Spur bei jenem wunderfamen Gemifch 
von Tieffinn und Oberflächlichkeit, dem Ariftoteles, wie überhaupt bei 
ihm ſchon der Keim zur Eritifchen Bhilofophie liegt. De anima III, 8. 
fagt er: F Yuyn Ta övra ng dor zavca (anima quodammodo est 
universa, quae sunt); ſodann: 6 voig dotı eldog eiduv, d. h. der Ver- 
ftand if die Form ber Formen, xul 9 aloImas eldoc alodvrav, und 
bie Sinnlichkeit die Form der Sinnesobjerte. Demnad) nun, ob man 
fagt: Sinnlichkeit und PVerftand find nicht mehr, oder: die Welt (als 
Vorftellung) hat ein Ende, — ift Eins. Ob man fagt: ed gibt 
feine Begriffe, oder: die Vernunft it weg und ed gibt nur noch 
Thiere — ift Eins. Das Verkennen dieſes Verhaͤltniſſes ift der 
Anlaß des Streites zwiſchen Realismus und Idealismus ).“ 

Sie fehen alfo, daß Schopenhauer mit der vierfachen Wurzel des 
Saped vom zureichenden Grunde die ganze Welt der Erfcheinung, 
oder, was daſſelbe ift, die ganze Welt als Borftellung umfpannt; 
denn unter bie vier, den vier Geſtalten des Subes vom Grund ents 
Iprechenden Hauptclafien von Borftellungen: 1) die nach dem Seins⸗ 
grund verfnüpften (Lage im Raum und Succeſſion in ber Zeit); 
2) die nad dem Werbensgrund verfnüpften (Beränterung der Zus 
nände realer Naturobjecte); 3) die nad dem Erkennmißgrund ver: 
fnüpften (Wegriffe und Urtbeile); 4) die nach tem Geſetz der Motis 


*) Ueder die vierfache Wurzel dee Sapee vom zurcicheaden Grunde“. 5. 41. 


N 





472 


ftreichen einer gewiflen Zeit, a priori ſicher, vorausfegen: fo 3. 3. 
wiffen wir, daß zwifchen dem Abdrüden der Slinte und dem Heraus⸗ 
fahren der Kugel eine gewiſſe Zeit verftreichen muß, obwol wir ſie 
nicht wahrnehmen, und daß dieſelbe wieder vertheilt fein muß unter 
mehre in ftreng beftimmter Succeflton eintretende Zuftände, naͤmlich 
das Abprüden, das Funfenfchlagen, das Zünden, das Fortpflanzen 
des Feuers, die Erplofion und den Austritt der Kugel. Wahr- 
genommen hat diefe Succeffion der Zuftände noch fein Menfch: aber 
weil wir wiflen, weldyer den andern bewirft, fo willen wir eben 
dadurch auch, welcher dem andern in der Zeit vorhergehen muß*). 
Wenn Kant (‚‚Sritif der reinen Vernunft‘, 1.Aufl., S. 202; 5. Aufl, 
©. 248) ald Beifpiel des Zugleichfeind von Urſache und Wirkung 
anführt, daß die Urfache der Stubenwärme, der Ofen, mit biefer 
feiner Wirfung zugleich fei, — fo wird man, fagt Schopenhauer, 
ſich dadurch nicht irre machen lafien, fobald man nur bedenkt, daß 
nicht ein Ding Urſache des andern, fondern ein Zuftand Urfache 
des andern iſt. Der Zuftand des Dfend, daß er eine höhere Tem⸗ 
peratur hat, als das ihn umgebende Medium, muß der Mittbeilung 
des Ueberſchuſſes feiner Wärme an dieſes vorhergehen; und da nun 
jede erwärmte Luftfchicht einer hinzuſtrömenden Fältern Platz macht, 
erneuert fich der erfte Zuftand, die Urfache, und folglich auch der 
zweite, die Wirfung, fo lange, ald Ofen und Stube nicht diefelbe 
Temperatur haben. E8 ift bier alfo nicht eine dauernde Urſache, 
Dfen, und eine dauernde Wirfung, Stubenwärme, die zugleich wä- 
ren, fondern eine Kette von Veränderungen, nämlich eine flete Er- 
. neuerung zweier Zuftände, deren einer Wirkung bed andern ifl. 
Wol aber ift aus diefem Beifpiel zu erfehen, welchen unklaren Be⸗ 
griff von der Caufalität fogar noch Kant hatte. 

Während alfo, nad den Gefegen des Werdensgrundes und 
ebenfo der Motivation der Grund der Folge, der Zeit nach, vorher- 
geht, fo bringt Hingegen der Sat vom zureichenden Grunde des 


*) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, II, 41, wo die nähere Ausfüh: 
rung dieſes Beweifes zu finden und noch als ein zweiter fehlagender Hinzugefügt 
if, daß unter ber Annahme, Urfache und Wirfung feien gleichzeitig, „ver Welt: 
lauf zur Sache eines Augenblicks zufammenfchrumpft‘. 


\ 


173 


fein Zeitverhältnig mit ſich, fondern allein ein Ver— 
für die Vernunft: alfo find vor und mad) hier ohne 
Sat 


vom Grunde des Seins ift, fofern er in der Geo⸗ 
metrie gilt, ebenfalls Fein Zeitverhältniß, fondern allein ein räume 
liches, weshalb hier Grund und Folge reciprof find, d. h. einander 
gegenfeitig beftimmen, was daher Fommt, daß jede Linie die Lage 
der andern beftimmt und es dabei einerlei ift, von welcher man an 
fangen, d. h. welche man als Grund und welde als Folge betrach⸗ 
ten will, In der Arithmetit dagegen ift der Seinsgrund nichts an 
deres, als eben das Zeitverhältniß felbft*). (Fortlage hat in feiner 

* „Genetifchen Gefchichte der Ppilofophie feit Kant”, bei der Darftellung 
der Schopenhauer’fchen Lehre vom Grunde **), die Wechfeljeitigkeit, 
die zwifcden Grund und Folge im Gebiete der Geometrie ftattfindet, 
durch das Beifpiel erläutert; „wie des Knechtes Dienen Urfache ift von 
des Herrn Herrſchen und umgefehrt“. Diefes Beifpiel taugt nichts; 
denn des Knechtes Dienen ift wol Wirkung von des Herrn Herr⸗ 
ſchen, aber nicht ift umgefehrt des Herrn Herrfchen Wirkung von 
des Knechtes Dienen, Das Herrfchen geht ja immer als Urſache 
dem Dienen vorher. Gab’ es nicht Welche, die ſich durch Ueber 
macht zu Herren der Andern machten, fo gäb’ es auch feine Knechte 
— Etwas Anderes Hingegen ift es, wenn man Dienen und Herr 
ſchen ald Gegenbigriffe, d. h. als ſolche, die einander gegen- 
feitig hervorrufen, wie gut und 668, [hön und häßlich, gefund 
und frank u, f. w., auffaßt. Bei Gegenbegriffen, wie auch Scho— 
‚penhauer anerfennt, findet allerdings eine Reciprocation ſtatt, aber 
biefe gehört alsdann in das Gebiet des Erfenntnißgrundes. Es find 
alſo zwei ſehr verfchievene Behauptungen, ob ich fage: die Bes 
griffe des Dienens und Herrfchens beftimmen einander gegenfeitigz 
—— ich füge: das wirkliche Dienen iſt Urſache des Herrſchens 
und umgekehrt. ine reale Wechſelwirkung gibt es, wie 
Schopenhauer gezeigt Hat, nicht **)). 


4 Ay bie vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“, $, 4Tfg. 
5. 
Im der Kritik der Kant ſchen Philofophie, in: „Die Welt als Wille und 
Borfieltung”, 1, 517 fg. 


- 


17k 

Da der Eap vom zureichenden Grunde, in allen feinen ®e- 
Ralten, das alleinige Princip und ber alleinige Träger aller und 
jeder Nothwendigkeit it — „denn Nothwendigfeit bat Feinen 
andern wahren und beutlichen Sinn, als den der Unausbleiblichfeit 
der Folge, wenn der Grund gefegt iſt“ —, fo gibt es, gemäß ben 
vier Geſtalten des Sabed vom Grunde, eine vierfache NRothwendig- 
feit: 1) Die logiſche, nah dem Satz vom Erkenntnißgrunde, ver: 
möge welcher, wenn man die Prämifien hat gelten laſſen, die Con⸗ 
cluflon unweigerlich zugegeben ift. 2) Die phnfifche, nach dem Geſetz 
der Gaufalität, vermöge welcher, fobald die Urfache eingetreten ift, 
bie Wirfung nicht ausbleiden Tann. 3) Die mathematifche, nad) 
dem Sat vom Grunde des Seins, vermöge welcher jedes von einem 
wahren geometrifchen Lehrfage ausgeſagte Verhältnig fo ift, wie er 
es befagt, und jede richtige Rechnung unwiverleglich bleibt. 4) Die 
morgliſche, vermoͤge welcher jeder Menſch, auch jedes Thier, nad) 
eingetretenem Motiv, die Handlung vollziehen muß, welche feinem 
angeborenen und. unveränderlichen Charakter allein gemäß: ift und Die 
demnach jest fo unausbleiblidh, wie jede andere Wirkung einer Ur⸗ 
fache, erfolgt; wenn fie gleich nicht fo leicht, wie jede andere, vor⸗ 
herzufagen ift, wegen der Schwierigkeit der Ergründung und vollftän- 
digen Kenntniß des individuellen empirischen Charafters und der ihm 
beigegebenen Erfenntnißfphäre; als welche zu erforfchen ein ander 
Ding ift, al8 die Eigenfchaften eines Mittelfalzes kennen zu lernen 
und danach feine Reaction vorherzufagen *). 

Durd den von Schopenhauer in der Abhandlung „Leber die 
vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde” geführten 
Beweis, daß die ganze Erfahrungswelt, oder, was Daffelbe if, 
das ganze Gebiet der Erſcheinung, dem Sak vom Grunde, mit- 
bin der Nothwendigfeit, unterworfen ift, — ift ein für allemal 
die falfhe Abgrenzung zwifchen Nothwendigkeit und Freiheit 
geftürgt, derzufolge in der Natur nur Rothiwendigfeit, im Gebiete 
des Geiftes Hingegen Freiheit herrfchen fol. Nothwendigkeit und 
Freiheit vertheilen fih nicht auf Ratur und Geift — welcher Ge⸗ 
genfag ja Aberbaupl, wie ich Ihnen früher gezeigt, nad) Schopenhauer 


*) „Weber die vierfache Wurzel des Sapes nom zureichenten Grunde“, $. 49. 





Sn 


475 


ein falfcher ift —, fondern auf Erfheinung und Ding an ſich. 
Denn Rothwendigfeit umfaßt das ganze Gebiet der Erfcheinung, 
alfo die Gedanfen und Handlungen des Menfchen fo gut, wie die 
Bewegungen und Beränderungen der Naturobjecte; Freiheit hin— 
gegen kommt lediglih dem Ding an fi, d. i. dem Willen in 
feinem außerzeitlichen Sein, zu. 

Es gibt, nad) Schopenhauer, nur „ein einziges, einförmiges, 
durchgängige und ausnahmsloſes Princip aller Bewegung: ihre 
innere Bedingung ift Wille, ihr äußerer Anlaß Urſache, welde, 
nad Beichaffenheit des Bewegten, zum Reiz ober zum Motiv ges 
fteigert fein kann“ *). | 

Mit dem falfchen Carteſianiſchen Gegenfage zwifchen Geift und 
Natur (Denfen und Auspehnung) hat alfo Schopenhauer zugleich 
die falfche Vertheilung von Breiheit und Nothwendigfeit an 
Geiſt und Natur geflürzt und einer völlig neuen, wahrern Welt 
anficht Plab gemacht, der zufulge die ganze Welt in Vorſtel⸗ 
lung (Erſcheinung) und Wille (Ding an fi) zerfällt, wovon das 
ganze Gebiet der erftern der Nothwendigfeit (dem Sab vom 
Grunde) unterworfen ift, Freiheit hingegen allein dem letztern 
zufommt. 

‚Ein zweites wichtiges Ergebniß der Schopenhauerfihen Philo⸗ 
fophie aber, das ebenfalls aus der Bedeutung des Satzes vom Grunde 
folgt und die ganze bisherige Weltanfiht radical umgeftaltet, ift 
dieſes, daß die Welt nicht Wirfung einer außerweltlihen Urfache, 
eined ertramundanen Weltfchöpfers ift, fondern Erſcheinung des 
Dinges an fi, d.i. des Willens. Denn der Sab vom Grunde 
in allen feinen Geftalten bezieht fich nur auf ven Zufammenhang und 
die Verknüpfung der Erfcheinungen innerhalb der Welt kann alfo 
nicht gültige Anwendung finden auf die Welt im Ganzen, um dies 
felbe, nach dem Werdensgrunde, als entftanden, geworben, bewirft 
durdy eine außerwetliche Urſache aufzufaffen. Doch darüber fpäter, 
in der Kritif aller fpeculativen Theologie, die ich Ihnen nad Scho⸗ 
penhauer'ſchen Principien liefern werde, noch ausführlicher. Jetzt 
will ich nur noch ſoviel bemerfen, daß der Sag vom Grunde als 





*) „ueber den Willen in ver Natur‘, S. 85. 


9 


476 


aprierikhe Form des Erfennens ja erft auf derjenigen Stufe inner- 
dalb ver Welt hervortritt, wo der Wille, der das Wefen und ber 
Kern der Natur if, durch erhöhte und complicirtere Bebürfniffe, ſich 
bis zw erfennenden Weſen gefteigert hat, wie ich Ihnen in meinem 
vorigen Briefe nachgewiefen habe. Eine innerhalb der Welt auf 
einer gewiſſen Stufe bervortretende Erkenntnißform kann aber nicht 
dazu angewendet werben, um mittels ihrer über die Welt als Ganzes 
binauszugehben. Durch die gänzliche Sonderung des Willens vom 
Intellect, die einen Grundzug der Schopenhauerfchen Philoſophie 
bildet, und die Nachweiſung, daß Wille auch ohne Intellect beftehen 
fann und wirklich befteht, da leßterer erft auf einer gewifien Stufe 
ber Steigerung des Willens als ein Drgan oder Inftrument deſſelben, 
beftimmt, feinen individuellen Zweden zu dienen, auftritt, felbft alfo 
ein Ergebniß der Natur if, — hat Schopenhauer einmal für alle 
mal der Ableitung der Welt aus einem erfennenden Wefen, einem 
voös, ein Ende gemacht. Schopenhauer ift naher eben fo fehr der 


zii Antipobe des Anaragoras, wie ber modernen fpeculativen Theologie. 


Achtzehnter Brief. 


Löſung des Streiteß zwiſchen ber chemiſch⸗phyſikaliſchen und der teleologiſchen 
Schule nach Schopenhauer's Principien, auf Anlaß der Werke von Mulder, 
Moleſchott, Liebig, Schultz-Schultzenftein und Eſchricht. 


Fu 


Sie aͤußerten, verehrter Freund, in Ihrem letzten Schreiben, die 
Schopenhauer'ſche Lehre, daß die Welt nicht Product eines ihr 
aͤußern intelligenten Weſens, eines Gottes oder Geiſtes, ſei, finde 
fi) au fhon im Materialismus, wie ihn z. B. das Systöme 
de la Nature aufitellt, ausgefprochen. Auch der Materialismus leite 
nicht die Natur aus dem Geiſte ab, fondern umgekehrt den Geift 
aus der Natur. Die Schopenhauerfche Anficht fei alfo, was Diefen 
Punkt betrifft, keineswegs fo neu. Auch werde fich ihr ebenfo, wie 
dem Materialismus, immer die Schwierigkeit entgegenftellen, wie 
denn, wenn die Welt nicht Werk eines erfennenden Wefend, fondern 
eined blindwirfenden Triebes oder eines erfenntnißlofen Willens ift, 
die erftaunlide Zwedmäßigfeit innerhalb der Welt, derzufolge 
in ihr, wie in einer wohlgefegten Harmonie, alle Stimmen (fo 
nennen Sie gleichnißweife die verfchievenen Naturreiche) zu einem 
fhönen Ganzen zufammenftimmen, — zu erflären ſei. Sie wünfd- 
ten daher von mir zunächſt zu erfahren, wie denn Schopenhauer 
diefe ſchwierige Frage löfe. 

Ich gehe um fo lieber auf diefen Ihren Wunfch ein, als ich erft 
vor furzem in den Brodhaus’fchen „Blättern für literarifche Unterhal⸗ 
tung” gezeigt habe, wie vom Schopenhauer’fchen Standpunft aus 
12 


478 

der Streit zwifchen dem Materialismus und ver Teleologie zu löfen 
ſei. Ich brauche daher hier nur dieſen Artikel folgen zu laflen, 
damit Sie erfehen, wie man bie Zwedmäßigfeit der Welt aner- 
fennen fann, ohne doch nöthig zu haben, zu einem erfennenden 
Weltbaumeifter feine Zuflucht zu nehmen. Die Leugnung eines 
zwedmäßig bildenden Principe ift bei den neueften Verfechtern des 
Materialismus in der Natunwifienfchaft (wie Sie aus den von mir 
citirten Schriften erfehen werben) fo weit gegangen, daß fie fogar 
die lebendigen Organismen, die Pflanzen und Thiere, in denen 
doch die Zweckmaͤßigkeit am augenfcheinlichften und unleugbarften ift, 
rein chemiſch erflären zu fönnen meinten und daher gegen die Ans» 
nahme einer zwedmäßig bildenden Lebenskraft polemifirten. Ic) 
"babe daher meinen Artifel wie folgt überfchrieben und fogleidy unter 
dem Titel die fünf Schriften genannt, auf weldye er fidy bezieht und 
von denen ein Theil der materialiftifchen, ein anderer der teleologifchen 
Anſicht huldigt. 


Streit der chemiſch-phyſikaliſchen und der teleologiſchen 
Schule. 
—l. Verſuch einer allgemeinen phyfiologifchen Chemie, von G. I. Mulder. Mit 


eigenen Zufäßen des Verfaſſers für diefe beutfche Ausgabe feines Werks. Mit 
Kupfern. Braunſchweig, Bieweg u. Sohn. 1851. 


2. Chemifche Briefe von Juftus Liebig. Dritte umgearbeitete und vermehrte 
Auflage. Heidelberg, C. F. Winter. 1851. 


3. Der Kreislauf des Lebens. Phnfiologifche Antworten auf Liebig's Ghemifche 
Briefe, von I. Molefhott. Mainz, von Zabern. 1852. 


4. Die Verjüngung bes menfchlichen Lebens und die Mittel und Wege zu ihrer 
Eultur. Nach phnfiologifchen Unterfuchungen in praftifcher Anwendung bar: 
geftellt von C. H. Schul: Schulgenftein. Zweite fehr vermehrte Auflage. 
Mit einem Anhang über die Philofophie ver Verjüngung und die Organifation 
der Geiftesbildung. Erſte und zweite Lieferung. Berlin, Hirſchwald. 1850. 


. Das phyfifche Leben in populären Vorträgen dargeftellt von Daniel Fried: 
rich Eſchricht. Erfie Hälfte. Berlin, Hirſchwald. 1852, 


Die genannten Schriften eignen ſich darum zu einer zufammen: 
fafienden Befprechung, weil der Hauptgegenftand ihrer Unterfuchungen 
das Leben der organifirten Wefen in feinem Zuſammenhange mit 
der unbelebten, anorganifchen Natur ift, und fodann, weil in ihnen 
der Gegenſatz ſich fpiegelt, der ſchon feit lange bie Deutung der 


a 


179 


Lebenserſcheinungen beherrfcht, der Gegenfap nämlich zwiſchen ber 
hemifchephyfitatifchen und der teleologiſchen Erflärung. 

Nach dem chemiſch-phyſikaliſchen Materialismus find die leben⸗ 
digen Organismen nicht Ausdru einer urfprünglichen Lebenskraft 
oder Erſcheinung einer urfprünglichen Lebensidee, eines Lebenstypus, 
fondern lediglich Folge und Refultat der in den Grunbftoffen ber 
Natur liegenden blindwirkenden Kräfte, bie in einer gewiſſen hödyft 
complicirten Combination und unter dem günftigen Einfluß äußerer 
Bedingungen, der Wärme, der Luft, des Lichts, der Eleftricität u. ſ. w., 
das Phänomen des Lebens und das bunte Spiel der lebendigen 

auf der Erde hervorbringen. Kurz, das organiſche 
Leben ift nichts Urfprüngliches, ift fein Princip, fondern Refuls 
tat, und zwar der blinden Stoffmetamorphofe und Stoffeombination. 
Das Ewige und Urjprüngliche find allein die hemifchen Grundſtoffe 
der Natur mit ihren unveränderlihen Eigenſchaften. 

Nach der teleologifchen Erklärung hingegen find die lebendigen 
Organismen fein bloßes Nefultat, fein bloßes Ergebniß blindwir⸗ 
Fender ftofflicher Kräfte, die nach mechanifchen und chemiſchen Ges 
fegen der Anziehung und Verwandtihaft zuſammentreten, fondern 
Erfcheinung urfprünglicher Lebensideen oder Lebenstypen, die den 
Stoff mit feinen blindwirfenden Kräften beherrfchen, ihn in ihren 
Dienft nehmen, nach ihren Zweden geftalten. " 

Nach dem chemiſch⸗phyſtkaliſchen Materialismus ift das Wort 
Leben ein bloßer Gollectivbegriff für die Summe der Functionen 
des organifirten Stoffe, ganz fo wie das Wort Seele nur ein 
Collectivbegriff ift für die verſchiedenen Functionen des Gehirns. 
So wenig es urfprünglid; eine Seele gibt, fo wenig gibt es aud) 
eine urfprünglice Lebenskraft, fondern Beides find nur Sammel- 
begriffe für eine gleichartige Reihe ftoffliher Wirkungen. 

Nach der teleologifchen Erklärung hingegen ift das Wort Leben 
ein prineipieller Begriff, bezeichnet nicht ein bloßes Refultat 
ober eine Sammlung von Stoffelementen, ſodaß die Einheit des 
Lebens nur Product aus der Vielheit der es conftituirenden Ele⸗ 
mente wäre, fondern umgekehrt die Einheit ift hier das urfprüngliche 
Prindp der Vielheit, die einheitliche Lebensidee gliedert ſich ihrem 
Plane gemäß zu einer Bielheit von Organen und Functionen. 

AR 


180 

Dbwol die Werke der Natur mit menfchlihen Kunftwerfen nicht 
zu vergleichen find, fo fann man fich doch den angegebenen Gegen- 
fat zwifchen der materialiftifchen und teleologijchen Erflärung der 
Drganidmen etwa an dem Streite veranfchaulichen, in den Zwei bei 
Erflärung irgend eines Artefacts, z. B. bei der Erklärung einer Flöte 
geriethen, und von denen der Eine behauptete: Weil die Flöte aus 
diefem Stoff gemacht ift und der Stoff in ihr diefe Form und Zu- 
ſammenſetzung hat, darum iſt fie, wenn auf ihr geblafen wird, ge- 
eignet, dieſen Ton hervorzubringen; der Andere hingegen erwiderte: 
Damit die Flöte diefen Ton hervorbraͤchte, ift fie aus diefem Stoff 
gemacht und hat der Stoff in ihr diefe Borm und Zufammenfegung 
erhalten. 

Die an die Spibe dieſes Artifel8 geftellten Schriften find eben 
darum fo hoͤchſt interefjant, weil fle geeignet find und dieſen Gegen- 
fag in feiner ganzen Schärfe zum Bewußtſein zu bringen. Mulver 
und Molefchott find entfchiedene Gegner der teleologifchen Erklärung 
des Lebens, polemiftren gegen die Annahme einer eigenthümlichen 
wrfprünglichen Lebensfraft. und führen alle Lebenserfcheinungen auf 
Chemismus zurüd. Dagegen ift wiederum Schulg- Edyulgenftein 
ein heftiger Gegner der chemifchen Erklärung des Lebens, und Eſch— 
richt vertheidigt eifrigft der chemijch-phyfifaliichen Schule gegenüber 
die teleologifche Teutung des Lebens. Liebig endlich, obwol Chemifer, 
nimmt eine mittlere, unentfchiedene Stellung ein, weshalb ihm auch 
Molefchott Widerfprüche, Halbheit und Inconfequenz vorwirft. 

Das Abthun der Lebenskraft ald eines Popanzes, den ſich der 
Menſch gefhaffen, wird von Molefchott ald die größte That unferer 
Zeit und als ein wahrer Sieg der Wiſſenſchaft über den Findlichen 
Glauben gefeiert. Will man, fagt er, die herculiſche That, an wel- 
her in unferer Zeit ein großer Theil der Menfchen, ja unbewußt 
vielleicht die ganze Menfchheit arbeitet, an Einen Namen fnüpfen, dann 
hat Ludwig Feuerbach die That vollbracht. Menfchenkunde, Anthro- 
pologie hat Beuerbah zum Banner gemacht. Die Fahne wird fieg- 
reih. durch die Erforfhung des Stoffe und ftofflicher Bewegung. 
„Ich babe Fein Hehl es auszufprechen: die Angel, um welche die 
heutige Weltweisheit fich dreht, ift die Lehre vom Stoffwechſel.“ Das 
Leben iR nach Molefchott nicht der Ausflug einer ganz befondern 


181 


Kraft, es ift vielmehr ein Zuftand des Stoffs, gegründet auf die 
unveräußerlichen Eigenfehaften deſſelben, bedingt durch eigenthümliche 
Bervegungserfcheinungen, wie fie Wärme und Licht, Waffer und Luft, 
Eleftrieität und mechaniſche Erjcütterung am Stoff hervorrufen. 
Die thätigen Einflüffe, die fogenannten Kräfte find warme Stoffe, 
eleltriſch erregte Stoffe, ſchwingende Körper, Lichtwellen, Schall 
wellen, kurz Alles, was Bewegung durch Bewegung erweckt. Das 
ganze Molefhottiche Buch hat ſich mur diefe Aufgabe geftellt, ein 
Bild zu geben von dem durch Stoffwechſel, — ver⸗ 
mittelten Kreislauf des Lebens (S. 83): 

Derfelbe Kohlenſtoff und Sticſſtoff, welchen die Pflanzen der Koplen: 
fäure, der Dammſäure und dem Ammoniak entnehmen, find nadjeinander 
Gras, Klee und Weizen, Thier und Menſch, um zulegt wieder zu jer- 
fallen in Kohlenſäure und Waffer, in Dammfäure und Anımoniak, Hierin 
llegt das natütliche Wunder des Kreislaufs. Mir ſcheint es platt, um. 
nicht zn fagen fade, wenn man es wunderbar findet, daß der Kohlenſtoff 
unſers en, der Süetjtoff unfers Hiens früher vielleicht einem Aegypter 
ober Neger angehörte. Diefe Seelenwanderung wäre die engfte Bolgerung 7 
aus dem Kreislauf des Stoffe. Das Wunder liegt in ver Ewigkeit des 
Stofs, durch dem Wechſel der Form, in dem Wechſel des Stoffs von 
Form zu Form, in dem Stoffwechſel als Urgrund bes irdiſchen Lebens. 

Was der Menſch ausſcheidet, ernährt die Pflanze. Die Pflanze 
verwandelt die Luft in fefte Beſtandtheile und ernährt das Thier." 
Raubthiere leben von Pflangenfrefjern, um ſelbſt eine Beute des Todes zu 
werben und neues Feimendes Leben in der Pflanzenwelt zu verbreiten. 
Diefes ewige Kreifen des Stoffs iſt nach Molefhott die Seele ber 
Welt. Weil der Vorrat; des Stoffs ſich weder vermehrt noch ver- 
‚mindert, darum find auch die Eigenſchaften des Stoffs von Ewigfeit 
gegeben. Die Wage ift es, bie es unumſtößlich bewiefen hat, daß 
fein Stoff eines lebenden Körpers eine Eigenfchaft befigt, bie ihm 
nicht mit dem Stoff von außen zugeführt wurde (S. 41): 

Pflanzen und Thiere verändern die Stoffe nicht, die fie der Außen: 
welt entiehnen, Alle Thätigteit im wachjenden Baum und im kämpfenden 
Löwen beruht auf Verbindungen und Zerfegungen bes Stoffs, der ihnen 
von aufen geboten wird. 

Bewegung der Grundftoffe, Verbindung und Trennung, Aufnahme 
and Ausfgelbung, das ift nach Molefchott der Inbegriff aller Thätigfeit 


{ 


J 


182 





auf Erden, Die Thaͤtigkeit beißt Leben, wenn ein Körper feine Form 
und feinen allgemeinen Miſchungszuſtand erhält troß fortwährender 
Veränderung der kleinſten ftofflichen Theilchen, die ihn zufammenfegen. 

Mit einer wahren Begeifterung verkündigt Molefchott dieſe 
Stoffwechfellehre und die in allem Wechfel fi kundgebende Unfterb- 
lichkeit ded Stoffe. Weil der Aufbau des Lebens auf den Umfturz 
gegründet If, diefelben Stoffe, die aus den lebendigen Organismen 
auegeſchieden werden und in welche biefelden durch Top und Ber 
wefung zerfüllen, e8 auch wieder find, aus welchen die Pflanzen und 
mittel® diefer die Thiere ihr Leben aufbauen, darum ift die Bewegung 
raftlos und darum das Leben verbürgt (S. 44): 


So if denn ter Zahn ver Zeit nichts weniger als, eine zerſtoͤrende 
Mat. Und ſelbſt der Kuünſtler ſollte nicht verzweifelnd jammern, wenn 
von Jadrdundert zu Jahrhundert der Marmorblock zerſtiebt, ven ein 
Kunſtwerk zum Tempel weihte Der Marmor bleibt une mit ihm ver 
prometdeiſche Aunfe, der neue Kunſtgebilde ſchaffen wirt. Denn der Stoff 
iſt unſterblich 


Moleſchott liche es, dieſe Unſterblichkeit des Stoffs auf paradore 
Art auszuſprechen, fir in ten entlegenſten Formen nachzuweiſen. 
Der Beramann, jagt er z. B.,, der in der Wetterau oder in Eſtre⸗ 
madurag dercinſt nad pbeäpberjuuerm Kalk grüäbt, ſucht mehr als 
Gold, er grade nach Weizen, gräbt nach Menſchen. Der Bergmann, 
der im Schweiß ſemes Angeſichts mit Lchendgefabr ſein Leben crringt, 
er wein cd nicht, ed nicht Der Stoff des beiten Kopfe durch eine 
Binde gleitet. Er ige mit ſeiner verbergenen Arbeit vielleicht Jahr⸗ 
dunderte in Rewegung. 

Nednliche Acukerungen, Die das Wander des Kreislaufs und 
die Aumacht des Stene deweiſen ſollen. inden ſich auch dei Liebig 
Anh Trost zeigt. wie aus den durch den Ted ter erganiſchen Weien 
auſjacleden Score dx Rabrungemittel für via meue Gencranen bes 
TÜRE werden S. INS: 

Der Tor Tee Audigy rer undergegengenen Generatien it die 
Tiere dee Yerred far eine mem Darke Koblenikefanern weldes als 
Teuer ter Medkeliake m tum Dexzen cum Meridee das Btat 
were teihen Adern trede od mac wönkende cin Beidandthen des Serzens 
eat Run Nurfeben, Dat Stufibefane ur waecus Gehe. of wur 


| 
1: 
# 


lung und Ausbildung dienende Nahrung jhöpft, fo können die Elemente 
der Leiber einer vorangegangenen Generation übergehen und zu Befland- 
theilen unfers eigenen lebendigen Leibe werden. 


Die Differenzen zwiſchen Liebig und Moleſchott betreffen nicht 
fowol diefen Grundgedanfen, den Kreislauf des Stoffs durch die 


Liebig vielfahe Irrthümer nad. So fehr er auch den Keuntnifien, 
der Genialität und den Verdienſten Liebig's alle Gerehtigfeit wider 
fahren läßt, fo polemifirt er doch ſcharf gegen Liebig's falſche, aus 


3: B. gegen Liebig’s Eintheilung der Nahrungsftoffe in Nährftoffe 
und Athenmittel, welchem Gegenfag Moleſchott ein ganzes Eapitel 
wibmet (S. 113): 

Die Eintheilung der Nahruugsſtoffe in Nährftoffe und Athemmittel 
einen Gegenfaß gegründet, den man nur aus einer gänzlich ein- 
tung des Aihmungsvorgangs ſchöpfen Fonnte, Sie ift ein 
jener engherzigen Zwertmäßigkeitövorftellungen, die [hen Spinoza 

bie Georg Forfter mit fruchtbarſter Klarheit überwunden hatte, 
denen dennoch die große Mehrzahl ver heutigen Naturforiher bes 
iſt, aur allzu oft ohne es felbft zu ahnen. Die Vorjpiegelung 
macht immer einfeitig; denm wer ein Ziel erjagen will, läßt 
was von jeinem Augenmerk abſchweift. 
ift überhaupt für Molefchott noch viel zu wenig materia- 
viel zu gläubig, beruft ſich noch viel zn viel auf die 
id unergründliche Weisheit des Schöpfers, hängt ihm noch 
an dem Dualismus zwifchen Geift und Natur, zwifchen 
und Stoff, um zu einer Haren, einheitlichen und völlig wider 
ſpruchsloſen, durchgängig confequenten Weltanfhauung gelangen zu 
Fönnen. Moleſchott will nichts won ber Liebig'ſchen Vermittelung 
wiſchen Wiſſenſchaft und Offenbarung wiſſen (S. 17): 


| 


SEEETER 
HE 


* 


488 


Die Halbheit der DVermittelung führt den Unuufrichtigen zur Lüge, 
den Aufrichtigen zur vollendeten Unklarheit. Ober ift es nicht unklar, 
wenn Liebig dem Schöpfer gegenüber von Naturgejegen fpriht? Das 
Naturgefeß iſt der firengfle Ausdruck der Nothwendigkeit, aber die Noth⸗ 
wendigkeit wiberftreitet der Schöpfung. 


Molefchott eitirt zu feinen Gunften eine Stelle von Du Bois— 
Reymond aus deſſen Vorrede zu dem Werfe über thierifche Eleftricität. 
Auch Du Bois-Reymond erklärt, wie Molefchott, die Lebenskraft für 
eine verftedte Musgeburt des unwiderftehlichen Hangs zur PBerfonifi- 
- cation, der und eingeprägt if. In den Begriffen von Kraft und 
Materie, fagt er, fehen wir wiederfehren denjelben Dualismus, der 
fih in den Borftelungen von Gott und der Welt, von Seele und 
Leib hervordraͤngt. Es iſt, nur verfeinert, immer noch daſſelbe Bes 
dürfniß, welches einft Die Menfchen trieb, Bufch und Quell, Fels, 
Luft und Meer mit Gefchöpfen ihrer Einbildungsfraft zu bevölfern 
(S. 357 — 362): , 


Die Materie iſt nicht wie ein Fuhrwerk, davor vie Kräfte ala Pferde 
nach Belieben angefpannt, dann wieder abgefchirrt werben können. Ein 
Eiſentheilchen ift und bleibt zuverläffig ein und daſſelbe Ding, gleichviel 
ob es im Meteorſtein den Weltkreis durchzieht, im Dampfwagenrade auf 
den Schienen dahinſchmettert, oder in der Blutzelle durch die Schläfe eines 
Dichters rinnt. So wenig als in dem Mechanismus von Menſchenhand, 
iſt in dem letztern Falle irgend Etwas hinzugetreten zu den Eigenſchaften 
jenes Theilchens, irgend Etwas davon entfernt worden. Dieſe Eigen— 
ſchaften ſind von Ewigkeit, ſie ſind unveräußerlich, unübertragbar. Es 
kann daher nicht länger zweifelhaft bleiben, was zu halten ſei von der 
Frage, ob der von uns als einzig möglich erkannte Unterſchied zwiſchen 
‚ven Vorgängen der todten und belebten Natur auch wirklich beftehe. Ein 
ſolcher Unterſchied findet nicht ftatt. Es kommen in’ben Organismen den 
Stofitheilden Feine neuen Kräfte zu, feine Kräfte, die nicht auch aufer- 
halb derſelben wirkfam wären. Es gibt alfo Feine Kräfte, welche den 
Namen von Lebensfräften verdienen. Die Scheinung zwifhen der foge- 
nannten organifhen und ber anorganifhen Natur ift eine ganz willfür- 
liche. Diejenigen, welche fie aufrecht zu erhalten fireben, welde die Irr- 
lehre von ber Lebenskraft predigen, unter welcher Form welder täu: 
ſchenden Verkleidung es aud ſei, ſolche Koͤpfe ſind, mögen fie iich 


deſſen für verſichert halten, ni 
vorgedrungen. | niemals bis an die Grenzen ihres Denkens 





Nach diefen Theorien beſteht der ganze Zweck des Lebens in weiter 
Nichts als in einem Verbrauch und Erſatz von Stoffen, in Verbrennung 
und Zufuhr von Brennmaterial, und der Lebensproceß wird als eine 
bloße Stoffftatiftil dargeſtellt. Im dieſer Doctrin treten die größten 
hemifhen Widerſprüche ald Beweismittel und vie hoͤchſte phyſiologiſche 
Unkunde nicht felten ald Genieſtücke auf. Es ift hauptſächlich die Statiftif 
des Kohlenſtoffs und Stidfloffs, um welche fih die Verhandlungen in 
diefer Stoffwechſellehre drehen, wobei ‚ver menfchlihe Körper wie eine 
Dampfmafchine angefehen wird, in welder der Magen die Effe und vie 
Lunge den Schornftein bilde. Das Weſentliche des menſchlichen Lebens 
wird bier in feinen Excrementen aus Lunge, Darm, Nieren gefucht, und 
davon werben alle fonfligen Bunctionen abhängig gemadt. 


Der Unterſchied des organifchen Lebensprocefies von den chemi⸗ 
fhen und phyflfalifchen Procefien liegt nach Schulg: Schulgenftein 
weentlih darin, daß die organifhe Wechſelwirkung eine Wechſel⸗ 
wirfung von Formelementen iſt, während im chemifchen Proceß 
fi nur Stoffelemente bewegen. Der Irrthum, daß man in 
chemifchen Stoffen und demnach durch chemifche Analyfe des Körpers, 
das Leben zu finden gejucht, diefer große Irrthum ſchreibe ſich noch 
aus den Zeiten der Alchemiften ber und habe am meiften dazu bei- 
getragen, daß Bafilius Balentinus, Paracelfus, van Helmont, Syl⸗ 
vius fi in magische und myſtiſche Anfichten, in aftrologifche Theo⸗ 
rien verloren haben, indem fie aus dem Widerſpruch, der zwifchen 
anorganifchen Stoffen und organifcher Lebenskraft natürlid vor⸗ 
handen ift, fidy nicht herausfinden konnten. Dagegen fei ed nun 
unfere Aufgabe, zunaͤchſt und zum Bewußtfein zu bringen, daß der 
Lebenskraft und dem Lebensproceg auch eine lebendige Materie, die 
von der tobten anorganifchen Materie verſchieden if, zu Grunde 
liege, und zu zeigen, worin der Unterfchied der organifchen und anor- 
ganifchen Materie beruht. Diefer Unterfchied fei in nichts Anderm 
als In dem Gegenfag von Stoff und Form begründet (S. 32 fg.): 


Das Subſtrat der anorganiſchen Natur iſt formlofer Stoff, 
das Subftrat der organifhen Natur iſt das organifirte Formgebilde. 
Chemiſcher Stoff und organifche Form bilden denfelben Gegenfag, fließen 
ſich gegenſeitig abſolut aus, wie Tod und Leben, und niemals ift das 
veben an chemifhen Stoff, an anorganifhe Materie gebunden. Dies 
lehrt die unmittelbare Naturanfhauung; es iſt die einfachfte Empirie, vie 


chemiſche Stoff lebendige Gigenfaften; der Stoff gt Beine 
en Reizbarkeit, feinen Bildungstrieh; er hat mr hemifche 


den Gegenfag von Stoff und Form, demzufolge das Wefen 
des Lebens nicht In Stoffelementen, fondern in einer eigenthümlichen, 
lebensfräftigen und lebensfähigen Form zu ſuchen ift, ſcheint außer 
den von Schultz / Schulgenftein angeführten Beweifen, die man in 
feinem Buche felbft nacjlefen muß, auch ſchon das ganz einfache 
Factum zu ſprechen, daß es dem Chemiler, trotz aller feiner Künfte 
feiner genauen Kenntniß der Stoffelemente aller feften und 
flüffigen Beftandtheile des lebendigen Körpers, doch bisher noch nicht 
an iſt, irgend ein lebendiges Weſen in feinen Tiegeln, Gläfern 

und Retorten durch bloße Stoffeombinationen Hervorzubringen. Ins 


3 


gebracht, fo fönne man ihn doch vielleicht zukünftig noch ein mal 
hervorſpringen machen. In der That fheint ſich Moleſchott mit diefer 
Hoffnung zu tragen, denn er fagt (S. 350): 

Die Aufgabe, welde von Laien fo oft mit ftolger Zuverſicht dem 
Natur ſorſcher geftellt wird, die Aufgabe, ven Homunculus zu machen, be— 
gründet gegen die Verwerfung ber Lebenskraft aud nicht den Schatten 
eined Einwurfs. Wenn wir Licht und Wärme und Luftdruck ebenſo be— 
herrſchen könnten, wie die Gewichtsverhältniſſe des Stoffs, dann würden 
wir nicht nur viel öfter als jeht im Stande fein, organiſche Verbindungen 

"zu wiſchen, wir — auch die Bedingungen zur Entſtehung organiſirter 


Daß es bis jet Ban felten gelinge, organifche Stoffe 
aus ben Glementen oder wenigftens aus einfachen anorganifchen 
Verbindungen aufzubauen, komme nur daher, daß wir noch in fo 
— Fallen die Lagerung der kleinſten Theilchen, die Anorduung 


Liebig, daß er gefagt, die Geſehe des Zerftörens ermitteln wit immer 
zuerſt, aber es ſiehe dahin, ob wir die des Aufbauens jemals kennen 


i 


188 


lernen werben. Umfomehr freut es ihn, daß kiebig an einer andern 
Stelle die Hoffnung ausgeſprochen, 
daß es uns gelingen wird, Chinin und Morphin, die Verbindungen, 


woraus das Eiweiß oder die Muskelfaſer betchte mit allen ihren Eigen— 
ſchaften hervorzubringen: 


ferner, daß Liebig glaubt, es koͤnne 


morgen oder übermorgen Jemand ein Verfahren entdecken, aus Gtein- 
fohlentheer ven herrlichen Farbeſtoff des Krapps over das wohlthätige 
Ehinin oder dad Morphin zu machen. 


Und mehr ald Glaube und Hoffnung, fagt Molefchott, ift die 
That. Die That aber ift die von Liebig und Wöhler geleiftete Dar: 
ftelung des Harnftoffd aus Cyanfäure und Ammoniaf. 

Harnftoff ift freilich nur ein organifcher Auswurffloff, und von 
da bis zur Fabrikation einer Zelle mit einem Zellenfern, woraus 
ein organifches Individuum ſich entwidelt, ift freilich noch eine weite 
Kluft. Indeſſen hat doch der künſtliche Harnftoff das Vertrauen der 
Chemiker ſehr gefteigert. Machte es doch ſchon vor etwa 20 Jahren 
viel Auffehen, daß man durchs Schütteln einer Mifchung von Eiweiß 
und Del Kügeldyen gebildet hatte, wovon jeded aus einer Eimweiß- 
hülle mit einem Deltropfen beftand und fomit einer Yettzelle auf- 
fallend ähnlich ſah (vergl, Eſchricht, S. 72). Es fehlte leider mur 
der verwünfchte Zellenfern. Ja, eben nur der Kern! ruft Efchricht 
aus und fieht Died eben ald einen Beweis an, daß das Leben mehr 
ift al8 ein bloßed Product des Stoffe. Gelange man aud, fagt er, 
endlich dahin, eine künſtliche Zelle mit Zellenkern zu bilden! Neben 
der wirklichen Zelle mit ihrer Entwidelungsgefchichte wird dieſe 
fünftliche immer noch gerade fo nichtöfagend daliegen wie eine „Fünft- 
liche Ruine” neben den Trümmern eines antifen Gebäudes, und 
neben derjelben Zelle mit ihrer bevorftehenden Entwidelung ebenfo 
fchal und leer, wie eine Puppe neben dem Kinde in der Wiege. 

Die von der chemifch-phyfifalifhen Schule zu ihren Gunften 
behauptete generatio aequivoca (Älternlofe Zeugung) wird von Eſch⸗ 
richt durch die Ergebnifle der neuern Forſchungen über den Urfprung 
der Infuforien, der Eingeweidewürmer und der Schmarogerinjeften 
ausführlich widerlegt und, gemäß Dem omne vivum ex ovo Harvey's, 





490 


fuchen. Wie die jebt beſtehenden Arten zu denen der nächſt vorher: 
gehenden Periode, jo würden diefe zu denen der frühern geftellt 
werden müflen (S. 135): 


Sie werden mich aber nun vielleicht nody weiter hinaustreiben wollen, 
bi8 ih doch am Ende eingeftehen müßte, daß die Organismen in den 
älteften Schihten, worin deren noch vorkommen, jedenfalls doch aus ven 
todten Stoffen entſtanden fein. Dann aber würde die Reihe an mid 
fonımen und ich würbe fragen: „Woher denn die todten Stoffe felbft, 
woher Stoff und Raum und Zeit?" Stehen wir lieber davon ab, über 
der Dinge erften Anfang zu grübeln, den wir doch nun einmal ebenfo 
wenig al8 die Ewigkeit zu fafjen vermögen. 


Während- fo Efchricht die Frage nach dem erften Urfprunge der 
Drganismen zuletzt durch die menſchliche Unwiffenheit abjchneibet, 
findet Mulder gar feine Schwierigfeit in Beantwortung diefer Frage. 
Nah Mulder fteht dad omne vivum ex ovo Harvey’d mit der 
generatio aequivoca im völligften Einflange. Der Streit über bie 
generatio aequivoca und epigenesis fällt nach feinen Begriffen ganz 
weg. Denn er verfteht unter ovum ein organifches Molecul. Mulder 
fügt (©. 79—82): 


Das Ei Heißt in dem Sinne der Epigenetifer ein folder Keim, woraus 
ih unter günfligen Umftänven ſtets ein gleichartiges Individuum ent- 
wicelt. Die Vertheidiger der generatio aequivoca ftellen fih im Weſent⸗ 
lichen die Sache nicht anders vor. Es find bier organifhe Stoffe, aljo 

! organifche Molecule, welche fih zu etwas Anderm entwideln und woraus 
‚endlich auch Individuen hervorgehen. Der Begriff des Eies ſchließt ſich 

| ‚ganz eng an ben eined organifchen Moleculs an. Die Käfemilbe, vie 

; »Schinmelpflanze auf faulenden Früchten find ſolche aus organifhen Mo- 
leculen gebildete Individuen, find Nefultate der in den Grunpftoffen 
liegenden Molecularkräfte, fo gut e8 die Samenthierhen find. Kurz, die 
gewöhnlihen Eierchen von Pflanzen und Thieren find nichts Anderes als 
organifche Molecule, denen ähnlich, woraus alle organifchen Stoffe beftchen. 
Sie find Producte organifcher Körper und unterfcheiden ſich alfo von ven 
Keimen anderer, welde, wie es heißt, durch generatio aequivoca entfteben, 
weder der Zufammenfegung noch ihrer Natur nad. 


—— — 


Woher dieſe organiſchen Molecule urſpruͤnglich ſelbſt kommen, das 
bleibt freilich dabei unerflärt. Genug, der fo auffallende Unterſchied 
in Kraft und Form, ben bie organifirten Wefen von den unorgani- 


ö 19 


An an to fommt nach den Chemitern von der urfpränglich verfiie 
Anordnung, Lagerung, Zujanmenfegung ihrer Stofftheilchen. 
me drei: Stoff, Kraft und Form, dem chemiſchen 
Materialismus zufolge unzertrennlich. Moleſchott fagt (S. 33): 
Immer fehen wir eine verfdievene Lagerung der Hleinften Theilchen, 


ungertrennliche 
denen jedes Glied die beiden andern mit Nothwenbigfeit hrbingt, 


Die vom Kryftall verſchiedene Form und Kraft organifcher Zellen 
ift nach Mulder nur daraus zu erklären, daß in jenem andere Moler 
eularfräfte thätig find als in diefen, nicht aber aus der Uebertragung 
einer Lebenskraft auf den Stoff. Kräfte laſſen fich nach ihm überhaupt - 
nicht mittheilen, wol aber wecken. Die magnetifchen Erſcheinungen 
erläuterten dies zur Genüge. Der Stahl befigt, ohme magnetifirt zu 
fein, magnetiſche Kräfte; fie fhlummern, d. h. fie Haben ſich in ein 
foldjes Gleichgewicht gefegt, daß fie nicht mehr nad) außen wirfen. 
Sie beftchen indeß, fie haften in den Mofeculen des Eifens. Potenz 
ziren wir ein Stüd Stahl, fo weden wir was darin verborgen lag, 
wir trennen das Verbundene. Ebenfo nun weden die Pflanzen Kräfte 
in den Elementen der Kohlenfäure, des Waſſers und Ammoniak, 
wenn dieſe Stoffe aufgenommen und auf mannichjache Weife zu 
Säuren, Bafen, indifferenten Stoffen, Harzen, Betten, flüchtigen Delen 
u. f. w. verbunden werben. Mulder fügt alsvann hinzu (S. 67—73): 

Wer Hierin etwas Anderes als Molecularkräfte erblickt, ſieht mehr 
als da befteht; dies iſt eine ganz gewöhnliche Art der chemiſchen Thätig- 
— nicht verſchieden von * wie im ——— EM neue Ver⸗ 


tiegeln und * andere Stoffe hervor als aus den Organen der 
—— aus Kohlenſaure und Waſſer Celluloſe und Sauerſtoff er— 
zeugen. Jede Abſonderung, jede Erzeugung neuer Stoffe, eine Folge der 
Moleeularfräfte, kann mur von Molecularkräften ausgehen; mit andern 
Worten: die Organe, welche aus den genannten Stoffen eine neue Ver 
binbung Hervorbringen, das chemiſche Glelchgewicht fören und dafür ein 
meneß herftellen, vermögen dies nur durch ihre hemifchen Kräfte, durch 


492 


die hemifhe Tenſion ihrer Elemente. Wo wir in der organifden Natur 
Kraftäußerungen finden, da gibt ed Stoffe, welhe Molecular- oder 
hemifche Kräfte befigen. Die Nerven felbft, viefe merfwärbigen Gebilde, 
beftehen aus feinen andern Grunpftoffen, als den gewoͤhnlichen der orga- 


& nifhen Natur; e8 ift alfo Feinem Zweifel unterworfen, daß die Molecular- 
kräfte in Rückſicht auf den Stoffwechſel die Hauptrolle im Organismus 


- 


m 


fpielen, und daß für den Urfprung diefer Molecularkräfte feine allgemeine, 
feine Lebenskraft anzunehmen ift, dem ſich aud die reine Naturlehre 
widerfegt, nad welder Nichts in die Natur gebradt, fondern Alles aus 
ihr herausgefunden werden muß. 

Dagegen weifen nun aber die Teleologen auf die conftante in di⸗ 
vidnuelle Einheit der zwedmäßigen Organismen bin. Efchricht 
fagt (S. 81-85): 

Wenn ihr auch jede einzelne Lebenserfheinung nad rein phyſikaliſchen 
Geſetzen erklären Eönnt, fo bleibt Eins dabei immer noch unerflärt, und 
zwar das Allerweſentlichſte, nämlich die unerfaßlihe Harmonie aller Theile 
und aller Erjcheinungen, die durchaus vollfommene Zweckmäßigkeit ber: 
felben zur Erhaltung des Individuums und der Gattung. Ja in ben 
lebenden Organismen fpringt die Erreihung eigener Zmede noch unendlich 
viel deutlicher in vie Augen als in allem menſchlichen Treiben und Wirken 
und allen daraus hervorgehenden Werfen. Der Schiffer" weiß fein Schiff 
zu fleuern gegen Wind und Strom; doch wie viel fiherer feuert Der 
Fiſch im Waffer, ver Vogel in der Luft feinen Eurs! Wie blipfchnell 
folgt überhaupt die Bewegung der Willfür und fließt fih das Auge 
unmwillfürlih dem drohenden Körper! Halten wir einmal ein Kunftwerf 
und ein Organ, beive mit einem und vdemfelben Plane, gegeneinander, 
3. B. ein bioptrifhes Inftrument und das Auge irgend eines Wirbelthiers. 
In jenem wie in diefem gilt e8, von jedem vorliegenden äußern Punkte 
das Licht fo in einem entfprechenden Punkte des Hintergrunds zu fammeln, 
dag daraus ein genaues Bild der vorliegenden Gegenftände entfteht, und 
in beiden ift dies durch Anwendung einer burdfichtigen Linfe erreicht 
worden, die zunächſt am Kreisrande von einem bunfeln Ringe gedeckt 
wird. Der Optiker muß fich feine Linfe aus Glas fchleifen, durch und 
durd von gleicher Dichtigfeit und Härte; im Auge ift fie aus einem fry- 
ſtallklaren Stoffe dermaßen gebaut, daß fie nah dem Kerne bin allmälig 
härter wird, ein ungemein großer für bie menfchlihe Kunft ganz uner- 
reihbarer Vortheil! Und nun gar jener dunkle Ring, das fogenanite 
„Diaphragma‘ der Optiker! Durch Zufall — was eben nur bebeutet, 
durch Die blinden Kräfte der Stoffe an und für ſich — können Formen 
entftehen, die mit denen der organifhen Körper eine gewiſſe Aehnlichkeit 


193 


haben. Auch Können umgefehrt mande Organe eine entfernte Achnlickeit 
mit ven Formen haben, welche die mineralifhen Stoffe durch ihre eigenen 
blinden Kräj , Die Zähne mander Thiere find nicht nur 
ſteinhart, fondern aud) oft ebenfo eig, ſpiß und ſcharf wie nur 
ee ie 


fe nod, alß.Keinıe überaus hei, mit. anerganifiien Stoffen gar nit. — 
gefämwängert waren. Scharf und eig wurden fie eben mur, Weil fie ihrer 
Beltimmung nad) im Dienfte des Organismus ſcharf und edig fein follten. 
Alſo anflatt den Organismus nur für eine Anhäufung von felbftändigen 
Zellen, diefe nur für eine Art von Kryftallen anzufehen, die aus den blinden 
Kräften der Stoffe hervorgegangen wären, iſt derfelbe vielmehr als Gefammt- 
ausdruck einer einheitlihen Idee, eines Plans, eines Zwecks zu betrachten. 


Die teleologifche Phyfiologie räumt zwar ein, daß ſich ber Iebende 
Körper den allgemeinen Naturgefegen nicht gänzlich entziehen könne, 
Sie ftellt nicht in Abrede, daß unfer Körper, um nicht zu fallen, 
gehörig im Schwerpunfte umterftügt fein muß; daß er von einem 
frisigen Körper durchbohrt, von einem gewaltfam brüdenden zer- 
quetjcht werden kann; daß ihn die falte Luft kalt, die heiße heiß 
Aber fie führt zum Beweiſe eigenthümlicher Lebenskraft an, 
ſich der lebende Körper in allen dergleichen Verhältnifen ganz 
‚zeigt als der todte. Zwar, fagt Ejhricht, muß unfer Körper um 
fallen, gehörig im Schwerpunfte unterftügt fein, wie ganz 
nimmt er aber auch bei jeder Gelegenheit die dazu nöthigen 
an. Der lebende Körper fällt nur bei ganz außerge— 
Umpftänden, während der Leichnam faum — 
und Quetſchungen fönnen wir allerdings erhalten, wie 
aber alsdann das Verhältnig der lebenden Theile von 
der tobten! Sowie die erfte Blutung vorüber ift, tritt eine 
Erfcheinungen ein, die immer offenbar eine Heilung bes 
gewoͤhnlich fie auch erreichen. Die Falte Luft kann und 
ie heiß machen, jedoch behält unfer Körper in der Kälte 
in der Hige, wenn von den äuferften Graben abgejehen wird, 
denfelden Wärmegrab zwifden 29 — 300 R. Auch 
wir, wie durchaus verfhieden bie Thier- und Pflanzen» 
förper fih vor und nad) dem Augenblide des Sterbens zu der ge- 

133 


— 


198 
meinfamen Einwirkung von Wärme, Luft und Waſſer verhalten; — der 
Chemismus des Lebens if ja offenbar ein ganz anderer, als der 
der todten Stoffe; und beirachten wir envlih den organifhen Bau 
felbR, die ganze Mannidfaltigkeit von Gebilden in den Organismen 
überhaupt, weldye ja durdhgängig blos Erzeugnifle des Lebens find, 
wer wollte va an einer bildenden Kraft derjelben zweifeln? (Bergl. 
Eſchricht, S. 5153.) 





Nachdem ich die ftreitenden Parteien bisher ohne Unterbrechung habe 
gegen einander auftreten laflen, wird man jest leicht erfennen, um was es 
fich bei dieſem ganzen Streite eigentlich handelt. Es fehrt in ihm nur der 
alte Segenfag wieder zwifchen ven wirfenden Urfachen und den Zweck⸗ 
urfachen (causae efficientes und causae finales). Der chemifch-phyfi- 
falifchen Erflärung zufolge ift das Leben nur ein Refultat der blindwir- 
fenden im Stoff liegenden Kräfte; die Organismen find trotz ihrer fo be- 
wundernswürdigen Zwedmäßigfeit doch nur ein reines Naturfpiel, ein 
zweckloſes Raturereigniß, wie das Anfchießen von Kryftallen. Der teleo- 
logiſchen Erflärung nad) hingegen reichen die blindwirkenden Urfachen 
nicht hin zur Deutung des Lebens und der wunderbaren Zwedmäßigfeit 
der Organismen; es ift vielmehr nothwendig, eine ben Stoff beherrſchende, 
ihm ihr Gepräge aufbrüdende, ihn mit feinen blinden Kräften in Dienft 
nehmende Zwedurfache, eine Idee, einen lirtypus anzunehmen. 

Es ift dies ungefähr berfelbe Gegenfag, wie wenn Zwei eine Uhr 
erflären jolten und der Eine behauptete: Die Uhr ift Refultat aus der 
Zufammenfegung und Form ihrer ftofflichen Theile; der Andere hin- 
gegen erwiderte: Diefe Form und Zufammenfegung der ftofflichen Theile 
it Nichts, was fich von felbft machte, fondern ift felbft nur Refultat 
einer den Stoff bildenden und zufammenfegenden Idee, der Uhridee. 

Man erfieht aus dem Angeführten leicht, welche wichtige Fragen 
durch dieſen Streit zwifchen der chemiſch⸗phyſikaliſchen und der teleolo- 
gifhen Dentung des Lebens berührt werden. Es hängt damit unter 
andern bie Unfterblichfeitsfrage aufs engfte zufammen. — Sehr 

| leicht und bequem machen fich Die Entfcheidung diefes Streits Die gläubigen 
ober doch gläubig ſcheinen wollenden Phyſtologen, welche ſich die Ent: 
ſtehung der lebendigen Organismen ganz ebenfo denken, wie die Ent- 
ſtehung eines menſchlichen Kunſtwerks, z. B. einer Uhr. Sowie zur Uhr 





496 


fingen. Andererſeits aber ift ed ebenfo wahr und gewiß, daß man fidh 
die Zwedimäßigfeit in die lebendigen Organismen nicht wie in todte 
Machwerke ald von außen, durch den Berftand eined Yabrifanten 
hineingelegt zu denten habe. Diefe beiden fcheinbar entgegengejehten 
Foderungen, der Annahme eined zwedmäßig bildenden und doch 
nicht eines von außen hinein, fondern von innen heraus ge- 
ftaltenden Principe, müflen alfo auf gleiche Weiſe befriedigt werden, 
denn fie machen beide gleich ftarfen Anſpruch auf Anerkennung. 

Diefe doppelte Foderung nun ift erfüllt in dem Syfteme Arthur 
Schopenhauer’s, welches die Organismen als Willenserfheinungen 
auffaßt und zwar nicht als Ericheinungen eines ihnen fremden aͤußer⸗ 
(ihen Willens, fondern deſſelben Willens, der fih in ihnen während 
ihres ganzen Lebens kundgibt. Er fagt („Die Welt ald Wille und 
Vorſtellung“, II, 334): 

Derfelbe Wille, welder den Glefantenrüffel nah einem Gegenflande 
ausſtreckt, ift es auch, der ihn bervorgetriehen und geflaltet bat, wie 
Gegenſtände anticipirend. 

Aehnlich fagt Burda („Phyſiologie“, IL, 710): 

Das Gehirn ſtülpt ah zur Netzhaut aus, weil daß Gentrale des 
Embryo die Cindrũcke der Weltthätigfeit in fi aufnehmen will: aus 
dem Gefäßfoflem ſproſſen Zeugungeorgane bervor, weil das Individuum 
nur in der Gattung lebt und das in ibm begonnene Leben ſich verviel- 
fältigen will. 

Schopenhauer, diefer ebenfo ſcharf⸗ als tiefinnige Philoſoph, 
bat das Problem der Phyſiologie, die Bereinigung der wirfenden 
mit den Zweckurſachen bei Grflärung des organijchen Lebens, wirflich 
geloͤſt. Gr konnte ed aber auch, weil ihm Kant in der „Kritik der teleolos 
gifhen Urtbeiläfraft” bereits Dazu den Grunt gelegt batte und weil 
er nicht, wie die andern modernen Phyſiologen und Philoſophen, von 
tiefem felfenjehen Grunde abwich und daneben uuf Eunp bante. 

Die Haupiftelien bei Schopenhauer für das hier in Rede ſtebende 
Problem find das Sapitel „Bergleichente Anatomie” in der Schrüt 
„cher ten Billen in der Natur“ und das Gupin! Zur Teleologie“ 
im zweiten Bande er Schrift „Die Belt ald Nie un? Vorſtellung“. 
Tie Ad unmiderkchlid auſdringende Federung, bei Grflärung der 
ledendigen Dryanitmen von Zwedurjachen auszugchen und doch 


197 


nicht wie nenfhlihe Madywerfe, alfo die Zwesturfachen 
etwas dem Stoff Aeuferliches von außen her, aus dem 
Verſtande im die Materie Uebertragenes anzufehen, diefe 
beiden entgegengefepten Foderungen der Teleologie und des Materi- 
lismus find duch die Schopenhauer'ſche Löfung des Problems voll- 
ftändig befriedigt. In ihr kommt ebenfo die materialiftifche Erklärung 
aus innerlichwirfenden, wie die teleologifhe aus Zwedurfa—hen zu 
ihrem Rechte. Die ausnahmslofe Zwecmäßigkeit, ſagt Schopen- 
hauer, die offenbare Abfichtlichfeit in allen Theilen des thieriſchen 
Drganismus fündigt zu deutlich an, daß hier nicht blinde Natur- 
fräfte, fondern ein Wille thätig gewejen fei, als daß es je hätte im 
Eruft verfannt werben fönnen. Nun aber Fonnte man das Wirfen 
eines Willens ſich nicht anders denfen, denn als ein vom Erkennen 
geleitetes. Denn man hielt Wille und Erfenntniß für ſchlechthin 
ungertrennlich, ja jah ven Willen als eine bloße Operation der Er— 
fenntnig an. Demzufolge mußte, wo Wille wirkte, Erkenntniß ihn 
leiten, folglid) auch hier ihn geleitet haben, Das Medium der Er 
fenntniß aber, die als ſolche wefentlich nach außen gerichtet ift, bringt 
es mit ſich, daß ein mittels derfelben thätiger Wille nur nach außen, 
alfo nur von einem Wefen auf das andere wirken kann. Deshalb . 
fuchte man den Willen, deffen unverfennbare Spuren man gefunden 

hatte, nicht da, wo man biefe fand, fondern verfegte ihn nad) außen . 
und machte das Thier zum Product eines ihm fremden, von Er— 


fenntniß geleiteten Willens, welche Erfenntniß alsdann eine fehr + 


ein durchdachter Zwedbegriff gewefen fein, und diefer der 
des Thieres vorangegängen und mitfammt dem Willen, 
das Thier ift, außer ihm gelegen haben mußte. Dem- 
das Thier früher in der Vorftellung als in der Wirflih- 

Dies ift die Bafis des Gedanfengangs, auf welchem 
theologifhe Beweis beruht. Aber, wie Schopenhauer 
beweiſt, ber Wille, deſſen Erfheinung jede Thierfpecies ift und 
die Geftalt und Organifation derfelben nach Maßgabe der Ums 
beftimmt, iſt nicht aus der Erfenntniß hervorgegangen und 
biefe mitſammt dem Thier dagewefen, che deffen Wille ſich einfand 
als ein bloßes Accivenz, ein Serundäres, ja Tertiäres; fondern der 
Wille it das Erfte, das Wefen an fi: feine Erſcheinung (bloße 


Fe 


Er 


— —— — — — —. 


Borftellung im erfennenden Intellect und deiten Formen Raum und 
Zeit) If das Thier, audgerüftet mit allen Organen, die den Willen 
unter biefen fpeciellen Umfländen zu leben, varftellen. Zu diejen 
Drganen gehört auch der Intellect, die Erfenntniß ſelbſt, und iſt, wie 
das Uebrige, der Lebensweiſe jedes Thieres genau angemeſſen. („Ueber 
den Willen in der Natnr“, S. 43 fg., wo auch Beiſpiele zum Belege 
aufgeführt find.) Sodann: 


Unfere Bewunderung der unendlichen Volllomnenbeit und Zweck⸗ 
mäßigkeit in den Werken der Natur beruht im Grunde darauf, daß wir 
fie im Sinne unferer Werke betrachten. Bei biefen iſt zuvörderſt ber 
Wille zum Werk und das Werk zweierlei; ſodann liegen zwiſchen dieſen 
beiden felbit noch zwei Andere: erflli daS dem Willen an fih fremde 
Medium ver Vorflellung, durch welches der Wille, ehe er fidh bier ver- 
wirkliht, hindurchzugehen hat; und zweitene der dem bier wirkenden 
Willen fremde Stoff, dem eine ihm fremde Form aufgegwungen werden 
ſoll, welder er witerftrebt, weil er fhon einem andern Willen, namlich 
feiner Naturbeſchaffenheit, angehört: er muß alfo erft überwältigt merben 
und wird im Innern fletd noch wiberfireben, fo tief auch die künſtliche 
Form eingerrungen fein mag. Ganz anders ſteht es mit den Werfen 
ter Natur, welche nicht wie jene eine mittelbare, fonvern eine unmittelbare 
Manifeftation des Willens find. Hier wirft der Wille in feiner Urfprüng- 
lichkeit, alſo erfenntnißlos: ver Wille und das Merk jind tur feine fie 
vermittelnve Vorſtellung gefhieven: fie jind Cine. Und fogar der Stoff 
ift mit ihnen Eins, denn die Materie iſt vie bloße Sichtbarkeit des Willens. 
Deshalb finden wir Bier die Materie von ver Form vollkommen burd: 
drungen: vielmehr aber find fie ganz gleichen Urjprungs, meibieljeitig nur 
für einander da und infofern Eind. Daß wir jie aub bier, wie beim 
Kunftwerf, fondern, ift eine bloße Abſtraction. Die reine abjolut form: 
und beſchaffenheitsloſe Materie, welde wir als den Stoff des Natur: 
products denken, ift blos ein ens rationis und fann in feiner Erfahrung 
rerfommen. Der Stoff tes Kunſtwerks bingegen ift tie empiriſche, mit- 
bin bereits geformte Materie. Identität der Ferm uns Materie if 
Sharafter des Naturproducts: Diverität heiter bed Kunſtproducts. Weil 
beim Naturprotuct die Materie tie bloße Sichtbarkeit ver Form if, ſeben 
wir auch empiriſch die Form als hlode Uustgeburt ver Materie auftreten: 
in der Kreftallijation, in wegetabiliider und animaliider generatio aequi- 
voca. (cher ven Millen in ter Natur‘, S. 30 fg.) 

Der Sinn der vedte Kant, daR die Iwecmätßigkeit erit vom 
reſlectirenden Verſtande in die Natur gedracht wurd, der Demnach ein 





200 
Differenz baben, im Willen als Ding an fih” (a. a. O. ©. 337). 
Nur aus diefer gemeinfchaftlihen Wurzel läßt es fich erflären, daß 
die alıla dE dvapenc (wie Ariftoteled die wirkende Urfache nennt) 
mit der alıla yapın tou Bertlovos (der Zwedurfache) jo wunderbar 
zuſammenſtimmt, daß das Nothwendige als das Beſte und das Bee 
- al8 das Rothwendige erfcheint. 

Die Polemik der chemiſch⸗phyſikaliſchen Materlaliften gegen eine 
einheitliche, zwedmäßig bildende Lebenskraft oder Lebensidee oder, wie 
es Schopenhauer genannt hat, Willen zum Leben, fcheint nur dann 
gerechtfertigt, wenn man feinen Blick einfeitig auf die wirkenden 

Urſachen Heftet, denn diefe zerfallen allerdings in eine Vielheit. 
Jedenfalls muß man zugeben, daß bie Lebenskraft feine Ausnahme 
von dem Gefege macht, dem alle andern Kräfte der Natur unter 
worfen find, nämlich der Anregung, Anfachung, des Impulfes von 
außen zu bedürfen. Ohne Luft, Licht, Wärme, fee und flüffige 
Rahrungsftoffe gelangt Fein lebensfähiger Keim ins wirkliche Leben 
und kann fich in diefem nicht erhalten. Infofern hat alfo Liebig Necht, 
wenn er fagt (S. 338): 

Alle Eigenthümlihkeiten ver Körper, alle ihre Eigenſchaften find 
durch das Zufammenmwirken mehrer Urfahen bevingt, und es iſt ie 


Aufgabe der Naturforfhung, das Verhältniß zu ermitteln, welches jede 
einzelne Urſache an der Erſcheinung nimmt. 


Und ebenfo hat Lotze Recht, wenn er (in feinem Artifel ‚‚Leben, 
Lebenskraft" in Wagner’s „Handwörterbuch der Phyfiologie”) fagt: 


Wir haben unbedingt jede Theorie vom Leben zu verwerfen, welche 
und eine Urſache veffelben anzugeben verfpriht. Wie man aud ein 
ſolches Realprincip des Lebens beftimme, ob als Lebensmaterie, Lebensgeift, 
Lebenskraft, Seele, Trieb oder als Lebensprincip überhaupt: nie wird fi 
daraus das Geringfte folgern laſſen, wenn man niht dem Satz der 
vielen Urfaden fein Recht gibt und noch die andern Urſachen Hinzu: 
ſucht, welde jenes überall gleiche Princip durch ihre Verſchiedenheit zu 
verfhienenen Wirkungen bringen. 


Aber nie ift e8 auch den Lebenskraftlehrern eingefallen zu leugnen, 
daß die Lebenskraft, fo gut wie jede andere Kraft, der Anregung von 
außen bedarf. Sogar Schulg-Schufgenftein, der die Lebenskraft in 
ben organiſchen Zebensproceß auflöft und dieſen als Selbfter- 


204 


regung bezeichnet, kann doch nicht umhin von einer Erwedung 
der Selbfterregung zu ſprechen ($. 18): „Die Zeugung geſchleht durch 
Erwedung der Selbfterregung, der Tod ift die Erſchöpfung derfelben”; 
was nur infofern fonderbar klingt, als eine von aufen erwedkte Selbft- 
ersegung eben Teine Selbfterregung mehr if. 

Zedes Phänomen der Natur ift Product, ift Nefultat aus vielen 
zuſammenwirlkenden Bactoren, und das Phänomen des Lebens macht 
hiervon feine Ausnahme. Die Ableitung der Organismen aus einer 
urfprünglichen einheitlichen Lebenskraft will alfo nicht fagen, daß fie 
aus diefer allein, ohne äußere mitwirkende Urfachen zu erklären 
feien, fondern nur foviel, daß die äußern Urſachen hier unter dem 
Einfluß einer eigenthümlichen, fie beherrfchenden Kraft ſtehen. Denn 
das fann doch auch der verftoctefte Materialift nicht leugnen, daß 
Licht, Luft, Eleftrichtät, Wärme u, ſ. w. auf organiſche Stoffe ganz 
anders wirken als auf unorganiſche. Mulder fagt (S, 396 fg.): 

‚Kein Kryſtall vermag die Function eines zufammengefegten Organs, 
ſelbſt nicht ein mal bie einfahe Verrihtung einer Zelle zu übernehmen, 
nämlich Verbindungen Hervorzubringen, welche befähigt jind, Zellenform 
anzunehmen. 


©. 398: v 


Sind die. Lebenserfheinungen eine Reihe von Folgen, Folgen von 
Buftänden (der Zufammenfegung und ver Formen) ber 
Körper, fo muß eine Grundurfade vorhanden fein, deren erfte Wirkung- 
ſich endig offenbart nicht in der Erfüllung einer Function — denn 
dieſe iſt erſt Folge —, ſondern in der Hervorbringung gewiſſer 
Bormen, welche wir als nothwendige Bedingung für die Functionen 
anerkennen," Es muß daher, wo beftimmte Formen erzeugt werben ſollen, 
die erſte Ordnung der Moleeule ſchon den Keim jener Formen einſchließen, 
mit andern Worten: die erſte durch Gruppirung der Molecule entſtandene 
wahrnehmbare Form muß dem Zwecke jener Gruppirung entſprechen 
und danach zu der ſpäter zu vollbringenden Function des Organs in 
ähnlicher Beziehung ftehen, wie die Function mit dem ganzen Leben des 
Individuums harmonirt. 


Man ſieht alſo, wie ſelbſt die Ehemifer troh ihrer Polemil gegen 


die Lebenöfraft ſich des Gedanfens der Zwedurfache nicht erwehren 
Finnen, Mulder fagt geradezu (a. a. D.): 


202 


Muß ſich nit au die Form der Bauſteine und der andern Ma- 
teriglien nah der Beſchaffenheit und dem Zwecke des Gebäudes richten, 
welches daraus zufammengefegt werben foll? 


©. 399: 


Mit ganz allgemeinen Gefegen erklärt man feine bejondere Reihe 
von Erfcheinungen, nit die Unterſchiede zwifchen Leben und Nichtleben. 


©. 416: 


Aus einer Pflanzenzelle entftehbt niemals ein animalifched Gewebe 
und umgekehrt aus einer thierifchen Zelle kein vegetabilifhes Gewebe, denn 
. fie find aus verſchiedenen Stoffen zufammengefeßt. 


Aus diefen und ähnlichen Eingeftändniffen der Chemifer folgt 
aber, daß der Streit zwifchen ihnen und den teleologifhen Phyſio⸗ 
logen im Grunde genommen ein Wortftreit if. Denn Gene wie 
Diefe fehen ſich genöthigt, zur Erflärung der Organismen in ihrem 
Unterfchievde von den Gebilden der unorganifchen Natur ein von ben 
Kräften der unorganifchen Ratur unterfchiedenes Princip anzunehmen. 
Hierin ftimmen alfo Beide überein. Die Differenz zwifchen Beiden 
läuft nur darauf. hinaus, daß die Chemifer dieſes unterfchiedene 
Princip anders nennen als die Teleologen. Jene nennen es orga- 
nifhe Molecularfraft, Diefe hingegen Lebenskraft, zwei ver- 
fchiedene Ausdrüde für eine und diefelbe Sache, wie überhaupt Stoff 
und Kraft nur zwei verfchiedene Ausdrücke find für eine und biefelbe 
Sache. Was fih innerlich als Kraft Fundgibt, erfcheint aͤußerlich 
ald Stoff und umgekehrt. Denn, wie Schopenhauer richtig gelehrt 
hat, der Stoff, die Materie ift die Sichtbarfeit der Kraft oder, was 
Daffelbe if, die erfcheinende Kraft. Einer andern Kraft entfpricht 
darum ein anders geformter Stoff und umgefehrt. Der Kryſtall ift 
die fichtbar gewordene Kryftallfraft, der Organismus die fichtbar 
- gewordene Lebenskraft. Und wie der ganze Organismus Ausbrud 
der Lebenskraft oder beffer des Willens zum Leben ift, fo ift jedes 
einzelne Organ Ausédruck eines befondern Triebes der Lebensfraft 
oder des Lebenswillend. Das Auge iſt die erfeheinende Sehfraft, 
das Gehirn die erfcheinende Erkenntnißkraft. Diejenigen Teleologen 
haben daher Anrecht, welche ſich die Organe in demſelben Verhältnig 
zu ihren $unctionen denken, wie man fich fonft im gewöhnlichen 


geben aͤußere Iuftrumente zu dem Gebrauch venft, dem man von 
ihnen macht. Der Schmied 3. B. kann ohne Hammer und Ambos 


aber ex befteht für ſich und unabhängig von feinen Werkzeugen, und 
wenn ihm diefe zertrümmert werben, jo wird er damit nicht ſelbſt 
sertrümmert. Der größte Violinvirtuos kann ohne Violine Nichts 
machenz aber wird ihm die Violine zerbrochen, fo wird er damit 


Seele gerettet zu haben. Zerſchmetterſt du mir auch das Gehien, 
fagen fie, jo fannft du mir doch die Seele nicht zerſchmettern; denn 
meine Seele braucht zwar das Gehien und kann ohne daſſelbe 

Nichts erkennen, aber fie ift nicht felbft das Gehirn. 
Sie denken ſich alfo die Seele zum Gehirn nicht anders als wie den 
Geiger zur Geige. Da haben denn freilich Diejenigen Recht, welche 
wie Moleſchott (in dem Capitel „Der Gedanke") die Ipentität von 
Seele und Gehirn nachweifen. Mit der Geige ändert ſich zwar 
nicht der Geiger, wol aber ändert ſich mit dem Gehirn die Seele, 
Weunn z.B. in beiden Halbfugeln eine Entartung ftattfindet, dann 
braucht diefelbe Häufig nur einen bechränften Raum einzunehmen, 
um Schlaffucht, Geiſtesſchwäͤche oder vollftändigen Blöpfinn zu er- 
zeugen. Der Irrwahn, der ſich in wilden Reden austobt, ift Aus 
drug der. infeit. Es ändert ſich aber nicht blos die Thätig- 
feit der Seele mit der veränderten Mifhung des Gehirns, fowie 
umgefehrt die Miſchung des Gehirns mit der veränderten Thätigfeit, 
fonbern auch ſchon der Bau des Gehirns in den verſchiedenen Thier⸗ 
gattungen und Menfchenracen entfpricht den verfchiedenen Stufen des 
Seelenfebend. Unter den Thieren find diejenigen, welche im Natur 
auftande gefellig leben, wie die Robben, Elefanten, Pferde, Nennthiere, 
Ochſen, die Schafe und Delphine, ausgezeichnet durch die große 
Anzahl ihrer Hienwindungen, Vor dem Hirn der Affen ift das des 
Menſchen ausgezeichnet durch die Größe feines Stinlappend. Je 
höher die Affen ftehen, defto mächtiger ift der Stirnlappen entwickelt. 
Beim Menſchen ift das feine Gehirn vollftändig überdedt von den 
Halblugeln des großen Gehirns. Je höher ein Thier in der Thier- 
reihe fteht, je mehr es ſich durch feine Entwidelung dem Menfchen 


204 


näbert, defto vollftändiger bebedt das große Gehirn das Fleine. Das 
. Gehirn des Ochſen ift von dem des Menfchen in feinem Bau fehr 
wefentlich verfchieven. Beim Menſchen ift ein fehr Heines Gehim 
häufig mit Geiftesfhwäche oder Blödfinn verbunden. Eine hohe, 
freie Stirn, die einer mächtigen Entwidelung des Stirnlappens ent- 
fpricht, verräth den großen Denker. (Bergl. Molefchott in dem Eapitel 
„Der Gedanke”, wo noch eine Menge Beifpiele zum Beweife für 
die Spentität von Seele und Gehirn angeführt find.) 

Dagegen behaupten nun zwar bie fpiritualiftiichen Phyſiologen, 
das Gehirn fei nicht Die Seele felbft, fondern nur die conditio 
sine qua non, nur die Bedingung, nur das Organ, ohne weldyes 
die Seelenthätigfeit fich nicht äußern könne. So fagt 3. B. F. W. 
Hagen in feinen „Pfychologifhen Unterfuhungen, Studien im Ge⸗ 
- biete der phyſiologiſchen Pſychologie“ (Braunfhweig 1847) glei, in 
der erften Abhandlung: „Was phufiologifhe Piychologie fei”, Die 
Selbſtaͤndigkeit des Seelenlebens müfle vor Allem erft anerkannt fein, 
ehe tiefer dringende Studien über daſſelbe Erfolg, ja ebe fie nur 
einigen Reiz gewähren können. ©. 6 fg.: 

Wer das Hirn (allein over auch fammt dem Blut) für ven zu: 
reihenden Grund alled Denkens und Wollens erklärt und dieſen Schluß 
blos auf Thatfahen der Pathologie troß der vielfach negativen Ausſprüche 
derſelben flüßt, thut in der That nichts Anderes als Derjenige, welcher 
daraus, daß Blähungen öfters Nefpirationsnoth hervorrufen, den unum⸗ 
ftößlihen Schluß ziehen wollte, daß die Gedärme oder die Bauchmuskeln 
oder das Zwercfell den ganzen vollftännigen Grund des Athmend ent: 
hielten. Wie viefer die Lunge und ven Thorax, fo ignorirt jener bie 
Seele. 

Aber dieſes Gleichniß hinkt gewaltig, Die Lunge und der 
Thorar werben darin mit der Seele, flatt mit dem Gehirne, in 
Parallele geftellt, alfo materielle Organe mit einem immateriellen 
Principe verglichen. In Wahrheit if das Gehirn ebenfo der ers 
ſcheinende oder in die Sichtbarkeit getretene Erfenntnißtrieb, wie 
bie Lunge der erſcheinende oder fichtbar gewordene Athmungstrieb. 
Seele und Gehirn find alfo nur zwei verfchiedene Ausdrücke für eine 
und dieſelbe Sache, wie Kraft und Stoff überhaupt. Die Anficht 
von dem, Gehirn als einem blos Außerlichen Werfzeug ber Seele 
ift veraltet. 


205 


Aus der gewonnenen Erfenntniß der wefentlichen Identitaͤt von 
Stoff und Kraft, von wirkenden und Zwecurſachen ergibt ſich, daß 
der ganze Streit zwiſchen der chemiſch-⸗phyſikaliſchen und der teleos 
logiſchen Schule nur aus dem einfeitigen Fefthalten des 
einen von beiden Ausprüden einer und derfelben Sade 
entfprungen iſt. Ic) Fehre, um diefes zu erläutern, hier am Schluß 
zu dem gleich anfangs aufgeftellten Gleihniß von der Flöte zurüd. 
Wenn der eine der beiden Streitenden fagt: Weil die Flöte aus 
dieſem Stoff gemacht it und der Stoff in ihr diefe Form und Zite 
fammenfegung erhalten hat, befigt fie das Vermögen oder die Kraft, 
wenn auf ihr geblafen wird, diefen ganz beftimmten Ton hervor 
aubringen, und ber Andere dagegen erwidert: Damit fie diefen 
ganz beftimmten Ton hervorbrächte, iſt fie aus dieſem Holze ges 
macht, und hat das Holz in ihr diefe Form und Zufammenfegung 
erhalten: fo ift doch wol nicht ſchwer einzufehen, daß die Behaup- 
tungen Beider nur in ihrer richtigen Zufammenfaffung bie volle 
Wahrheit ausmahen. Ebenſo nun auch, wenn die Materialiften 
fagen: Weil wir Augen haben und die Augen von biefer im 
richtigen Verhättniß zum Licht ftehenden ftofflichen Zufammenfegung 
find, ſehen wir; ober: weil wir ein Gehirn haben und dieſes aus 
einer ſolchen Mifhung und Tertur befteht, denfen wir; — die Teleo- 
fogen aber dagegen einwenden: Damit wir fähen, haben wir fo 
beſchaffene Augen, und: damit wir dachten, haben wir ein fo ger 
bautes Gehirn: fo ift Far, daß beide Theile Recht haben, aber 
aud beide nur in der Zufammenfafung ihrer einfeitig feftgehaltenen 
Behauptungen. Das Weit ift richtig, aber nur unter der Voraus— 
fegung des Damit, und das Damit ift richtig in feiner Ergänzung 
durch das Weil, 

Das Leben ift Refultat der wirkenden ftofflihen Urſachen; aber 
die das Leben bewirfenden ftofflichen Urfachen find ſelbſt nur Erfcjel- _ 
mung und Ausorud des Lebenszweds oder des Willens zum Leben, 

haben alfo ebenfo Recht, welche die Lebensfraft ald 
Refultat, wie Diejenigen, welde fie als Princip betrachten. Sie 
it Refultat, fofern erft durch die vielen zufammenwirfenden ftofflichen 
Urſachen der lebensfaͤhige Keim die Kraft, wirktich zu leben, erlangt. 
Sie ift dagegen Princip, fofern das wirkliche Leben ſchon bie 


208 


jeder Bewegung eines Körpers zugleich ftatthabe. Denn die ein- 
geftändlih aus dem Willen entfpringende Bewegung fest immer 
auch eine Urfache voraus: dieſe ift bei erfennenden MWefen ein 
Motiv; ohne fle ift jedoch auch bei diefen die Bewegung unmöglich. 
Und andererfeitd die eingeſtaͤndlich durch eine äußere Urfache be- 
wirkte Bewegung eines Körpers ift an fi doch Meußerung des 
Willens, welche durch die Urfache blos hervorgerufen wird. Es 
gibt demnach nur ein einziges, einförmiges, durchgaͤngiges und aus⸗ 
nahmsloſes Princip aller Bewegung: ihre innere Bedingung ift 
Wille, ihr äußerer Anlaß Urfache, welche, nad) Befchaffenheit des 
Bewegten, zum Reiz oder zum Motiv gefteigert werden kann *). 

Run werden Sie freilih fragen, woher denn der täufchende 
Schein komme, daß, obwol auch unfer Handeln durch Urfachen ftreng 
neceffitirt ift, wie die Begebenheiten der Natur, wir und dennoch für 
frei halten, die Ratur aber nit. Da muß ich Sie denn auf die meifter- 
hafte, gleich an die obige Stelle ſich anfchließende Auseinanderfegung 
Schopenhauer’8 **) verweilen, in welder dargethan wird, daß, je 
höher man in der Wefenleiter feigt, deſto mehr fi Urſache und 
Wirkung fondern, deſto mehr alfo die Aehnlichkeit zwifchen Beiden 
verfchiwindet, bi dann zulegt, im Menfchen, eine fo große Berfchie- 
denheit zwifchen Urſache und Wirkung hervortritt, daß es dem rohen 
Verſtande nunmehr erfcheint, als fei gar Feine Urfache mehr vor: 
handen, al8 hänge der Willendact von gar Nichts ab, fei alfo grund- 
los, d. h. frei. 

Einige der von Schopenhauer angeführten Beifpiele mögen Ihnen 
diefes erläutern. Auf der niebrigften Stufe der Ratur find Urſache 
und Wirkung ganz gleihartig und ganz gleichmäßig, weshalb wir 
bier die Caufalverfnüpfung am vollfommenften verftehen, 3. B. die 
Urſache der Bewegung einer geftoßenen Kugel ift die einer andern, 
welche eben jo viel Bewegung verliert, als jene erhält. Die hervor: 
zubringende Wirfung muß bier ganz und gar aus der Urſache 
herüberwandern, und fo iſt's bei allen rein mechaniſchen Wirkungen, 
weil bier Urfache und Wirkung nicht qualitativ verfchieden find. — 


*) „Meber den Willen in der Natur”, ©. 85. 
**) ‚Ueber den Willen in der Natur”, S. 86 — 96. 


Reunzehnter Brief. 


Freiheit und Nothwendigkeit. — Woher ver falfhe Schein der Frei: 

heit entfpringte. — Der Efel des Buridan. — Worin die Wahlfreiheit 

befteht. — Gleichſetzung des Menſchen mit der Natur. — Unvereinbarkeit 
des liberi arbitrii indifferentiae mit den Thatſachen. 


E⸗ freut mich, verehrter Freund, daß, wie Sie ſagen, Ihnen durch die 
Art, wie ich in dem Streit zwiſchen der chemiſch⸗phyſikaliſchen und teleolo⸗ 
giſchen Schule Schopenhauer als Deus ex machina zur rechten Zeit ein⸗ 
treten laſſe, ein neues Licht über dieſen Gegenſtand aufgegangen iſt. 
Neues Licht verbreitet überhaupt Die Schopenhauer'ſche Philoſophie noch 
in manchen Punkten, obwol fie felbft wiederum es urfpünglid) der Kants 
[hen zu verbanfen hat. Kant war es auch urfprünglich, der durch feine 
Anſicht über Freiheit und Nothwendigkeit zu der Schopenhauer’jchen 
Lehre, die ih Ihnen am Schluß meines fiebzehnten Briefes nur andeuten 
fonnte, jegt aber näher entwideln will, daß nämlich dieſer Gegenſatz nicht 
(wie die von Kant abgewichenen neueften Philofophen fälfchlich anneh- 
men) mit dem Gegenfaß von Geift und Natur, fondern mit dem Gegen 
ja von Ding an fih und Erſcheinung (in der Schopenhauer’: 
hen Sprade Wille und Vorftellung) zufammenfält, — Kant, 
fage ich, war es, der zu dieſer richtigern Anficht den Grund gelegt bat. 

Die gewöhnliche Anficht der Natur, fagt Schopenhauer, nimmt 
an, daß ed zwei grundverfchiedene Principien der Bewegung gebe, 
daß alfo die Bewegung eines Körperd zweierlei Urfprung haben 
fönne, Daß fie nämlich entweder von innen ausgehe, wo man jie 
dem Willen zufchreibt, oder von außen, wo fie durch Urſachen 
entfteht. Ich hingegen lehre, daß Beides unzertrennlich fei und bei 


208 


jeder Bewegung eines Körpers zugleich flatthabe. Denn die eins 
geftändlich aus dem Willen entfpringende Bewegung fest immer 
auch eine Urſache voraus: dieſe ift bei erfennenden Wefen ein 
Motiv; ohne fie ift jedoch auch bei diefen Die Bewegung unmöglich. 
Und andererfeitd die eingeftändlih durch eine Außere Urfache be- 
wirfte Bewegung eines Körpers ift an fih doch Aeußerung des 
Willens, welde durdy die Urſache blos hervorgerufen wird. Es 
gibt demnach nur ein einziges, einförmiges, durchgaͤngiges und aus⸗ 
nahm8lofes Princip aller Bewegung: ihre innere Bedingung ift 
Wille, ihr äußerer Anlaß Urfache, welche, nad) Befchaffenheit des 
Bewegten, zum Reiz oder zum Motiv gefteigert werden kann ®). 

Nun werden Sie freili fragen, woher denn der täufchende 
Schein fomme, daß, obwol auch unfer Handeln durch Urfachen ftreng 
neceffitirt ift, wie die Begebenheiten der Natur, wir und dennod für 
frei halten, die Ratur aber nicht. Da muß id) Sie denn auf die meifter- 
hafte, gleich an die obige Stelle ſich anfchließende Auseinanderfegung 
Schopenhauer's **) verweilen, in welcher dargethan wird, daß, je 
höher man in der Wefenleiter fteigt, deſto mehr fi) Urfache und 
Wirkung fondern, deito mehr alfo die Aehnlichfeit zwifchen Beiden 
verfehwindet, bis dann zulegt, im Menſchen, eine fo große Berfchie- 
denheit zwijchen Urſache und Wirkung bervortritt, daß es dem rohen 
Verſtande nunmehr erfheint, als fei gar Feine Urſache mehr vors 
handen, al8 hänge der Willensart von gar Nichts ab, fei alfo grund 
08, d. h. frei. 

Einige der von Schopenhauer angeführten Beifpiele mögen Ihnen 
dieſes erläutern. Auf der niebrigften Stufe der Natur find Urſache 
und Wirfung ganz gleichartig und ganz gleichmäßig, weshalb wir 
bier die Caufalverfnüpfung am vollfommenften verftehen, 3. B. die 
Urfache der Bewegung einer geftoßenen Kugel ift die einer andern, 
welche eben fo viel Bewegung verliert, als jene erhält. Die hervor: 
zubringende Wirfung muß bier ganz und gar aus ber Urfache 
herüberwandern, und fo iſt's bei allen rein mechanifchen Wirkungen, 
weil hier Urfache und Wirkung nicht qualitativ verfchieden find. — 


*) „Meber den Willen in der Natur”, ©. 85. 
”?) „Weber den Willen in der Natur”, S. 86 — 96. 




















—— 
anders iſt ed, fobato wir und. auf der Stuenleiter der Cr 
erheben. 


auch nicht durch) einander direct mefbar. Noch heterogener 
wir Wirkung und Urfade, wenn wir die Wirfungen der 
oder der Voltaifchen Säule vergleichen mit ihren Urs 
hen, mit Reibung des Glaſes oder Aufſchichtung und Oxydation 

Platten. Hier ift die Verbindung von Urſache und Wirkung 
‚unverftänblicher, als bei der geftoßenen Kugel, bie Körper 
gen Empfänglichkeit für einen caufalen Einfluß, deſſen Wefen uns 
bleibt. Und dennoch iſt diefes noch mehr der Fall, 
bis zu den organifchen Reichen erheben, wo das 
Lebens ſich Fundgibt, Zwiſchen dem Erdreich und 


heilſamer, giftiger, nährender, die ein Boden trägt, ein Sonnenlicht 
beſcheint, ein Regen tränft, ift Feine Achnlicfeit mehr und deshalb 
für und, Denn die Gaufalität tritt hier ſchon 
im höherer Potenz auf, nämlich, als Reiz und Empfänglichfeit für 
ſolchen, Nicht nur findet feine qualitative Aehnlichfeit zwiſchen der 
Urſache und der Wirfung mehr ftatt, fondern auch Fein quantitas 
tived Verhaͤltniß; die Wirkung des Reizes wächt nicht nach Map- 
‚gabe feiner Steigerung, fondern oft iſt es umgefehrt. Treten wir 
nun aber gar in das Reich ver erfennenden Wefen, fo ift zwiſchen 
der Handlung und dem Gegenftand, der als Vorftellung ſolche hers 
vorruft, weder irgend eine Achnlichfeit, noch ein Verhältniß. In— 
wiſchen iſt bei dem auf anſchaulich e Vorftellungen befchränften 
Thiete mod; die Gegenwart des als Motiv wirkenden Objects 
möthigz; denn das Thier Fannı feinen Begriff mit ſich herumtragen, 
‚der e8 vom Eindrud der Gegenwart unabhängig macht und vollen 
Raum zur Ueberlegung gibt. Dies kann der Menſch. Volleuds 
alſo bei vernünftigen Wefen ift das Motiv fogar nicht mehr ein 
Gegentwärtiges, ein Anſchauliches, ein Worhandenes, ein Reales, 
fondern ein bloßer Begriff, der fein Dafein allein im Gehirn des 
Handelnden hat *). 


*) Bergl, das Nähere in: „Die beiden Orundprobleme der Eihil“, S. 35fg. _ 
k 14 


I 


' 


Und biejer jo übesgrob gewerbenrn Senterung AInichen Vxjeche 
une Wifung enticht nun der trägerndge Shen der Freiheit des 
Renſchen im Öegenjag zu Aothwendigkeit der Raıaı, wäh 
sc doch in Wahcheit das menihähe Than une Iıriben chemie 
ſtreng, wenn and durch cine andere Art ven Uredhen, meciuut iR, 
wie ver Fall eines Steines, rad Rollen einer Auge u |. w. „&ö 
iR durdans”, fagı Echepenhaner, „werer Mosapber meh Heverbel, 
fenbern ganz trodene und buchfäbliche Wahrheit, Def, je wenig eine 
Angel auf tem Billard in Bewegung gerathen fann, che je einen 
Stoß cıhält, ebenſo wenig ein Menxh ron feinem Stuhle aufchen 
faun, che cin Metiv ihn wegzicht oder treibt: Dann uber if jein 
Anfüchen jo nothwendig und unanöbleiblih, wie dad Rellen ver 
Angel nad dem Stoß. Wer ciwa, dergleichen behampıend, im einer 
Geſellichaft Hartmädigen Biderfpruch erführe, würbe am bürzeiten an 
"ver Sache fonımen, wenn er durch einen Dritten plöglich mit lauter 
und ernfler Stimme rufen ließe: «das Gchälf ſtürzt cin!» werurd 
die Widerjpredher zu der Einfiht gelangen würten, daß cin Metiv 
ebenfo mächtig iR, die Leute zum Haufe hinausjuwerfen, wie bie 
handfeſteſte mechaniſche Urſache.“) 

Die Fabel vom Eſel des Buridan wird Ihnen befannt fein. 
Laͤßt man einmal die darin zu Grunde gelegte Vorausſegung gelten, 
daß nämlich ein Hungriger Efel zwiſchen zwei Bündel Hen jo geſtellt 
fei, daß beide ihn gleih Hark anzichn, jo muß man allerdings 
zugeben, daß er vor Hunger umfommen würde, ehe er nur das eine 
oder andere angriffe. Aber nicht nur ein Ejel würde fo Häglich 
umfommen, fondern auch ein Menſch in gleicher Lage, wenn nän- 
lich zwei Speifen gleich Rark feinen Appetit erregten oder Speife und 
Trank ihn gleich ſtark anzögen **). 

Um die Entſtehung des Irrthums, als feien wir im Befite eines 
Willens, der, allen Geſetzen der Natur zuwider, ohne Gründe ſich 
enticheiden könne, defien Entfchlüffe, unter gegebenen Umftänven, fo 
oder auch entgegengejegt ausfallen Fönnten, — aufs veutlichfte zu 


*) „Die beiden Grunbprobleme der Ethik”, ©. 46. 
**) Vergl. bie interefianten hiftorifchen Notizen über den Efel des Buridan 


in: „Die beiden Grundprobleme der Ethik“, ©&. 60. 


2 


erläutern, führt Schopenhauer das Beifpiel eines Menſchen un, der, 
etwa auf ber Gaſſe ftehend, zu fich fügte: „Es iſt 6 Uhr Abende, 
die Tagesarbeit ift beendigt. Ich kann jegt einen Spaziergang machen; 
oder ich Fann in ben Club gehen; ich fann auch auf den Thurm 
Feigen, die Sonne untergehen zu ſehen; ich fann auch ind Thenter 
geben; ich ann auch diefen, oder aber jenen Freund befuchen; ja, 
ich fann aud zum Thor hinaus laufen, in die weite Welt, und nie 
wieder fommen. Das Alles fteht allein bei mir, ich habe völlige 
Freiheit dazu; thue jedoch davon jegt nichts, fondern gehe ebenſo 
freiwillig nad) Haufe, zu meiner Frau.” Das it gerade jo, fügt 
Schopenhauer, als wenn das Waffer foräche: „ich kann hohe Wellen 
ſchlagen (ja! nämlich im Meer und Sturm), ich kann reißend hinab⸗ 
eilen (ja! nämlich im Bette des Stroms), ich kann ſchaumend und 
ſprudelnd Hinumterftürzen (ja! nämlich im Wafferfal), ich kann frei, 
als Strahl in die Luft fteigen (ja! nämlich im Springbrunnen), ich 
fan endlich gar verfochen und verſchwinden (ja! bei 80° Wärme); 
thue jedoch von dem Allen jetzt nichts, fondern bleibe freiwillig, ruhig 
und Har im fpiegelnden Teiche.“ Wie das Waſſer jenes Alles nur 
dann Fan, wenn die beftimmenden Urſachen zum Einen oder zum 
Andern eintreten; ebenfo kann jener Menfch, was er zu können wähnt, I 
nicht anders, als unter berfelben Bedingung. Bis die Urfachen eins 
treten, iſt es ihm unmöglid: dann aber muß er es, jo gut wie das 
Bafler*). 


‚Sie fehen alfo, verehrter Freund, daß die Täufhung über die 
unbefchränfte Freiheit des Willens daraus entfpringt, daß wir und 
‚gleichzeitig Vieles als ausführbar vorftellen fönnen und nun meinen, 
von dem vielen Vorgeftellten Fönnten wir beliebig Diefes oder Jenes 
berausgreifen, während doch in jedem Moment immer nur Eines von 
dent vielen Vorgeſtellten mit Ausfchluß alles Uebrigen ald wirt . 
liches Motiv eintreten kann. Die Meinung: „ich fann Dies wollen”, 
Äft, wie Schopenhauer richtig bemerkt, in Wahrheit hypothetiſch und 
führt den Beifag mit fih: „wenn ich nicht lieber jenes Andere 
wollte‘ **), * 


* De Grundprobleme der Ethit“ S. A4fg. 
ER 
14* 


212 


Die Sphäre der Objecte unſers Vorſtellens ift alfo nicht zu 
verwechfeln mit ber Sphäre der Objecte unferd Willens. Jene 
fann fehr weit fein; diefe Hingegen ift in der Regel jehr eng. Auch 
ft Wünfchen nicht zu verwechieln mit Wollen. So lange, fagt 
Schopenhauer, der Willensacd im Werden begriffen ift, heißt er 
Wunſch, wenn fertig, Entfchluß; daß er aber dies ſei, beweift 
dem Selbftbewußtfein erft die That: denn bis zu ihr ift er ver 
änderlih. „Und bier flehen wir fchun glei an der Hauptquelle 
jenes allerdings nicht zu leugnenden Scheines, vermöge deſſen ber 
Unbefangene (d. i. philoſophiſch Rohe) meint, daß ihm in einem 
gegebenen Fall entgegengefegte Willensacte moͤglich wären, und babei 
auf fein Selbftbewußtfein pocht, welches, meint er, dies ausfagte. 
Er verwechielt nämlih Wünſchen mit Wollen. Wünfchen Tann 
er (conträr) Entgegengefebtes; aber Wollen nur Eines davon: und 
welches vieles fei, offenbart auch dem Selbftbewußtjein allererft die 
That *). 

Eine Wahlfreiheit findet allerdings ftatt; aber die fogenannte 
MWahlfreiheit ift, wie Schopenhauer gezeigt hat, eine blos relative 
und hebt keineswegs die Rothwendigfeit der Handlungen auf. 
Der Menſch nämlid bat, vermöge feiner Fähigkeit nihtanfhaus 
licher Borftelungen (d. i. abftracter Begriffe der Vernunft), ver« 
mitteld deren er denkt und reflectirt, einen unendlich weitern Ges 
fichtöfreis, der das Abwefende, das BVergangene, das Zufünftige 
begreift: dadurch hat er eine fehr viel größere Sphäre der Einwir: 
fung von Motiven und folglih aud der Wahl, als das auf bie 
enge Gegenwart befchränfte Thier. Nicht das feiner finnlihen Ans 
fhauung Borliegende, in Raum und Zeit Gegenwärtige ift, in ber 
Regel, was fein Thun beftimmt: vielmehr find es bloße Gedanken, 
bie er in feinem Kopfe überall mit fi) herumträgt und die ihn vom 
Eindrud der Gegenwart unabhängig machen. Wenn fie aber dies 
zu thun verfehlen, nennt man fein Handeln .unvernünftig: daffelbe 
wird hingegen ald vernünftig gelobt, wenn es ausfchließlich nach 
wohl überlegten Gedanfen und daher völlig unabhängig vom Ein- 
drud der anfchaulichen Gegenwart vollzogen wird. Eben Diefes, 


*) „Die beiden Grundprobleme der Cthik“, ©. 17. 


man geradezu fieht, wie gleichfam feine, ra ; 


ſchled nicht. Motiv wird der Gedanke, wie die Anfcauung Motiv 
wird, fobald fie auf den vorliegenden Willen zu wirken vermag. 
Alle Motive aber find Urſachen und alle Caufalität führt Nothr 
wendigfeit mit fi. Der Menſch fann nun, mittels feines Denk: 
vermögend, die Motive, deren Einfluß auf feinen Willen er fpürt, 
in beliebiger Ordnung, abwechſelnd und wiederholt ſich vergegen- 
wärtigen, um fie feinem Willen vorzuhalten, welches überlegen 
heißt: er iſt veliberationsfähig und hat, vermöge diefer Bähigfeit, 
eine: weit größere Wahl, als dem Thiere moͤglich ift. Hierdurch ift 
er allerdings relativ frei, nämlidy frei vom unmittelbaren Zwange 
ber anfchaulich gegenwärtigen, auf feinen Willen als Motive 
wirlenden Dbjecte, welchem das Thier ſchlechthin unterworfen ift: 
er hingegen beftimmt ſich unabhängig von den gegenwärtigen Ob⸗ 
jeeten, nad) Gebanfen, welche feine Motive find. Diefe relative 
Freiheit it es wol auch im Grunde, was gebildete, aber nicht tief 
denfende Leute unter der Willensfreiheit, die der Menfch offenbar 
vor dem Thiere voraus habe, verftehen. Diefelbe tft jedoch eine blos 
relative, nämlich in Beziehung auf das anſchaulich Gegenwärtige, 
und eine blos comparative, nämlich im Vergleich; mit dem Thier. 
Durch fle iſt ganz allein die Art der Motivation geändert, hingegen 
die Rothwendigkeit der Wirkung der Motive im Mindeften nicht 
aufgehoben ober auch nur verringert. Das abftracte, blos ger 
dachte Motiv ift eine äußere, den Willen beftimmende Urſache, fo 
gut wie das anſchauliche, in einem realen, gegenwärtigen Object 
beftehende: folglich ift es eine Urfache wie jede andere, ja ift auch, 
wie die andern, ſtets ein Reales, Materielles, fofern es allemal 


| 


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zik 


zulegt doc auf einem irgend wann und irgend wo erhaltenen Ein- 
drud von außen beruht. Es bat bloß die Länge des Leitunge- 
bratbes voraus: d. h. es ift nicht, wie die blos anſchaulichen 
Motive an eine gewiſſe Nähe im Raum und in der Zeit gebunden; 
‚ fondern Tann dur die größte Entfernung, durch die längfte Zeit 
und durch eine Vermittelung von Begriffen und Gebanfen in langer 
Berfettung hindurch wirken, welches eine Folge der Beichaffenheit 
und eminenten Empfänglichfeit des Organs ift, dad zunächft feine . 
Einwirfung erfährt und aufnimmt, nämlich des menjchlichen Gehirns, 
oder der Bernunft. Dies hebt jedoch feine Urfächlichkeit und bie 
- mit ihr geſetzte Nothwendigkeit im mindeften nicht auf. Daher 
kann nur eine ſehr oberflädyliche Anfiht jene relative und comparative 
Freiheit für eine abfolute, ein liberum arbitrium indifferentiae, 
halten. Die durch fie entſtehende Deliberationsfähigfeit gibt in der 
That nichts Anderes, als den fehr oft peinlihen Conflict ber 
Motive, dem die Unentſchloſſenheit vorfigt und deſſen Kampfplatz 
nun das ganze Gemüth und Bewußtfein des Menfchen if. Gr 
läßt nämlich die Motive wiederholt ihre Kraft gegeneinander an 
feinem Willen verfuchen, wodurch diefer in diefelbe Lage geräth, in 
der ein Körper ift, auf welchen verſchiedene Kräfte in entgegen- 
geſetzten Richtungen wirken, — bis zuleht das entichieden ftärkfie 
Motiv die andern aus dem Felde fhlägt und den Willen beftimmt; 
welcher Ausgang Entfchluß heißt und ald Refultat des Kampfes 
mit völliger Nothwendigkeit eintritt ®). 

Sprit nun ſchon das Bisherige flark genug gegen die Bes 
bauptung der Willensfreiheit im Sinne des liberi arbitrii in- 
differentiae, fo det Folgendes noch vollends die Richtigkeit ders 
jelben auf: 

Woraus, fagt Schopenhauer, unter der Annahme der Willend- 
freiheit, Tugend und Lafer, oder überhaupt die Thatſache, daß 
zwei gleich erzogene Menſchen, unter völlig gleichen Umftänden 
und Anläffen, ganz verfchieven, ja entgegengefegt handeln, eigentlich 
entipringen fol, ift ſchlechterdings nicht abzufehen. Die thatfächliche 
urjprüngliche Grundverfchiedenheit der Charaktere ift unvereinbar mit 





*) ‚Die beiden Grumbprobleme der Ethik", S. 36—38. 


oder der andern Seite hin Haben, weil diefe 
ibero 


ſchon im Kinde, zeigt dort im Meinen, was er einft im Grofien 
fein wird, Ueberhaupt ift ja die Nothwendigfeit, mit der, wie 
oben dargethan, die Motive, gleich allen Urſachen, wirfen, feine 
vorausfegungslofe. Die innere Voransfegung, der Grund und 
Boben, worauf fie fußt, ift der angeborene individuelle Cha- 
rafter. Wie jede Wirkung in der unbelebten Natur ein noth⸗ 
wenbiges Product ziveier Bactoren iſt, nämlich der ſich hier offen 


eingetretenen Motive. Sind diefe beiden gegeben, fo erfolgt fie 
mausbleibiih. Damit eine andere entftände, müßte entweder ein 
anderes Motiv ober ein anderer Charakter gefegt werden. Auch 
wide jede That ſich mit Sicherheit vorherfagen, ja berechnen 
laſſen, wenn nicht theils der Charakter ſehr ſchwer zu erforfchen, 
auch das Motiv oft verborgen wäre. Dur den ange 
Charakter des Menſchen find ſchon die Zwedte überhaupt, 
er unabänderlich nachftrebt, im Wefentlihen beftimmt: die 
er dazu ergreift, werben beftimmt theils durch die 
theils durch feine Auffaſſung derfelben, deren 
von feinem Verſtande und deſſen Bildung ab- 
Endrefultat von dem Allen erfolgen nun feine ein- 
, mithin die ganze Rolle, welche er in der Welt zu 
— Immer wird jegliches Wefen, welcher Art es auch 

der einwirfenden Urfachen, feiner eigenthümlichen 
eagiren, Diefes Gefep, dem alle Dinge der Welt, 


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Zwanzigfier Brief. 


Berantwortlidkeit unn Zurehnungsfähigkleit des Menihen. — 

Barum viefelbe durch die Nothwendigkeit ver Handlungen nit auf: 

gehoben wird. — Die durchgängige moralifhe Tendenz der Schopen- 

bauer’ihen Philoſophie. — Unmoraliſche Folgen des Carteſtaniſchen Dua- 

lismus zwiſchen Geiſt und Natur. — Unterſchied des Schopenhauer'ſchen 

Monismus vom Pantheismus. — Die moderne Offenbarung: 
philoſophie. 


Sie haben, verehrter Freund, auf die zuletzt Ihnen nachgewieſene 
Identitaͤt des Weſentlichen in allen Vorgängen der Natur und des 
Menſchenlebens erwidert, daß, was uns dieſe Ipentität anzuer⸗ 
kennen erſchwere, die Verantwortlichkeit und Zurechnungs⸗ 
fähigkeit des Menſchen ſei. Wenn, ſagen Sie, ein Moͤrder mit 
derſelben Nothwendigkeit den Stahl in ſeines Naͤchſten Bruſt ſtoße, 
als ein ſchwerer herabfallender Stein einen Vorübergehenden töbtet; 
oder, wenn ein Tugendhafter mit derjelben Rothwendigfeit einen 
Leidenden, Hülfebebürftigen unterftüße, als ein Heilmittel vie 
Schmerzen eines Kranken lindert, — Furz, wenn fein wefentlicher 
Unterſchied zwiſchen den bewußten Willensacten des Menfchen und 
den blinden Raturacten fei, — wo bleibe da die menſchliche Schuld 
oder eventuell das menſchliche Verdienſt? — Diefer Scrupel be- 
unrublgt Sie noch und daher wünfchen Sie, daß ich Ihnen Scho- 
penhauer’8 Löfung biefer Schwierigkeit mittheile. 

So hören Sie denn in aller Kürze, was Schopenhauer darüber 
fagt. Das völlig deutliche und fichere Gefühl der Berantworts 


219 


lichkeit für Das, was wir thun, der Zurehnungsfähigkeit für 
unfere Handlungen, beruht nach ihm auf ber unerſchütterlichen Ger 
wißheit, daß wir feloft die Thäter unferer Thaten find, Vers 
möge dieſes Bewußtſeins kommt es Keinem, auch Dem nicht, ber 
von der bisher dargelegten Nothwendigfeit, mit welcher unfere Hand⸗ 
kungen eintreten, völlig überzeugt ift, jemals in den Sinn, ſich für 
ein Vergehen durch diefe Nothwendigkeit zu entſchuldigen und bie 
Schuld von fid) auf die Motive zu wälgen, da ja bei deren Eintritt 
die That umansbleiblih war, Denn er fieht fehr wohl ein, daß 
diefe Nothwendigkeit eine fubjective Bedingung hat, und daß hier 
objective, d. h. unter den vorhandenen Umftänden, alfo unter der 
Einwirkung der Motive, die ihn beftimmt haben, dod) eine ganz 
andere Handlung, ja, die der feinigen gerade entgegengefehte, ſehr 
wohl möglid) war und hätte gejchehen fönnen, wenn nur Er ein 
Anderer gewefen wäre: hieran allein hat es gelegen. Ihm, 
weil er Diefer und Fein Anderer ift, weil er einen ſolchen und ſolchen 
Gharafter hat, war freilich feine andere Handlung möglich: aber an 
ſich ſelbſt, alfo objective, war fie möglich, Die Verantwortlich- 
feit, deren er ſich bewußt iſt, trifft daher zunächſt und oftenfibel die 
That, im Grunde aber feinen Charakter: für diefen fühlt er ſich 
verantwortlich. And für diefen machen ihn auch die Andern ver- 
antwortlich, indem ihr Urtheil fogleih die That verläßt, um die 
Eigenſchaft des Thäters feftzuftellen: „er ift ein ſchlechter Menſch, 
ein Böfewicht‘, ober „er ift eine Meine, falſche, niederträchtige 
Seele", — fo lautet ihr Urtheil und auf feinen Charakter laufen 
ihre Vorwürfe zurüd. Die That, nebft dem Motiv, kommt dabei 
blos als Zeugnig von dem Charakter des Thäters in Betracht, gilt 
aber als ficheres Symptom defielben, wodurch er unwiderruflich und 
für immer feftgeftelft ift. Nicht auf die vorübergehende That, fon 
dem auf die bleibenden Eigenſchaften des Thäters, d. h. des Char 
tafterö, aus welchem fie hervorgegangen, wirft ſich der Haß, der 
Abſcheu und die Verachtung *). 

Für die Welt der Erfahrung, fagt Schopenhauer, fteht das 
Operari sequitur esse ohne Ausnahme feit. Jedes Ding wirft 


*) „Die beiden Grunbprobleme der Ethit“, S. 91 fg. 


220 


gemäß feiner Beichaffenheit, und fein auf Urſachen erfolgendes Wir- 
Ten gibt diefe Beichaffenheit Fund. Jeder Menſch handelt nad) dem 
wie er ift, und die demgemäß jedesmal nothwendige Handlung bes 
ſtimmen, für den individuellen Fall, allein die Motive. Die reis 
heit, welche daher im Operari nicht anzutreffen fein kann, muß im 
Esse liegen. Es ift ein Grundirrthum, ein Dorspov rpötspov 
aller Zeiten gewefen, die Nothwendigfeit dem Esse und die Freiheit 
dem Operari beizulegen. Umgefehrt, im Esse allein liegt bie 
Freiheit, aber aus ihm und den Motiven folgt dad Operari mit 
Rothwendigfeit: und an Dem, was wir thun, erfennen wir, 
was wir find. Hierauf, und nicht auf dem vermeintlichen libero 
arbitrio indifferentiae, beruht das Bewußtfein der Berantwortlichkeit 
und die moralifhe Tendenz des Lebens. Es kommt Alles darauf 
an, was Einer ift: was er thut, wird fih daraus von felbft ergeben, 
als ein nothwendiges Corollarium. Das alle unfere Thaten, troß 
ihrer Abhängigfeit von den Motiven, unleugbar begleitende Bewußt⸗ 
fein der Eigenmächtigfeit und Urfprünglichfeit, vermöge deſſen fie 
unfere Thaten find, trügt demnach nit. Mit Einem Wort: der 
Menſch thut allezgeit nur was er will, und thut es boch noth⸗ 
wendig. Das liegt aber daran, daß er fchon ift, was er will: denn 
aus Dem, was er ift, folgt notbwendig Alles, was er jebes ınal 
thut . 

Sie ſehen alſo, verehrter Freund, daß die Verantwortlichkeit und 
Zurechnungsfaͤhigkeit keineswegs mit der Nothwendigkeit der Hand⸗ 
lungen ſtreitet. Die Verantwortlichkeit und Zurechnungsfähigkeit 
iſt vielmehr ſogar nur bei der Annahme der Schopenhauer'ſchen 
Lehre, wonach Wille der urfprüngliche Kern jedes Weſens ift, jede 
alfo Das ift, was ed felbft fein will, haltbar. Nimmt man 
hingegen das theologifche Syſtem an, wonach ein ertramundaner 
Gott die Welt gefchaffen hat, fo läßt ſich damit die Verantwortlich 
feit des Menfchen nicht zufammenreimen. Denn es ift unwibderleglich, 
was Schopenhauer bei Gelegenheit der Bhilofophie des Scotus Erigena 
jagt, daß nämlich Freifein und Gefchaffenfein zwei einander aufhebenbe, 
alfo fich widerfprechende Eigenfchaften find; daher die Behauptung, Gott 


"I „Die beiden Grundprobleme der Ethik”, S. 95 fg. 


Denn operari sequitur esse, d. h. die Wirfungen oder Actionen 
jedes irgend möglichen Dinges fönnen nie etwas Anderes, als bie 
Folge feiner Beichaffenheit fein; welche ſelbſt fogar nur an ihnen erfannt 
wird. Daher müßte ein Wefen, um in dem bier gefoderten Sinne 
frei zu fein, gar feine Befchaffenheit haben, d. h. aber gar nichts 
fein, alſo fein und nicht fein zugleich. Denn was ift, muß auch 
etwas fein: eine Exiftenz ohne Eſſenz läßt ſich nicht einmal denken 
It nun ein Wefen gefchaffen: fo ift es fo geſchaffen, wie es be- 
ſchaffen iſt, und ſchlecht befhaffen, wenn es ſchlecht handelt, 
d. h. wirft. Demzufolge wälzt die Schuld der Welt, wie ihr 
Uebel, welches jo wenig, wie jene abzuleugnen ift, fid) immer auf 
ihren Urheber zurück, von welchem es abzuwälzen Auguftinus und ” 
Scotus Erigena ſich jämmerlich abmühen H. 

‚ Weit entfernt alfo, daß die Schopenhauer'ſche Lehre von der 
wefentlichen Identität des Willens im Menſchen mit dem Willen in 
der Natur und von der Urfprünglicyfeit oder Aſeität diefes in der 
Welt erfcjeinenden Willens, die Moral aufhöbe, fo ift fie es viel- 
mehr, durch welche die Welt durchweg eine moralijche Tendenz erhält, 
und Schopenhauer hat daher nicht Unrecht, wenn er von ſich rühmt: 
Meine Philoſophie ift die einzige, welche der Moral ihr ganzes und 
volles Recht angedeihen läßt: denn nur wenn das Weſen des Men- 
ſchen fein eigener Wilfe, mithin er, im ftrengften Sinne, fein eigenes 
Wert ift, find feine Thaten wirklich ganz fein und ihm zuzurechnen, 
Sobald er hingegen einen andern Urfprung hat, oder das Werk 
eines von ihm verſchiedenen Weſens ift, fällt alfe feine Schuld zurück 
„auf biefen Urfprung oder Urheber, Denn operari sequitur esse. — 
Die Kraft, welche das Phänomen der Welt hervorbringt, mithin die 
Beſchaffenheit derfelben beftimmt, in Verbindung zu ſehen mit der 
Moralität der Gefinnung, und dadurch eine moralifhe Welt 
orbnung als Grumdlage der phyfifchen nachzuweiſen, — Dies, 
fagt Schopenhauer, ift feit Sofrates das Problem der Philoſophie 
geweſen. Der Theismus leiftete es auf eine kindliche Weife, welche 


) „Barerga und Paralipomena”, Bd. 1, 8. 9. 


222 


der herangereiften Menfchheit nicht genügen Fonnte. Daher ftellte 
fi ihm der Pantheismus, fobald er irgend ed wagen durfte, 
entgegen und wies nach, daß die Ratur die Kraft, vermöge welcher 
fie heroortritt, in fich jelbft trägt. Dabei mußte nun aber die Ethik 
verloren gehen: felbft Spinoza konnte fih, um fie zu retten, nur 
durch Sophismen helfen. Denn an den unabweisbaren Foderungen 
der Ethik, nächſtdem am Uebel und dem Leiden der Welt, fheitert 
der Bantheismus. Iſt die Welt eine Theophanie, fo ift Alles, was 
der Menſch, ja aud das Thier thut, gleich göttlidh und vortrefflich: 
nichts kann zu tabeln und nichts vor dem Andern zu loben fein; 
alfo Feine Eihif, Nur dann, wenn man die Welt ganz von außen 
und allein von der phyfifalifchen Seite betrachtet und nichts 
Anderes, als die ſich immer wieder herftellende Orbnung und Unvers 
gaͤnglichkeit des Ganzen im Auge behält, geht es allenfalls, doch 
immer nur ſinnbildlich an, fle für einen Gott zu erflären. Tritt 
man aber ins Innere, nimmt alfo die fubjective und moralifche 
Seite hinzu, mit ihrem Uebergewicht von Noth, Leiden und Dual, 
von Zwiefpalt, Bosheit, Verruchtbeit und Berfehrtheit, da wird man 
bald mit Schrecken inne, daß man nichts weniger, als eine Theo⸗ 
phanie vor fih bat. — Ich nun aber, fährt Schopenhauer fort, habe 
gezeigt und habe ed zumal in der Schrift „Vom Willen in ver 
Ratur“ bewiefen, daß die in der Natur treibende und wirkende Kraft 
identifch ift mit dem Willen in und. Dadurch tritt nun wirklich 
bie moralifhe Weltordnung in unmittelbaren Zufammenhang mit 
der das Phänomen der Welt hervorbringenden Kraft. Denn ber 
Beichaffenheit des MWillens muß feine Erjcheinung genau ent- 
fprechen, und die Welt, obgleich aus eigener Kraft beftehend, erhält 
durchweg eine moralifche Tendenz ®). 

Je mehr Sie fi, verehrier Freund, in die Schopenhauer’sche 
Philofophie vertiefen werden, deſto mehr werden Sie erfennen, daß 
durch ihre Rachweifung der weſentlichen Spentität des Willens auf 
allen Stufen feiner Erſcheinung, durch die Nachweifung der Identität 
des Wefentlichen in allen Borgängen der Natur und ded Menfchen- 
lebens ein großer Schritt gefchehen fe. Der falfhe Dualismus 


*)',, Die Welt ald Wille und Borftellung”, Bd. 2, Cap. 47, ©. 586 fg. 


wiſchen Natur und Menſch, oder in moderner Terminologie Natur 
und Geift, — ift dadurch für immer befeitigt und damit einer 
Menge von Borurtheilen der Kopf abgehauen. 

Die ans jenem Dualismus 'entfpringenden Vorurtheile waren 
nicht etwa blos unfduldiger theoretifcher Art, fondern fie hatten 
auch praftifche, moraliſche Folgen. Denn die Moral ift nothe 
wendig da eine ganz andere, wo ber Menſch eine ſcharfe Scheider 
wand zwifchen fich und der Natur zieht, ald da, wo er feine weſent⸗ 
liche Identität mit derfelben anerkennt. Hören Sie nur z. B. was 
Schopenhauer in Betreff des moraliihen Verhaltens gegen die 
Thiere fagt: 

Die vermeinte Nechtlofigfeit der Thiere, der Wahn, daß unfer 
Handeln gegen fie ohne moralifche Bedeutung fei, oder, daß es 
gegen Thiere Feine Pflichten gebe, ift geradezu eine empörende Roh⸗ 
beit und -Barbarei des Decidents, beruhend auf der aller Evidenz 
zum Trotz angenommenen gänzlichen Verſchiedenheit zwiſchen Menſch 
und Thier, welche bekanntlich am entſchiedenſten und grellſten von 
Gartefius ausgeſprochen ward, als eine nothwendige Conſequenz 
feiner Irrthümer. Als naͤmlich die Carteſius-Leibnih⸗Wolf ſche Phi— 
loſophie aus abſtracten Begriffen die rationale Pſychologie aufbaute 
und eine unſterbliche anima rationalis conſtruirte, da traten die na⸗ 
türlichen Anfprüche der Thierwelt dieſem excluſiven Privilegio und 
Unfterblicpfeitspatent der Menſchenſpecies augenfcheinlich entgegen, 
und die Natur legte, wie bei allen ſolchen Gelegenheiten, ſtill ihren 
Vroteft ein. Nun mußten die von ihrem intellectuellen Gewiſſen 
geängftigten Philofophen fuhren, die rationale Pfychologie durch die 
empirifche zu ftügen und daher bemüht fein, zwiſchen Menfd und 
Thier eine ungeheuere Kluft, einen unermeßlichen Abftand zu eröffnen, 
um, aller Evidenz zum Trog, fie ald von Grund aus verfchieden 
barzuftellen. Solchen Sophifticationen der Philofophen analog finden 
wir auf dem populären Wege die igenheit mancher Spradyen, 
namentlid der deutfchen, daß fie für das Gffen, Trinken, Gebären, 
Sterben, und den Leichnam der Thiere ganz eigene Worte haben, 
um nicht die gebranchen zu müfjen, welche jene Acte beim Menfchen 
bezeichnen, und fo unter der Diverfität der Worte die vollfommene 
Voentität der Sache zu verfteden. — Auf die Erfenntniß der Iven- 


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228 


tität des MWefentlichen in der Erfcheinung des Thieres und des Men- 
fchen leitet aber nichts entfchiedener ‚bin, als die Beichäftigung mit 
Zoologie und Anatomie. Das, woburd der Menſch ſich vom Thiere 
unterfcheibet, ift offenbar nicht das Primäre, das Princip, der Archäus, 
das innere Wefen, der Kern beider Erfcheinungen, welcher in ver 
einen wie der andern der Wille des Individuums ift, fondern 
allein das Serundäre, der Intellect, der Grad der Erfenntnißfraft, 
welcher beim Menſchen, dur das hinzugefommene Vermögen ab- 
ftracter Erfenntniß, genannt Vernunft, ungleich höher fteht, jedoch 
erweislich nur vermöge einer größern cerebralen Entwidelung, alfo 
der fomatifchen Verſchiedenheit eines einzigen Theile, des Gehirns. 
Hingegen ift des Gleichartigen zwifchen Thier und Menſch, fowol 
pſychiſch als fomatifh, ohne allen Vergleich mehr. So einem occi⸗ 
dentalifchen Thierverächter und Bernunftivolator muß man in Er- 
innerung bringen, daß, wie Er von feiner Mutter, fo auch der 
Hund von der feinigen gefäugt worben if. Daß die Moral des 
Chriſtenthums die Thiere nicht berüdfichtigt, ift ein Mangel defs 
felben, den es befier ift einzugeftehen, als zu perpetuiren *). 

Sie erjehen hieraus den moralifchen Vorzug der moniftifchen, 
nur ein Urweſen in allen Dingen erfennenvden Philofophie vor der 
dualiftifchen, die Welt in Natur und Geift fpaltenden. Während 
vom Standpunft der letztern aus ber ftolzge, über die Natur fi 
erhaben dünfende Geiſt fih nur gegen feines Gleichen, alfo gegen 
andere Geifter, zu Gerechtigkeit und Liebe verpflichtet glaubt, wird 
dagegen vom Standpunft der erftern Gerechtigkeit und Mitleid gegen 
alle fühlenden Wefen gefodert und als moraliſche Pflicht anerkannt. 
Die Moral der dualiſtiſchen (Earteftanifchen) Philofophie iſt alfo 
engherzig, die der moniftifhen (Schopenhauer’jchen) dagegen weit: 
herzig, allumfafiend. 

Ich fage ausdrücklich moniftifh und nit pantheiftifch, 
denn die Schopenhauer’fche Philofophie if, obwol Monismus, obwol 
das Ev xal xäv anerfennend, doch Fein Pantheismus, Feine Welt: 
vergötterung, wie ſchon aus obiger Stelle gegen den PBantheismus, 
(womit Sie „PBarerga und Paralipomena” Band 2, Gap. 5 ver- 


*) „Die beiden Grundprobleme ber Ethik“, S. 243—46. 


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L_ y 


gleichen koͤnnen), noch mehr aber aus dem ganzen ethiſchen Charakter 
der Schopen hauer ſchen Philofophie hervorgeht. Denn während der 
wejentlich Optimismus if, fo ift dagegen die Scho⸗ 
penhauerſche Philofophie das gerade Gegentheil des Optimismus, 
nennt den Optimismus geradezu. „nicht blos eine abfurde, fondern 
auch eine wahrhaft ruchi oſe Denfungsart“ »). 

Doch, da diefer Ieptere Punkt ſchon in die nahere Darfellung 
der Schopenhauer ſchen Ethik gehört, fo fpare ih mir denfelben. bis 
zu biefer auf. Gegenwärtig wollte id; Sie nur davor warnen, die 
Schopenhauer ſche Philofophie nicht wegen ihres moniſtiſchen Cha— 
ralters mit dem Pantheismus, der ja auch Monismus ift, zu vers 
wechfeln. Mit dem Pantheiften, fagt Schopenhauer, habe ich 
awar jenes & xal Täy gemein, aber nicht das räy Dede; weil id) 
über die (im weiteften Sinne genommene) Erfahrung nicht hinaus ⸗ 
gehe und ned) weniger mid) mit: den vorliegenden Datis in Wiber-| 
ſpruch ſete. Scotus Erigena erklärt, im Sinne des Pantheismus 
conſequent, jede Erſcheinung für eine Theophanie: dann muß. aber 
biefer Begriff auch auf die ſchrecllichen und ſcheußlichen Erſcheinungen 
übertragen werben: faubere Theophanien! **) 

Was Schopenhauer von den Pantheiſten unterfcheibet, ift haupt 
ſachlich Folgendes: 1) Daß ihr Teds ein x, eine unbefannte Größe 
if, der Wille hingegen unter allem Möglichen das und am ge 
naueſten Bekannte, das allein unmittelbar Gegebene, daher zur Er— 
Härung des Uebrigen ausfchließlih Geeignete ift. „Denn überall 
muß das Unbekannte aus dem Bekannten erklärt werden, nicht ums 
geehrt." — 2) Daß ihr Sede ſich manifeftirt animi causa, um feine 
Herrlichkeit zu entfalten. Dadurch find fie genöthigt, die koloſſalen 
Uebel der Welt hinweg zu fophiftichten: „aber die Welt bleibt in 
ſchreiendem und entfeglichem Widerſpruch mit jener phantafirten Vor 
trefflichteit ftehen.“ Bei Schopenhauer hingegen fommt der fündhafte 
Wille zulegt zur Selbfterkenntniß, wodurch feine Aufhebung, Wen ⸗ 
dung, Erlöfung, möglid wird. (Diefen Punkt werden Sie freilich erſt 
nach meiner Darftellung der Schopenhauer ſchen Lehre von der Ber 


*) „Die Welt als Wille und Vorftellung“, I, 308. 
* „Die Welt als Wille und Borftellung“, IL, 636. 


226 





jahung und Verneinung des Willens verftehen.) — 3) Daß Scho⸗ 


penhauer von der Erfahrung und dem natürlichen, Jedem gegebenen 
Selbftbewußtfein ausgeht und auf den Willen ald auf das einzige 
Metaphyſiſche binleitet, alſo den auffteigenden, analytifhen Gang 


nimmt; während die Pantheiften umgefehrt den herabfteigenven, ſyn⸗ 


| 


thetiichen nehmen, indem fie von ihrem Teog oder ihrem Abfolutum 
ausgehen und mitteld dieſes völlig Unbefannten alles Bekanntere 
erflären. — 4) Daß bei ven Pantheiften die Welt die ganze Möglich: 
feit alles Seins ausfüllt, während die Schopenhauer'ſche Ber- 
neinung des Willens noch Raum läßt für ein ganz anderartiges 
Sein. (Auch diefes werden Sie erft nach Darlegung der Lehre von 
der Bejahung und Berneinung des Willens verftehen.) — 5) Daß 
den PBantheiften die anfchauliche Welt, alfo die Welt ald Bors 
ftellung, eine an fich reale, eine Manifeftation des ihr inwohnenden 
Gottes ift, während bei Schopenhauer die vorgeftellte Welt ſich blos 
per accidens einfindet, als Gehirnphaͤnomen bei denjenigen Wefen, 
in welchen der Wille fi) bis zur Empfänglichkeit für Motive ges 
fteigert hat (wie ich Ihnen dieſes in meinen frühern Briefen dargelegt). 
Dadurh wird von der Entflehung der anfchaulicden Welt wirklich 
Rechenſchaft gegeben, nicht, wie bei den PBantheiften, mittels unhalts 
barer Fictionen *). 

Der Pantheismus fowol, ald der Theismus — dieſe Webers 
zeugung werden Sie dur dad Studium der Schopenhauer’fchen _ 
Werfe gewinnen —, find nicht nur theoretifch unhaltbar, fondern 
mit ihnen läßt fi auch Feine wahre Moral begründen. Sind 
wir (dem Theismus zufolge) ganz und gar Ereaturen Gottes, 


nun fo find nicht wir, fondern unfer Creator für all unfer Wollen 


und Bollbringen, es fei dieſes nun gut oder bös, verantwortlich. 


Anmert, „An einem Weſen“, fagt Schopenhauer unwiderleglich, „wel⸗ 
ches feiner existentia und essentia nad, das Werk eines andern ift, läßt ſich 
weder Schuld noch Verdienſt denken. Kann es doch, gleich jedem andern, nur 
irgend denkbaren Weſen, nicht anders als feiner Befhaffenheit gemäß 
wirfen und dadurch diefe kundgeben: wie e8 aber befchaffen ift, fo iſt es bier 
gefhaffen. Handelt es nun fhleht, fo Fommt dies daher, daß es ſchlecht ift, 
und dann iſt die Schuld nicht feine, ſondern Deffen, ver es gemacht hat. 


*) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, II, 636— 638. 


wie durch zwei Be und eine Linie der Triangel 
Paralipomena“, I, 115.) Moraliſche Freih— d 
Be Bo, fegen Free 


alſo muß daſſelbe, ſoll es verantwortlid fein, urſprüngllch und aus 

eigener | it exiftiven; es muß, feiner existentia und 

essentia nad, ſelbſt fein eigenes Werk und der Urheber feiner ſelbſt 

fein, wenn e8 wahrer Ucheber feiner Thaten fein foll. Ober, wie ich 

es in meinen beiden Preisfhriften ausgedrückt Habe, die Freiheit kann 

= ie operari, muß alfo im esse liegen: denn vorhanden Ift fie aller- 
Gaſelbſt, S. 117.) 


— wir hingegen (dem Pantheismus zufolge) Theophanien 
oder Incarnationen der Gottheit, nun fo find wir ja vorttreffliche, 
göttliche Weſen, folglih fann von Sünde und Bosheit nicht die 
Rede fein, man-müßte denn den Gott, der in uns Fleiſch wird, für 
ein fünd= und boshaftes Weſen halten, 

Die fogenannte Offenbarungsphilofophie der neueften Zeit 
ruhmt fi zwar eines Arcanums, mittels deſſen es ihr gelungen fei, 
den Theismus mit dem Pantheismus zu verfchmelzen; aber was es 
mit diefer Verfehmelzung auf fi habe, ift von mir ſchon in meiner 
Schrift gegen Scelling *) gezeigt worden. Die gepriefene Vers 
ſchmelzung der (pantheiftifchen) Immanenz Gottes in der Welt mit 
der (theiftifchen) Txansfeendenz oder Außerweltlichfeit Gottes iſt 
ein eben ſolches Unding, wie etwa die Verſchmelzung der beiden 
Behauptungen, daß der Menſch, d. h. die menfchliche Gattung, 
ganz nur im allen einzelnen menſchlichen Individuen anzutreffen 
iſt, und daf er dennoch zugleih außer allen einzelnen Indivis 
duen, als ein apartes Individuum für fi, eriftirt. Kann, um mid 
eines andern Beiſpiels zu bedienen, bie Schwerfraft oder die magne⸗ 
tifche oder irgend welche Kraft zugleich ald immanent, d. h. ganz 


) ©. fe. 
15* 


228 

in den Stoff, den fle befeelt, ergoffen, und ald transfcendent, d.h. 
noch eine aparte Eriftenz außer dieſem Stoff habend, gevadht werden  — 

Da mich, verehrter Freund, der Lauf der Mittheilungen einmal 
auf diefen Punkt geführt hat, fo geftatten Eie mir, Ihnen in meinem 
nächfterr Briefe noch etwas ausführlicher die Kritif aller fpeculativen 
Theologie nad) Schopenhauer’fhen Principien darzulegen. Denn e8 
if, um fi die Schopenhauer’fche Weltanficht aneignen zu fönnen, 
durchaus nothwendig, fi) alle theologifchen Borausfegungen aus 
dem Kopfe zu fchlagen. Erft muß man reinen Boden in feinem 
Geiſte gemacht haben, um ein neues Gebäude in demfelben aufführen 
zu können. Ein neues Gebäude ift aber die Schopenhauer’fche 
Philofophie ganz und gar. So wie fie weder Materialismus, noch 
Spiritualismus ift, fo iſt fie auch weber Pantheismus noch Theismus, 
am allerwenigften aber eine unfritifche, ungereimte Verſchmelzung von 
folden an fidy unverfehmelzbaren, unreimbaren Dingen. Zugleich 
fönnen Sie die nachfolgende Erörterung als eine Ergänzung ber 
Kant’fchen Kritif aller fpeculativen Theologie betrachten. Ich werde 
in berfelben die Schopenhauer’fhe Lehre über den Sab vom zu- 
reichenden Grunde als Leitfaden gebrauchen. 





230 


— — — — — — ⸗ 


der Spitze, nach dieſem ihnen "unerwartet aufgegangenen Pförtlein 
bin, um ihre Sächelchen zu Markte zu bringen, oder um von ben 
alten Erbftüden, welde Kant's Lehre zu zermalmen drohte, wenig- 
ftend das Liebſte zu retten. — Wie im Leben des Einzelnen ein 
Gehltritt der Jugend oft den ganzen Lebenslauf verdirbt, fo hatte 
jene einzige von Kant gemachte falfhe Annahme einer mit völlig 
transfcendenten Erebitiven ausgeftatteten und, wie die höchiten Appel« 
Iationshöfe, «ohne Gründe» entfcheidenden, praftiihen Vernunft zur 
Folge, daß aus der ftrengen, nüchternen kritiſchen Philofophie Die ihr 
heterogenften Lehren entfprangen, die Lehren von einer das «llebers 
finnliche» erft blos leife «ahnenden», dann fchon deutlich aver⸗ 
nehmenden», endlich gar leibhaftig «intellectual anſchauen— 
den» Vernunft, für deren «abfolute», d. 5. ex tripode gegebene 
Ausfprühe und Offenbarungen jebt jeder Phantaft feine Träumer 
reien ausgeben fonnte. Died neue Privilegium ift redlich benußt 
worden. Hier alfo liegt der Urfprung jener unmittelbar nad Kant’s 
Lehre auftretenden philofophifchen Methode, die im Myſtiſiciren, Täus 
fhen, Sand in die Wugen fireuen und Winbbeuteln befleht, beren 
Zeitraum die Geſchichte der Philofophie einft unter dem Titel « Be- 
riobe der Unreblichkeit » anführen wird.” 

Wollen wir nun nicht auch zu diefen Unreblihen gehören, fo 
. müffen wir den Gottesbegriff eben fo gut, wie jeden andern, einer 
firengen Prüfung nah dem Erfenntnißgrunde unterwerfen. 

„Als principium rationis sufficientis cognoscendi befagt der 
Satz vom Grunde, daß wenn ein Urtheil eine Erfenntniß aus- 
brüden foll, e8 einen zureichenden Grund haben muß: wegen biefer 
Eigenfhaft erhält e8 fodann das Präbicat wahr. Die Wahr: 
heit ift alfo die Beziehung eines Urtheild auf etwas von ihm Vers 
Ihiedenes, das fein Grund genannt wird. Die Gründe nun, worauf 
ein Urtheil beruhen kann, laſſen fi in yier Arten abtheilen, nad) 
jeder von welchen dann auch die Wahrheit, die e8 erhält, eine vers 
fchiedene iſt.“ (Schopenhauer „Weber die vierfache Wurzel des Satzes 
vom zureihenden Grunde‘, $. 29. In den darauf folgenden vier 
Paragraphen find dann die. vier verfchienenen Arten der Wahrheit, die 
logiſche, empirifche, transfcendentale und metalogifche, näher beftimmt.) 

Die logiſche Wahrheit iſt Lediglih formal; denn ob ein logifch 


richtiges Urtheil auch materiale Wahrheit habe, hängt davon ab, 
‚ob den darin gebrauchten Begriffen und ihrer Verbindung oder Tren⸗ 
nung ein reales Verhaͤltniß wirklicher Gegenftände entfpricht. „Denn 
obgleich eine Erfenutniß der logifchen Form völlig gemäß fein möchte, 
d. d. ſich ſelbſt nicht widerfpräche, fo kann fie doch noch immer dem 
Gegenftande wiberfprechen. Alſo ift das blos logiſche Kriterium der 
Wahrheit, nämlich die Uebereinftimmung einer Erfenntniß mit den 
allgemeinen und formalen Gefegen des Verftandes und der Vernunft 
zwar bie conditio sine qua non, mithin bie negative Bevingung aller 
Wahrheit: weiter aber kann die Logik nicht gehen, und den Irrthum, 
der nicht die Form, fondern den Inhalt trifft, kann die Logik durch 
feinen Probirftein entdecken.“ (Kant „Kritik der reinen Vernunft“, 
Ausgabe von Rofenfranz, S. 62; 1. Aufl., S. 58—60; und Schopen ⸗ 
bauer „Ueber die vierfache Wurzel des Sages vom zureichenden 
Grunde”, 2, Aufl, 8.30.) Hegel hat daher mit größtem Unrecht die 
Logik mit der Metaphyfif identificirt. Die Logik lehrt uns gar nichts 
fondern nur die formalen Gejege der Vernunftopera⸗ 
in der Begriffsbildung, fowie in der Verbindung und Tren- 
nung von Begriffen in Urtheilen und von Urtheilen in Schlüffen; 
während doch die Metaphyfit recht eigentlich darauf ausgeht, das 
allen Erfheinungen zu Grunde liegende Reale zu erfennen. Aus 
jenem blos formalen Charakter der logiſchen Wahrheit aber folgt auch, 
daß der ontologifhe Beweis vom Dafein Gottes nicht leitet, was 
er will, nämlich duch den Begriff Gottes als des allerrealften 
ober vollfommenften Wefens die wirkliche Eriftenz Gottes zu 
beweifen. Denn daraus, daß dem Begriff des allerrealften Weſens 
das Prädicat der Griftenz nicht logiſch widerſpricht, folgt noch gar 
nicht, daß diefem Gotteöbegriff ein reales, an und für ſich erifti« 
rendes Wefen zu Grunde liegt, von dem derſelbe abftrahirt fei. Der 
ganze Begriff fann ja ein blofes Hirngeſpinnſt fein. Es kommt ja 
Alles darauf an, woher jener Begriff entfprungen fei; denn fonft 
fönnte man ja jedem beliebigen Begriff, wenn man nur dafür ges 
forgt hätte, daß derſelbe ſich logiſch nicht widerſpräche, ohne Weiteres 
Realität und Wahrheit beilegen. ,„‚Veim Lichte und unbefangen bes 
tradhtet iſt diefer berühmte ontologiſche Beweis wirklich eine allere 
llebſte Schnurre. Da denft nämlich Einer, bei irgend einer Ges 


232 


legenheit, fi einen Begriff aus, den er aus allerlei Präpdicaten zu⸗ 
fammenfegt, dabei jedoch Sorge trägt, daß unter dieſen, entweder 
blanf und baar, oder aber, welches anfländiger ift, in ein anderes 
Praͤdicat, 3. DB. perfectio, immensitas, oder fo etwas, eingewidelt, 
auch das Prädicat der Realität oder Eriftenz fei. Bekanntlich fann 
man aus einem gegebenen Begriffe alle feine wefentlidhen, d. 5. in 
ihm gedachten Prädicate, und ebenſo auch die weientlichen Prädicate 
diefer Präpicate, mittel lauter analgtifcher Urtheile, berauszichen, 
welche demnach logiſche Wahrheit, d. h. an dem gegebenen Begriff 
ihren Erfenntnißgrund haben. Demgemäß holt nun Jener aus feinem 
beliebig erdachten Begriff auch das Prädicat der Realität oder Eris 
ftenz heraus: und darum nun foll ein dem Begriff enifprechender 
Gegenftand, unabhängig von bemfelben, in der Wirklichkeit eriftiren! 

„Waär' der Gedanke nicht fo verwünfcht gefcheibt, 

Man wär’ verfucht, ihn herzlich dumm zu nennen.” 
(Schopenhauer „Leber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichen- 
den Grunde”, 8.7.) Wer mir, füge ich hinzu, um mir die Exiftenz eines 
durch einen Begriff gedachten Begenftandes zu beweifen, fagt: die Eriftenz 
iR ſchon in dem Begriffe mitgebacht, dem werde ich ganz einfach ant- 
worten: deine mitgedachte Eriftenz genügt mir nicht, ich will den 
Beweis realer Exiſtenz. Wenn ich mir den Pegafus denke, fo muß 
ih mir ihn allerdings geflügelt denfen; aber folgt daraus ſchon, daß 
der Pegaſus wirklich eriftirt? Ebenfo nun, wenn ich mir daß aller» 
vollfommenfte Weſen denfe, fo muß ich ed mir auch als eriftirend 
denken, wenn ich nämlich Eriftenz mit zur Vollkommenheit rechne; 

‚ aber was nöthigt mich denn, das allervollkommenſte Wefen überhaupt 
| Lau dbenfen? Die Nötbigung zu einem Begriffe kann doch nur in 
einem objectiv gegebenen realen Gegenftande liegen, wenn ber Begriff 
mehr als etwas blos ſubjectiv Gedachtes, oder etwas Eingebildetes, 
wenn er etwas Reales bedeuten foll. Cartefius, dieſes fühlend, blieb 
daher auch nicht bei feinem ontologifchen Beweife des Dafeins Gottes, 
bei der cognitio Dei existentiae ex sola ejus naturae considera- 
tione ftehen, fondern fügte gleich darauf als zweiten Beweis das 
Eingeborenfein der Gottesidee durch Gott felbft in uns hinzu: haec 
idea Dei, quae in nobis est, requirit Deum pro causa, Deusque 
proinde existit (,„‚Resp. ad sec. object. prop.“ 1. u. ID. Aber, daß 


die Gottesidee feine angeborene oder eingeborene fei, hat Rode glängend 
bewieſen („De intellectu hum.“, Buch 1, Cap. 4). Ueberdies würhe 
auch dad Angeborenfein von Begriffen oder Ideen noch nicht auf etwas 
objectiv Neales Hindeuten, fondern nur Zeugniß geben von der frb- 
‚Jeetiven Befcpaffenheit unfers Geiftes. Gefegt alſo auch, Die Gottes- 
"idee wäre und angeboren, wiewol Lode unwiderleglich gezeigt hat, 
daß fie es nicht ift, fo würde doch daraus noch nicht folgen, daß fie 
ung von bem real eriftirenden Gott felbft angeboren fel.  Angeborene 
Wahrheiten find (nach Schopenhauer „Ueber die vierfahe Wurzel des 
Satzes vom zureichenden Grunde”, $.32 1.33) die transfcenden- 
talen und metalogtfchen Wahrheiten: jene als die im Verftande 
"und der reinen Sinnlichfeit tiegenden Formen der anfchauenden, 
empiriſchen Erlenntniß, nämlich die aprioriſchen Formen des Raumes, 
der Zeit und der Caufalitätz diefe hingegen als die in der Vernunft 
gelegenen formalen Bedingungen alles Denfens, die fogenannten 
Denfgefege ber Ioentität, des Widerſpruchs, des ausgeſchloſſenen 
Dritten ' zureichenden Grundes. Nach folden uns angebore- 
nen Erfenntnipformen urtheilen wir 3. B., daß zwei gerade Linien 
feinen Raum einfließen, daß jede Veränderung ihre Urſache hat, 
daß Materie weder entftehen, noch vergehen fann, daß einem 
Subject ein Prädicat nicht zugleich beigelegt und abgeſprochen wer⸗ 
den kaun. Aber alle ſolche apriorifche, angeborene, unferm Geifte / 
notwendige Wahrheiten find ja nur formal; find, wie Kant 
und nad ihm noch grundlicher und vieljeitiger Schopenhauer nach⸗ 
gewiefen, nur die fubjectiven Erfenntnißformen, im die wir 
das faffen. Weit entfernt alfo, daß fie uns etwas Neales 
fennen lehrten, wenn uns dieſes nicht anders woher gegeben wäre, 
jo fie ums vielmehr nur die Natur unfers Erfenntnißvermds 
gens Fennen, das die renlen Dinge jo und nicht anders auffaßt. 
Um 
muß 


+ 


nun wirklich auch etwas Reales durch jene Formen zu erfennen, 

‚uns der Stoff dazu gegeben fein; denn dieſer ift ung nicht, wie 
jene Formen, angeboren, fondern offenbart fih und durch feine eigene 
Einwirkung auf unfere Erkenntnißorgane. Daher wiffen wir zwar 
. ®. a priori oder nad) einer angeborenen Notwendigkeit, daß jede 
Veränderung an einem beftimmten Orte, zu einer beftimmten Zeit 
und durch beftimmte Urſachen herbeigeführt ftattfinde; aber um nun 


234 
auch eine wirkliche Beränderung, fei ed eine phyſiſche, 3. B. ein 
Erobeben, oder eine gefhichtliche, 3. B. eine Revolution, ihrem Drt, 
ihrer Zeit und ihren Urfachen nad kennen zu lernen, Dazu xeicht 
jenes apriorifhe Wiſſen nicht mehr mit feinen eigenen formalen 
Mitteln bin, jondern e8 bedarf dazu einer apofterlorifhen Kund⸗ 
gebung, Offenbarung oder Einwirkung. 

Die bei der Darftellung der und angeborenen, aprioriichen Er⸗ 
fenntniffe von Kant noch begangenen Irrihümer hat Schopenhauer 
berichtigt. Er hat außer den vier Geftalten des Satzes vom Grunde, 
auf die fich alle aprioriiche Erkenntniß zurüdführen läßt, noch eine 
vollftändige Tafel fämmtlicher aprioriſchen Praedicabilia der Zeit, 
des Raumes und ber Baufalität („Die Welt als Wille und Bor: 
ſtellung“, 2. Aufl., ®b. 2, S. 51) aufgeftellt, wo man unter jeder 
Rubrik 27 dergleichen Praedicabilia a priori findet. Die Wivderlegung 
der Kant’fchen Irrthümer ift zu finden in der der Schrift „Die Welt 
als Wille und Vorſtellung“, Bd. 1, angehängten Kritif der Kant’: 
fhen Philofophie. Aus der ganzen, Außerft gründlichen und gelehr- 
ten Unterfuchung Schopenhauer'8 geht deutlich genug hervor, daß uns 
ale apriorifchen Erfenntniffe nur die eigenthümliche Yunction unfers 
Gehirns, aber nichts NReales, an ſich Seiendes, vom Erkennen Un⸗ 
abhängiges zeigen, daß fie alfo zwar die Art und Weife, wie der 
menfchlihe Kopf die Welt in.fich abfpiegelt, zu erfennen geben, aber 
die Gegenftände, die fich in dieſem Spiegel abbilden, a posteriori, 
durch ihre eigene Einwirfung und Offenbarung, ſich Fundgeben müflen. 

Waͤre nun der Begriff Gottes wirfli ein angeborener, d. h. a 
Briori und inwohnenber, wie ber Begriff der Urſache, fo würde ja 
aus der Dargelegten fubjectiv formalen Ratur der apriorifchen Be- 
griffe und Urtheile ſchon von ſelbſt folgen, daß aud er uns nichts 
Reales zu erkennen gäbe, fondern lediglich eine Form, wie wir das 
Reale auffaffen. So hat e8 auch Kant in der „Kritik der reinen 
Bernunft” in dem Gapitel vom transfcendentalen Ideal genommen, 
wo er ben Begriff des ens realissimum ober des Inbegriffs aller 
Realität als eine nothwendige Bernunftform darftellt, indem er fagt: 
„Alle Mannichfaltigfeit ver Dinge ift nur eine ebenfo vielfältige Art, 
den Begriff der höchften Realität, der ihr gemeinfchaftliches Sub- 
ſtratum if, einzuſchranken, fowie alle Figuren nur als verfchiedene 


Arten, den unendlichen Raum einzufcränfen, möglid find“ (Aus- 
gabe von Rofenfranz, ©. 452; 1. Aufl., S. 577-579). Demgemäß 
behauptete Kant, daß Nichts für uns ein Gegenftand fei, wenn es 
micht den Inbegriff aller Realität als Bedingung feiner Möglichkeit 
voransfegt, und fand den Fehler nur darin, daß wir hernach dieſe 
Idee vom Inbegriff aller Realität, ob «8 zwar eine bloße Vorftellung 
fei, vealificen, hypoſtaſtren, ja perfonificiren und fo gu einen einzelnen 
Ding, zu einem Gott, machen, der an der Spige der Möglichkeit 
aller Dinge ſtehe (S. 455, a. a. D.). Aber Schopenhauer hat in 
feiner „„Kritit der Kantfchen Philoſophie“ (S. 570 fg.) gezeigt, daß 
das ens realissimum, ber Inbegriff aller Realitäten, Feineswegs ein 
nothwendiger Vernunftgedanfe fei. „Aller Wahrheit zum Trog wird 
die, man muß fagen, grotesfe Vorftellung eines Inbegriffs aller 
möglichen Realitäten zu einem der Vernunft wefentlichen und noth- 
wendigen Gedanken gemacht. Zur Ableitung deſſelben ergreift Kant 
das falfche Vorgeben, daß unfere Erfenntniß einzelner Dinge durch 
eine immer weiter gehende Einfchränfung allgemeiner Begriffe, folg- 
lich auch eines allerallgemeinften, der alle Realität in fich enthielte, 
entftehe. Hierin fteht er eben fo jehr mit feiner eigenen Lehre, wie 
mit der Wahrheit in Widerſpruch, da gerade umgekehrt unfere Er— 
fenntniß, vom Einzelnen ausgehend, zum Allgemeinen erweitert wird, 
unnd alle allgemeinen Begriffe durch Abftraction von realen, eins 
1, anfchaulich- erkannten Dingen entftchen, welche bis zum aller 
allgemeinften Begriff fortgefegt werden kann, der dann Alles unter ſich, 
aber faſt Nichts in fich begreift. Kant hat alfo hier das Verfahren 
unferd Erfenntnißvermögens gerade auf den’ Kopf geftellt und fönnte 
deshalb wol gar bejhuldigt werden, Anlaß gegeben zu haben zu 
einer in unfern Tagen berühmt gewordenen philoſophiſchen Charlıs 
tanerie, welche, ftatt die Begriffe für aus den Dingen abftrahirte 
Gedanfen zu erkennen, umgekehrt die Begriffe zum Erften macht und 
in ben Dingen nur conerete Begriffe fieht, auf diefe Weiſe die ver⸗ 
fehrte Welt, als eine philoſophiſche Hanswurſtiade, bie marirlid 
großen Beifall finden mußte, zu Markte bringend.“ 
Im Wefentlihen übereinftimmend biermit erflärte jüngft auch 


ee Borlefungen „Ueber das Weſen der Religion" 
nur für den Gattungöbegriff des Weſens, der 


\ 


- 


236 


‚Eriftenz, der Urfache überhaupt. „So gut der Berftand den von 
alfen beftimmten Beichaffenheiten wirklicher Wefen abgezogenen Be: 
griff des Weſens ald ein Weien perfonificirt, fo gut perfonificirt er 
auch den von allen Merkmalen wirklicher, beftimmter Urfachlichkeit 
abgezogenen Begriff der Urfache in einer erften Urfache” (,„Vor—⸗ 
lefungen”, S. 31). In diefem Sinne behauptet dann Feuerbach, daß 
das Weſen Gotted nur das aus der Welt abfirahirte Weſen und 
die Eigenfchaften Gotted nur die aus der Welt abftrahirten Eigen- 
ſchaften feien, daß alfo Gott ſich nicht von der Welt unterfcheibe, 
Gott nur die Welt in Gedanken, die Welt nur der Gott in Wirklich- 
feit fei, daß die Unendlichkeit Gottes nur von der Unendlichkeit der 
Welt, die Ewigkeit Gottes nur von ber Ewigfeit ver Welt, die Macht 
und Herrlichkeit Gotted nur von der Macht und Herrlichkeit ver Na⸗ 
tur abgezogen, nur aus ihr entflanden, von ihr abgeleitet fei. „Der 
Unterfchied zwifchen Gott und Welt ift nur der Unterſchied zwifchen 
Geift und Sinn, Gedanken und Anfchauung.” „Der Unterfchiev 
zwifchen dem Weſen Gottes und dem Weſen der finnlichen Dinge 
ift nur der Unterfchied zwifchen der Gattung und den Arten oder 
den Individuen. Gott ift fo wenig biefes oder jenes Wefen, ale 
die Farbe diefe oder jene Yarbe, der Menſch dieſer oder jener 
Menſch iſt; denn im Oattungsbegriff des Menfchen fehe ich ab von 
den Unterſchieden der Menfchenarten und einzelnen Menfchen, im 
Oattungsbegriff der Farbe von den einzelnen, unterfchievenen Farben. 
So fehe id auch in Gotted Weien ab von den Unterfchieven und 
Eigenfchaften der vielen verfchiedenen finnlichen Wefen, denfe es blos 
im Allgemeinen ald Weſen“ („Borlefungen”, S. 146 fg.). Daß 
nun aber die Hypoftafe oder die Berfonification des Gattungsbegriffs 
ber Realität oder des Weſens ſchon eine Leberfchreitung der Ber: 
nunft ſei, gab auch Kant, obwol er diefen Begriff faͤlſchlich für einen 
urjprünglichen, ftatt für einen abgeleiteten hielt, zu, indem er erklärte, 
daß die Berwandlung des Begriffs von aller Realität in ein Ding, 
ein befondered Wefen, eine bloße Erdichtung fei, wozu wir feine 
Befugnig hätten (S. 453 fg., bei Rofenkranz; 1. Aufl., S. 580 fg.). 
Sn der That läßt ſich auch nicht einfehen, warum der allgemeine 
Begriff des Seienden, des Realen überhaupt, mehr Anſpruch darauf 
haben follte, für ein befonderes, außer» und überweltliches perfön- 


237 


liches Wefen zu gelten, als der allgemeine Begriff des Thieres oder 
des Menfchen Anſpruch darauf hat, für ein befonderes Thier oder 
einen beſondern Menſchen, für ein außer- und überthierifches oder 
außer» und übermenfchliches Individuum gehalten zu werden. Findet 
min letzteres lächerlich, warum nicht ebenfo jenes? Ift der Menſch 
fein jenfeits und außerhalb der menſchlichen Gattung ftehendes Ins 
dividnum, warum foll das Seiende oder das Reale eine außerhalb 
der Welt befindliche göttliche Perfon fein? 

Es hat fid) alfo herausgeftellt, daß ſich der Gottesbegriff weder 
auf dem Wege der blos logiſchen, noch auf dem der transfcenden- 
talen, d.h. der a priori erfennbaren Wahrheit, begründen laffe. 
Die blos logiſche Uebereinftimmung eines Begriffs mit ſich, d. h. 
die Uebereinftimmung der Prädicate mit dem Subject des Begriffe, 
ift noch fein Beweis, daß lehterm ein realer Gegenftand entfpricht. 
Die transfeendentalen Begriffe und Urtheile aber find- lediglich for- 
maler Natur, fönnen aljo ebenfalls nicht aus eigenen Mitteln, 
d. bh. wenn ihnen fein realer Stoff gegeben wird, das Dafein 
irgend eines Gegenftandes beweifen, oder irgend etwas Neales aus 
ſich Herausflauben. Ueberdies it der Vegriff Gottes als des 
allerrealften Weſens, wie gezeigt worden, fälſchlich von Kant für 
einen transfeendentalen, d. h. a priori nothwendigen, genommen wor⸗ 
den. Das ens realissimum als ein an der Spitze der Welt ftehen- 
der, von ihr verfchiedener Gott it eine Erfindung der Scholaftifer; 
die alten Philofophen wußten davon nichts *). Wäre wirklich jener 
Gotteöbegriff eine apriorifhe angeborene Wahrheit, jo müßte er ſich 
ja eben fo nothwendig in Lines jeden Menſchen Kopf finden, wie 
die andern angeborenen Wahrheiten, z. B. diefe, daß Naum und Zeit 
unendlich, die Materie in beiden unentftanden und unvergänglich, 
und jede Veränderung an ihr durch eine Urfache an einem beftimm- 
ten Drt zu einer beftimmten Zeit herbeigeführt fei. An der Wahr- 
heit jenes Gottesbegriffs zu zweifeln wäre dann jedem Menſchen 
ebenfo unmöglich, wie der Zweifel an diefen angeführten aprioriſchen 
Wahrheiten. Es wäre dann aber auch ebenfo unnöthig und über 
Füffig, Beweiſe für die Wahrheit jenes Gottesbegriffs zu ſuchen und 


*) Bergl. Schopenhauer, „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, I, 572. 


| 





— — 


— ⸗—2 


238 


zu erfinden, als für die letztern; denn Erkenntniſſe, die uns an⸗ 
geboren, ſind uns auch unmittelbar gewiß, es bedarf alſo für 
ſte keines vermittelnden Beweiſes, ja es iſt keiner moͤglich, eben weil 
ſie unmittelbar gewiß ſind. Es iſt daher auch noch Niemanden ein⸗ 
gefallen, für den Satz, daß jede Veränderung ihre Urſache hat, einen 


Beweis zu verlangen. 


Indeffen, obwol der Gottesbegriff felbft nicht zu den trangfcen- 
dentalen, d. h. a priori und bewußten Wahrheiten gehört, fo bat 
man doch verfucht, durch Anwendung des und a priori befannten 
Gaufalgefebes auf die Welt, fich zu Gott zu erheben. Es iſt dies 
befauntlicy der Fosmologifche Beweis vom Dafein Gotted. Doch 
auch diefer ift, wie der ontologifche aus dem Begriff des aller- 
realften Wefens, völlig unhaltbar. Denn, da das Baufalgefeg an 
fi, wie jede apriorifche Wahrheit, lediglich formaler Ratur ift, fo 
wird aus demfelben allein fo wenig jemals folgen, daß das Welt- 
ganze eine Wirkung eines außer- und überweltlidhen Gottes al8 Urs 
hebers jei, wie der Aftronom aus dem bloßen Begriff des Cauſal⸗ 
nerus allein jemals herausgebracht hätte, daß bie Stellung der Erbe 
zur Sonne Urſache des MWechfeld von Tag und Nacht und des Wech⸗ 
feld der Jahreszeiten fei. Ob überhaupt zwifchen zwei Erfcheinungen 
oder Zuftänden ein Caufalverhältniß ftattfinde, und weldhes von 
beiden die Urſache, welches die Wirkung fei, — dies läßt ſich doch 
yimmermehr aus dem aprioriſchen Begriff des Cauſalnexus entneh⸗ 
men, fondern dazu iſt apofterioriiche Anfchauung. und Erfahrung 
nothwendig. Wie fi überhaupt nichts Reales, jo läßt fih auch 
fein empirifcher Vorgang, Feine wirkliche Begebenheit a priori wiffen. 
Run fol doch aber die Weltentftehung, die Weltfchöpfung aus Nichte 
durch Gott, der Theologie zufolge, ein realer Vorgang fein; wie ift 
es alfo möglich, zur Kenntniß deſſelben a priori, durch bloße Ans 
wendung des aufalgefeged, zu gelangen? Da müßte man ja, 
wenn dieſes formale Geſetz ſolche Wunder des Wiſſens thäte, ebenfo 
gut dur bloße Anwendung deflelben fhon mit Gewißheit vorher« 
fagen können, was in zehntaufend Jahren für reale Begebenheiten 
ftattfinden werden. In der That gehört nur wenig Ueberlegung 
dazu, einzufehen, daß eine Thatſache, wie angeblich die Schöpfung 
ber vorher nicht gewejenen Welt, doch nur, wie jede andere That- 


ſache, durch Erfahrung, alſo entweder durch eigene Anfhauung, 
rg glaubwürdige Augenzeugen, oder durch unträglihe Schlüffe 
vom der vorliegenden Wirfung auf ihre Urſache, ſich ermitteln 
laſſe. Die Anwendung des Gaufalgefepes aber über das Gebiet 
der Erfahrung hinaus iſt ein für alle mal von Kant und deſſen 
achtem und würdigen Nachfolger Schopenhauer als eine umbefugte, 
umguläffige nachgewieſen, damit aber auch ver kosmologiſche Ber 
weis vom Dafein Gottes ein für alle mal gründlich geftürgt wor⸗ 
den, Kant hat es als den erften Fehler diefes Beweiſes aufgedeckt, 
daß, obgleid) der Grundfag der Gaufalität „gar feine Bedeutung 
und Fein Merkmal feines Gebrauchs, als nur in der Sinnenwelt“ 
hat, er doc) hier gerade dazu dienen foll, „um über die Sinnenwelt 
hinaus zu · kommen.“ Schopenhauer hat („Ueber die vierfache Wurzel 
des Satzes vom zureihenden Grunde”, $.24) gezeigt, daß man einen 
Misbrauch des Gefeges der Gaufalität begeht, fo oft man dafjelbe 
auf ehvas Anderes, als auf Veränderungen in der uns empirifch 
gegebenen, materiellen Welt anwendet, 3. B. auf die Naturkräfte, 
vermöge welcher ſolche Veränderungen überhaupt- erft möglich find, 
oder auf die Materie, an der fie vorgehen, oder auf das Weltganze, 
Die falfhe Auffaffung des Cauſalbegriffs, wonach Urſache definirt 
wird als Das, wodurch ein Anderes zum, Dafein gelangt, hervor 
gebracht wird (bei Wolf: causa est prineipium, a quo existentis, 
sive aclualitas entis alterius dependet), hat Schopenhauer ein für 
alle mal widerlegt, indem er gezeigt, daß es ſich bei der Cauſalität 
offenbar nur um Bormveränderungen der unentftandenen und ungers 
ftörbaren Materie handelt, ein eigentliches Entftehen, ein Ins-Dafein- 
treten bes vorher gar nicht Geweſenen aber eine Unmöglichkeit ift. Causa 
prima ift, nach Schopenhauer, ebenfo gut wie causa sui, eine con- 
tradictio in adjeeto. „Eine erfte Urſache if gerade und genau fo 
undenkbar, wie die Stelle, wo der Raum ein Ende hat, oder ber 
Augenbliet, da die Zeit einen Anfang nahm“ „Das Gefeh der 
Cauſalitat ift nicht fo gefällig, ſich brauchen zu laſſen wie ein Finere, 
ben man, angefommen wo man hingewollt, nach Haufe ſchictt. Viel⸗ 
mehr gleicht es dem, von Goethe's Zauberlehrlinge belebten Beſen, 
der, einmal in Actioität gefegt, gar nicht wieder aufhört zu laufen 
und zu fchöpfen, ſodaß nur der alte Herenmeifter felbft ihn zur 


i 


240 





Ruhe zu bringen vermag” („Ueber die viefache Wurzel des Satzes 
vom zureichenden Grunde”, $. 20, ©. 35 — 37). Auch Feuerbady 
erklärt den Sprung aus der Baufalreihe hinaus zu einem Erſten, einem 
Schöpfer, für objectiv unberechtigt und nur fubjectiv aus „Beſchraͤnkt⸗ 
heit und Bequemlichfeitöliebe” entfprungen; „aber dieſe Noth- 
wendigfeit für mich, den endlofen Verlauf abzubrechen, ift noch 
fein Beweis von dem wirklichen Abbruch dieſes Verlaufs, von 
einem wirflihen Anfang und Ende” („Vorleſungen“, S. 120—122). 

Doch auch abgejehen von diefer philofophifchen Widerlegung 
des Fosmologifchen Beweifes, fo läßt ſich ſchon vom biftorifchen 
Standpunkte gegen ihn einwenden, daß, wenn das Gaufalgefeh den 
Geiſt nöthigte, über die Welt ald Wirkung zu einem Schöpfer als Ur- 
fache derfelben Hinauszugehen, dieſe Nöthigung fich ja beisallen Voͤl⸗ 
fern und in allen Religionen finden müßte. Run lefen Sie aber 
die hiftorifchen Berichte über den Buddhaismus als diejenige Res 
ligion, welche die größte Anzahl von Belennern auf Erden bat und 
dennoch völlig. atheiftifch iſt, ſodaß fogar (vergl. „Asiatie re- 
searches”, VI, 268) ber Oberpriefter der Bubphaiften in Ava, in 
einem Aufiage, den er einem Fatholifchen Bifchofe übergab, zu den 
ſechs verbammlichen Kegereien auch die Lehre zählte, „daß ein Wefen 
da fei, welches die Welt und ale Dinge gefchaffen habe und allein 
würdig fei, angebetet zu werben’ (vergl. die interefianten bei Schopen- 
bauer „Ueber die vierfahe Wurzel des Satzes vom zureichenden 
Grunde”, 2. Aufl., S. 119 fg., und „Parerga und Paralipomena”, 
I, 111, angeführten biftorifchen Berichte über den Atheismus des 
Buddhaismus), — fo werden Sie aud) einen hiftorifchen Beleg 
dafür haben, daß die jedem Menfchen angeborene und nothwendige 
Anwendung des Baufalgefeßed doc, keineswegs dazu nöthige, über 
das Weltganze ald Wirkung zu einem Weltfchöpfer als Urfache, hinaus⸗ 
zugehen. 

Es bleibt nad) diefer Widerlegung des ontulogifchen und fosmolos 
gifchen Beweiſes vom Dafein Gottes nur noch der teleologifche, aus 
ber zweckmaͤßigen Einrichtung der Welt gefchöpfte, zu widerlegen übrig. 
Der Grundfehler des ontologifchen Beweiſes war, daß er logifche 
mit realer Wahrheit verwechfelte, alfo aus der logiſchen Ueberein« 
ſtimmung ber Prädicate mit dem Subject des Gottesbegriffs das 


Gare Thatfache, wie Die Weltfhöpfung aus Nichts durd) Gott, heraus 
bringen zu fönnen meinte. Endlich der Grundirrthum des teleolo⸗ 
giſchen, oder phyſilotheologiſchen Beweiſes vom Dafein Gottes iſt 
ein völlig unberehtigter Schluß von einer befondern species auf 
das allgemeine genus, der, was mur von einer beftiimmten Art von 
Wirfungen gilt, auf die ganze Gattung derfelben überträgt, ftatt 
daß nur umgekehrt, was von einer ganzen Gattung gilt, ſich auch 
von jeder derfelben untergeordneten Art ausfagen läßt. Näher ber 
trachtet, ift die hier in Rede ftehende Gattung das Gebiet des Zwed- 
mäßigen. Weil nun eine befondere Art diefer Gattung, nämlich die 
zweckmaͤßigen Werke der Menfchen, durch Ueberlegung und Vorſatz 
zu Stande fommen, fo fließt der Phyſikotheolog ohne Weiteres, 
daß au die Zwemäßigfeit der Welt auf diefe Weife zu Stande 
gefommen, daß die Nebereinftimmung aller Reiche der Natur zu 
einander und die wundervolle Harmonie aller Glieder und Kräfte 
in ben lebendigen Organismen ebenfo nad) einem vorher gewußten und 
vorher beftimmten Plane geſchaffen worden, wie ein Haus nad} dem 
Plane des Baumeifters, oder eine Uhr nad) dem Plane des Uhr- 
machers. Aber abgefehen davon, daß, wie Kant in feiner Kritik 
des phyſilotheologiſchen Beweifes fagt, diefer Beweis „hoͤchſtens einen 
Weltbanmeifter, der durch die Tauglichkeit des Stoffes, den er benr- 
beitet, Immer jehr eingefchränft wäre, aber nicht einen Weltſchöpfer“ 
darthun Föntıte („Kritik der reinen Vernunft”, &. 488 bei Roſenkranz; 
1. Aufl, S. 626 fg), — fo ift doch klar, daß der Schluß von einer 
‚befondern Art des Zweckmäßigen auf unferm Planeten, innerhalb des 
Kreiſes menſchlicher Tätigkeit, auf das ganze große Gebiet des Zwed- 
mäßigen überhaupt ein ebenfo unberedhtigter, ebenfo übereilter ift, wie 
etwa der Schluß des Wilden von der an ſich wahrgenommenen will 
fürlichen Bewegung feiner Arme und Beine auf die Bewegung bes 
Zeigers an der Uhr, daß auch) diefe willfürlich, durch ein darin figendes 
lebendiges Wefen, das da pocht und ven Zeiger rückt, zu Stande 


16 


262 


fomme. Schon Ariftoteles erkannte die Zwedmäßigfeit der Ratur 
als eine innere, immanente und fagte: &rtonov dE To pm olsodau 
dvexa rou ylvsoTau, day pm ldwor To xıyvouv Boulevadusvov. xal Tor 
xal n reyvn od Boulsusrar („Phys.“, IL, 8). Vollends aber nad) 
Kant's Kritit der teleologifhen Urtheilsfraft und nach Schopen- 
hauer's Capitel über die Teleologie in der Schrift „Die Welt ale 
Wille und Vorſtellung“ ift die Phyſikotheologie ein für ale mal fo 
gründlich) widerlegt, daß fie nur noch in oberflächlichen Köpfen ſich 
behaupten kann. Für die tiefern und gründlichen Denker, hat das 
Dilemma: Alles ift entweder Werk des blinden Zufall ober einer 
planmäßig orbnnenden, überlegenden, mit Bewußtfein und nach Ab- 
fihten wirkenden Intelligenz, feine Gültigkeit mehr. Denn es ift 
bereitö in der Teleologie des Ariftoteled, noch tiefer und gründlicher 
aber in der Kant’d und Schopenhauer’d das wahre Dritte zwifchen 
jenen beiden ertremen Anfichten der Atomiftif und der Phyſikotheo⸗ 
logie gefunden. Wer diefes Dritte alfo kennen lernen will, ftubire 
die genannten Werfe. (Bergleihen Sie hierzu, was Schopenhauer 
[,,Ueber den Willen in der Natur”, ©. 43 fg., und „Kritik der Kant’ 
fchen Philoſophie“, 2. Aufl, S. 575 fg.] über den phyfifotheologifchen 
Beweis fagt.) 

Es liegt durchaus Fein Widerſpruch darin, daß eine bildende 
Kraft, ein bildender Trieb, aus dunfelm Drange Werke fchaffe, die 
hinterher dem zergliedernden Berftande fich als zweckmäßig erweifen. 
Bewußtloſe Zweckthätigkeit ift alfo feine contradictio in ad- 
jecto, und es folgt aus der Leugnung eines perfönlihen, nach bes 
wußten Zweden wirfenden Weltfchöpfers ebenfo wenig die Vernei⸗ 
nung ber Zwedmäßigfeit der Welt, als aus der Behauptung, daß 
der organifche Bildungstrieb in Pflanzen und Thieren bewußtlos 
wirfe, die Verneinung ber Zwedmäßigfeit diefer Organismen folgt. 

Der Ariftoteliiche Gegenſatz zwifchen wirfender und Zweds 
urſache ift durchaus nicht identifch mit dem Gegenfage zwifchen bes 


wußtloſer und erfennender Urfadhe. Denn auch die Zwed- 


urfache fann ja, wie gezeigt, eine bewußtlofe fein. (Vergl. meine 
obige Löfung des Streites zwifchen der chemifch-phyfifalifchen und 
teleologifhen Schule.) 

Feuerbach widerlegt in feinen Vorlefungen „Ueber das Weſen 





244 


Ganzen eingerichtet iſt, indem die unorganiſche Natur zu der organiſchen, 
und in dieſer wiederum bie verſchiedenen Gattungen und Geſchlechter 
zu einander paflen, fo iſt Doch der auf gegenfeitige Vernichtung und 
Verfpeifung ausgehende Kampf der Individuen verfchiedener Gut: 
tungen, ja einer und derſelben Gattung gegen einander, dieſes bellum 
omnium contra omnes, fo ſchauderhaft, fo graufam, fo entfeglich und 
erfchütternd, daß, wenn man annehmen müßte, Alles diefes ſei nach 
einem bewußten, wohl überlegten Plane gemacht, man leicht verfucht 
werden fönnte, den Schöpfer, der ſolchen Plan erfonnen und aus⸗ 
geführt hat, für ein boshaftes, graufames und tüdijches Weſen zu 
erklären”). Zwar hat der Theismus eben deshalb auch Theodiceen 
erfunden, aber wie nichtig alle. dieſe feien, davon gewinnt man eine 
recht innige und tiefe Leberzeugung, wenn man David Hume’s 
„Dialogues on natural religion‘, da8 „Systeme de la Nature‘’, und 
Schopenhauer's Schrift „Die Welt ald Wille und Vorftelung” Tief. 
Anmerk. Hume legtim zehnten und elften Theil ver „‚Dialogues’ bie 
traurige Beihaffenheit der Welt ausführlih dar und fagt ganz einfach: 
Epikur's alte Fragen bleiben noch immer unbeantwortet: Will Gott das 
Uebel Hindern, aber vermag es nicht, dann iſt er ohnmächtig. Vermag 
er es, aber will e8 nicht, dann iſt er übelwollend. Hat er aber beides, 
den Willen und das DBermögen, woher das Uebel? (Vergl. vie von 
Ernft Platner 1781 berausgegebene Ueberfegung, ©. 176.) Im „Systeme 
de la Nature‘ vergleihen Sie beſonders Seconde partie, chapitre 3: 
Idees confuses et contradictoires de la Theologie, und Chapitre 7: du 
systöme de l'’Optimisme et des causes finales. In Schopenhauer’8 Schrift: 
„Die Welt als Wille und Vorſtellung“, gehört hierher beſonders Gap. 46 
de3 zweiten Bandes: „Von der Nichtigkeit und den Leiden des Lebens“. 
Auf jo verfehiedenem Standpunfte auch font die genannten 
Werke Reben, fo zeigen fie doch alle übereinjtimmend, daß ed mit den 
Theodiceen nicht fei. And hierin flimmen fie nicht blos unter eins 
ander, fondern auch mit der Wahrheit überein, die auch der alten, 
echt hriftlihen Dogmatik zu Grunde liegt, wenn dieſe das Böje und 
das Uebel nicht von Gott ableitet und deshalb Gott zu rechtfer- 
tigen jucht, fondern ed dem Teufel, als dem Fürften diefer Welt, 





*) Bergl. was Schopenhauer in der Schrift: „Die Welt ale Wille und 
Borkellung”, I, 166 und 183 fagt. 


245 


Laſt legt, der erft den Menſchen durch feine Lift zum Falle ger 
amd dann auch, mittels des Menjchen, die ganze Natur ins 
gezogen. Die Wahrheit dieſes Dogma ift, daß die Sünde 
das Uebel ſich nicht aus dem Willen eines heiligen und all- 
öpfers erflären laſſen, die Erklärung aljo anderswo 
t werben müſſe. Aber eben diefe Wahrheit ftürzt die Theo- 
Denn diefe ficht ſich nun, will fie ihren abſolut allmäch- 
die t ſowol der Materie, als der Form nad aus Nichts 
Gott retten, genöthigt, entweder die Sünde und das 
der Welt wegzudemonftriren, um fie nicht zulegt dem 
allmächtigen Gott aufbürden zu müffen; wodurd fie dann freilich 
mit der die Sünde und das Uebel ſchmerzlich demonftrirenden Er— 
fahrung in grellſten Widerfpruch geräth: oder aber, will fie bie 
erfahrungsmäßige Beſchaffenheit der Welt anerkennen, fo fieht fie ſich 
genöthigt, ihren Gott zu leugnen, da der Urheber einer ſolchen, von 


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Conſequenz. Denn einem abſolut allmächtigen Gott einen Teufel 
‚als Gegengott gegenüberftellen, um die Schuld von Jenem auf Diefen 
zu wälgen, ift doch höchft inconfequent und nur eine ſcheinbare 
Freiſprechung Gottes; denn es entftcht ſogleich die Frage, woher 
denn dieſer Teufel feine wivergöttliche Macht und feinen teufliſchen 
Willen habe? 

Die Eigenfchaften, welche die Theologie in ihrem Gottesbegriff 
vereinigt, widerſprechen nicht nur einander felöft, da die Allgegen- 
wart und Allwirkſamkeit Gottes in ber Welt ſich nicht mit 
feiner außerweltlichen Perfönlichfeit, oder, um mich der ge— 
lehrten Ausdrücke zu bedienen, feine Immanenz nicht mit feiner 
Transfcendenz zufammenreimen läßt, jo wenig als die ganz in 
dem Magneten verbreitete und wirffame Kraft, oder bie in dem 
ganzen Organismus thätige Lebensfraft ſich zugleich als ein apartes, 
„für ſich eriftivendes Weſen außer beiden denken läßt; fondern es 
wiberfprechen auch die realen igenfdaften der Weltwefen den 
Eigenfhaften, die der Theolog feinem Gott beilegt; denn die Frei— 
beit und Unfterblichfeit, oder, richtiger gejagt, Unzerftörbars 
Feit des ewigen Weſens an ſich der Dinge verträgt fich nicht mit 


i 


246 

der Annahme, daß ein Gott Alles aus Nichts gemacht habe. 
Sind die Weltwefen ganz und gar ein Machwerk Gottes, nun fo 
find fie auch ohne allen eigenen, felbftftändigen, urfpringlichen Willen, 
folglich ebenfo wenig verantwortlich und zurechnungsfähig, als eine 
Drabtpuppe in der Hand des Puppenfpielers für ihre Stellungen 
und Bewegungen verantwortlih if. Schuld und Verdienſt fallen 
ganz allein auf den Urheber, den Autor, zurüd. Und was die Un⸗ 
fterblichkeit betrifft, fo Fann ein vollig aus Nichts gefchaffenes Wefen 
zwar dauern, fo lange ed der Schöpfer erhalten will, aber von 
Unfterblichfeit im Sinne der Ewigkeit oder Unzerftörbarfeit kann 
nimmer die Rede fein. (Vergl. Ste Schopenhauer’8 „Grundprobleme 
der Ethik“, S.68 fg. und „Die Welt ald Wille und Vorſtellung“, 
Bd. 2, Cap. 41.) „Als unvergänglich kann ein vernünftiger Menfch 
fih nur denfen, fofern er ſich als anfangslos, ald ewig, eigentlich 
als zeitlos denkt. Wer hingegen fi für aus Nichts geworben hält, 
muß duch denken, daß er wieder zu Nichts wird: denn daß eine 
Unendlichkeit verftrichen wäre, ehe er war, dann aber eine zweite 
angefangen habe, welche hindurch er nie aufhören werde zu fein, ift 
ein monftröfer Gedanfe. Wirklich ift der folidefte Grund für unfere 
Unfterblichfeit der alte Sag: „Ex nihilo nihil fit, et in nihilum nihil 
potest reverti” (am zulett angef. O., ©. 489). 

Durch die beiden bier zulegt gelieferten, einerfeitd aus ben in⸗ 
nern Widerfprüchen des Gottesbegriffs, andererfeitd aus der Ewigfeit 
und Afeität der Welt gefchöpften Gegenbeweife gegen denfelben ift 
die Kant’fche Kritif der Bewelfe vom Dafein Gottes wefentlich er- 
gänzt. Denn Kant hatte fi) nur damit begnügt, zu zeigen, daß 
weder auf dem ontologifchen, noch auf dem kosmologiſchen und phy⸗ 
fifotheologifchen Wege fi dad Dafein Gottes beweifen laffe, hatte 
alfo nur die Rihtbeweisbarfeit des Dafeins Gottes dargethan; 
aber Gegenbeweife gegen daſſelbe hatte er nicht aufgeftellt, vielmehr 
meinte er, daß „diefelben Gründe, durch welche das Unvermögen der 
menfchlihen Vernunft, in Anfehung der Behauptung des Dafeins 
eines dergleichen Weſens, vor Augen gelegt wird, nothwendig auch 
zureichen, um die Untauglichfeit einer jeden Gegenbehauptung zu bes 
weiſen“, oder kürzer, daß die Realität Gottes „zwar nicht bewiefen, 
aber auch nicht. widerlegt” werden Fönne. („Kritik der reinen Ver⸗ 





247 
munft”, S. 498; 1, Aufl., S. 640-641.) Aber Schopenhaner hat 
wirkliche Gegenbeweiſe geliefert. 


Schopenhauer fagt: „Kant hat, um das Anftößige feiner Kritik 
‚aller fpeculativen Theologie zu mildern, derfelben nicht nur die Moral 
theologle, ſondern auch die Berficherung beigefügt, daß, wenngleich 
das Dafein Gottes unbewieſen bleiben müßte, es doch auch eben fo 
unmöglich fei, das Gegentheil davon zu bewveifen; wobei ſich Viele 
beruhigt Haben, indem ſie nicht merften, daß er, mit verftellter Ein 
falt, das affırmapti incumbit probatio ignorirte, wie aud), daß bie 
Zahl der Dinge, deren —2 ſich nicht beweifen läßt, unendlich 
iſt. Noch mehr hat er natürlich; ſich gehütet, die Argumente nadj- 
zuweifen, deren man zu einem apagogiſchen Gegenbeweife ſich wirk- - 
lich bedienen Fönnte, wenn man etwa nicht mehr fi) blos defenſiv 
verhalten, fonbern ein mal aggreffiv verfahren wollte, Diefer Art 
wären etwa folgende: Und mun folgen drei Gegenbeweife, deren 
erfter aus der traurigen Beſchaffenheit der Welt, der zweite ans 
der Freiheit und Zurechnungsfähigfeit des Menfchen und der dritte 
aus der Wortvauer nad) dem Tode geſchoͤpft iſt, — alle drei von 
folder Schärfe, daß ſich ſchwerlich etwas Gegründeted dagegen 
wird vorbringen laſſen. (Vergl. „Parerga und Paralipomena”, 
1, 114 fg.) 

Nach diefer die Kantiche Kritit aller fpeculativen Theologie 
ergänzenden Museinanderfegung wird es Ihnen hoffentlich klar fein, 
wie wohlbegrümbet meine ſchon im dritten Briefe aufgeflellte Be— 
hauptung war, daß jede echte, entſchiedene, firenge und confequente 
Philofophte weſentlich atheologiſch fei, und daß Carteſtus und Leib- 
ni infofern feine ftrengen und entſchiedenen Philofopben waren, 
als fie den Gottesbegriff von außen, aus der Theologie, in die 
Philoſophie aufnahmen, nicht aber von innen heraus entwidelten. 

Uebrigens ift atheolo giſch nicht gleichbedeutend mit unmora- 
Kifdh. Später werde ich Ihnen die Schopenhauerſche Ethit dar— 
legen und Sie werden daraus die Ueberzengung gewinnen, daß 
eine Philoſophie fehr wohl atheol ogiſch fein fann, ohne darum body 
unmoralifch fein zu müflen. Der vulgäre Atheismus freilich, 
d. b. der rohe, beſtialiſche Senfualismus und craſſe Materialismus 
läßt allerdings feine andere Moral zu, als die höchft unmoralifche, 


i 


_ 





268 


man möchte fagen, viehiſche: Laffet uns eſſen und trinfen, benn 
morgen find wir tobt! — Anders jedoch verhält es fih mit einem 
Atheismus, der, wie der Schopenhauer’fche, die Welt als Erichei- 
nung ded Willens auffaßt und daher es als die eigene Berfchul- 
dung diefes Willens betrachtet, daß die Welt Feine befiere, daß fie 
vol Sünde und Elend ift, woraus er dann folgert, daß bie Welt 
nur Durch freiwillige Verneinung, Selbftverleugnung, Selbftauf- 
hebung bes fie hervorbringenden Willens erlöft werden fann. Doch 
dies gehört ſchon, wie gefagt, in bie nähere Darftelung ber Ethik. 





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250 


Einheit der Zwede unter dem moralifchen Gefeße führen. Da aber 
alfo die fittlihe Vorfchrift zugleich meine Marime ift (wie denn vie 
Vernunft gebietet, daß fie es fein fol), fo werde ich unausbleiblich 
ein Dafein Gottes und ein Fünftiges Leben glauben, und bin ficher, 
daß diefen Glauben nichts wanfend machen fönne, weil dadurch meine 
fittlichen Grundfäge felbft umgeftürzt werden würden, denen ich nicht 
entjagen kann, ohne in meinen eigenen Augen verabfheuungswürdig 
zu fein.‘ 

- Sie wünfhen daher nun von mir zu wiflen, wie fi denn 
Schopenhauer zu biefer Kant'ſchen Moraltheologie, die Kanten ſo 
viele Anhänger unter den rationaliſtiſchen Theologen verfchafft, ver⸗ 
halte und was er von ihr dene. 

Run, um es nur geradherausd zu fagen, Kant kommt bei Schopen» 
bauer” wegen biefer feiner Moraltheologie fehr fchlecht weg. Schopen- 
hauer erfennt für die Kant’fche Einführung des Begriffes Geſetz, 
Vorſchrift, Soll in die Ethik feinen andern Urfprung an, als einen 
der Bhilofophie fremden: den Mofaifchen Dekalog. Diefen Urfprung 
verrathe ſogar naiv die Kant'ſche Orthographie „Du follt” in dem 
Beifpiel: du follt nicht lügen. Kant nimmt den Begriff des Mo- 
ralgefeges ohne Weiteres als gegeben und unbezweifelt vorhanden 
an; ebenfo macht er es mit dem eng verwandten Begriff ver Pflicht. 
Allein hiergegen legt Schopenhauer Proteft ein. „Dieſer Begriff, 
fammt feinen Anverwandten, alfo dem des Geſetzes, Gebotes, 


„Sollens u. dergl. hat, in dieſem unbebingten Sinne genommen, 


feinen Urfprung in der’theologifhen Moral, und bleibt in der phi- 
loſophiſchen fo lange ein Fremdling, bie er eine gültige Beglaubi- 
gung aus dem Wefen der menfchlichen Natur, oder dem der objecti- 
ven Welt beigebracht bat. Bis dahin erfenne ich für ihn und feine 
Anverwandten Feinen andern Urfprung als den Defalog.” Ueber: 
haupt tadelt es Schopenhauer, daß in den chriftlichen Jahrhunderten 
bie philofophifche Ethif ihre Yorm unbewußt von ber theologifchen 
genommen; dadurch fei ihre Form wefentlicy eine gebietende ge: 
worden, fie fei in der Form von Vorſchrift und Pflichtenlehre auf: 
getreten, in aller Unjchuld und ohne zu ahnen, daß hierzu erft eine 
anderweitige Befugniß nöthig fei. Jedes Soll hat nad Schopen: 
bauer allen Sinn und Bedeutung fchlechterdings nur in Beziehung 





252 


in der alles Wollen ein Ende findet: hingegen ift Glüchſeligkeit ein 
befriedigted Wollen, Beide alfo von Grund aus unvereinbar‘ *). 

Nachdem nun aber, fagt Schopenhauer weiter, Kant ein mal die 
imperative Form der Ethik (die nur in Hinfiht auf Lohn oder 
Strafe einen Sinn hat, folglich das ihr gemäße Handeln, als aus 
egoiftifchen Rüdfichten erfolgend, des rein moralifchen Werthes ent- 
fleivet) von der theologifchen Moral entlehnt hatte, deren Boraus- 
fegungen, alfo die Theologie, derfelben eigentlih zum Grunde liegen; 
da hatte er nachher leichtes Spiel, am Ende feiner Darftelung, aus 
feiner Moral wieder eine Theologie zu entwideln, die befannie 
Moraltheologie. Denn da brauchte er nur die Begriffe, die im- 
plicite dur das Soll geſetzt, feiner Moral verftedt zum Grunde 
lagen, ausbrüdlich hervorzuholen und jest fie explicite als Poftulate 
der praftifhen Vernunft aufzuftellen. So erfchien denn, zur großen 
Erbauung der Welt, eine Theologie, die blos auf Moral geftügt, ja 
aus diefer hervorgegangen war. Das kam aber daher, daß biefe 
Moral felbft auf verftedten theologifhen Vorausſetzungen beruht. 
„Ich beabſichtige Fein fpöttifches Gleichniß: aber in der Form hat die 
Sache Analogie mit der Ueberrafchung, die ein Künftler in der na⸗ 
türlihen Magie und bereitet, indem er eine Sache und da finden 
läßt, wohin er fie zuvor weislich prafticitt hatte. — In abstracto 
ausgeſprochen ift Kants Verfahren dieſes, daß er zum Refultat 
machte, was das PBrincip oder die Borausfebung hätte fein müflen, 
(die Theologie) und zur Borausfehung nahm, was ald Refultat 
hätte abgeleitet werben follen (das Gebot). Nachdem er nun aber 
fo dad Ding auf den Kopf geftellt hatte, erkannte e8 Niemand, ja 
er felbft nicht, für Das, was ed war, nämlich die alte, wohlbe- 
kannte theologijche Moral *).“ 

Die Schwächen, die Schopenhauer fonft noch an der Kant’fchen 
Ethik nachweift, muß ich Sie bitten, in der Abhandlung „Ueber das 
Fundament der Moral’ felbft nachzufefen. Hier will ich Sie blos 
noch darauf aufmerffam machen, daß ähnlich wie Kant abfolut Ge: 
jeße von Dem, was gefchehen fol, aufftellte, ohne fi darum zu 


*) „Die Welt ale Wille und Borflellung‘‘, I, 591. 
**) „Die beiden Grundprobleme ber Ethik“, ©. 125. 





Dreiundzwanzigſter Brief. 


Recapitulation des Grundgedankens der Schopenhauer’ihen Lehre. — An: 

nüpfung der Afthetit an denſelben. — Die Platoniſche Idee als Object 

der Kunft und des äfthetifhen. Wohlgefallene. — Unterſchied der äfthe- 

tiihen von der gemeinen Betrachtungsweife der Dinge. — Verhältniß 

der Platonifhen Idee zum Kant'ſchen Ding an fi. — Unterfchien des 

Schönen und Erhabenen. — SHinweifung auf die Ethik durch das 
Trauerfpiel. 


Nachdem ih Ihnen, verehrter Freund, in meinen beiden Tegten 
Briefen den Beweis geliefert, daß die Theologie weder theoretifch 
haltbar, noch auch praftifch, als moralifches Poſtulat unentbehrlich 
fei, — wird jetzt hoffentlich nichts mehr bei Ihnen im Wege ftehen, 
daß Sie fih den Inhalt der Schopenhauer’fchen, von aller Theologie 
freien und unabhängigen Metaphufif aneignen. Ich habe, wie ich 
daraus fehließe, daß Sie nichts gegen die in meinen beiden lebten 
Briefen vom tbeoretifhen und praftifhen Standpunkt aus unter- 
nommene Kritif aller fpeculativen Theologie einzuwenden gewußt, — 
reinen Boden in Ihrem Kopfe gemacht, indem ich jedes theologifche 
Vorurtheil, wenn fi etwa noch irgendwo eines verftedt eingeniftet 
hatte, mit der Wurzel ausgetilgt habe. So muß es aber auch fein. 
Es ift ein falfches Gerede, wenn man gewöhnlich fagt, ein Philoſoph 
dürfe das Alte nicht cher wegreißen, als bis er etwas Neues, Beffercs 
— an die Stelle geſetzt. Wo ſoll denn der Raum fuͤr das neue 
atte be im Kopfe herfommen, wenn berfelbe noch ganz von dem 

Y eingenommen iR? Nein, erft muß man den Irrthum rabical 


ausreißen, ehe man bie Wahrheit an feine Stelle pflanzt, und nody 
nie ift in der Geſchichte wirklich etwas Neues zu Stande gefommen, 
bevor nicht das Ihm im Wege ftehende, hemmende Alte geftürgt war. 
Nicht blos die großen Staatsmänner und Philofophen, fondern auch 
"die großen Religionsftifter haben überall damit angefangen, erjt 
reinen Boden zu machen, che fie ihre Saat ausgeftreut. Jeſus 
fchonte die Pharifäer nicht, bis er ihnen erft feine Lehre beigebracht; 
ſondern geiff fie fhonungslos an, um ihnen feine Lehre beizubringen. 
Ja, wenn fogar ein großer Geift, wie 5. B. Kant, nur das 
Alte einreißt, ohne dafür etwas Neues, Pofitives an die Stelle zu 
fegen, wenn alfo fein Gefdäft ein rein negatives ift, fo ift auch 
diefes, falls das Alte wurmſtichig und baufällig war, fon ein 
großes Verdienſt. Schopenhauer hat aber nicht blos, wie Kant, 
vernichtet, fondern auf dem von Kant gereinigten Grunde auch 
poſitiv aufgebaut. Um wie viel größer alfo fein Verdienft! — 
Vergegenwärtigen Sie ih nun, ehe Sie mir weiter folgen, 
den Orundgebanfen der Schopenhauericen Lehre noch ein mal. Es 
ift diefer, daß Das, was Kant ald Ding am fi der bloßen 
Erfjeinung, von Schopenhauer entfchiedener Vorftellung genannt, 
entegegenfegte und ſchlechthin für unerfennbar hielt, daß dieſes Subftrat 
aller Erſcheinungen, mithin der ganzen Natur, nichts Anderes fei als 
jenes uns unmittelbar Bekannte und fehr genau Vertraute, was wir 
{m Innern unfers eigenen Selbft als Willen finden; daß demnach 
diefer Wille, weit davon entfernt, wie alle bisherigen Philofophen 
annahmen, von ber Erfenntniß ungertrennlich, ja ein bloßes Re— 
ſultat derſelben zu fein, von diefer, die ganz ferundär und fpätern 
Urfprungs ift, grundverſchieden und völlig unabhängig fet, folglich 
auch ohne fie beftehen und fid äußern koͤnne, welches in der ger 
fammten Natur, von der thierifchen abwärts, wirklich der Fall ift; 
ja, daß dieſer Wille, als das alleinige Ding an fi, das allein 
wahrhaft Neale, allein Urfprüngliche und Metaphyſiſche, in einer 
Welt, wo alles Uebrige nur Erſcheinung, d. h. bloße Vorftellung 
ift, jedem Dinge, was immer es auch fein mag, die Kraft verleihe, 
vermöge deren es dafein und wirfen kann: daß demnach nicht allein 
die willfürlihen Actionen thieriſcher Weſen, fondern auch das orga- 
niſche Getriebe ihres belebten Leibes, fogar die Geftalt und Be: 


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fchaffenheit befielben, ferner auch die Vegetation der Pflanzen und 
endlich ſelbſt im unorganifchen Reich die Kryftallifation und über- 
haupt jede urfprüngliche Kraft, die fih in phyſiſchen und chemifchen 
Erſcheinungen manifeftirt, ja die Schwere felbft, — an fi und 
außer der Erfcheinung, welches blos heißt außer unferm Kopf und 
feiner Vorſtellung, geradezu identifch feien mit Dem, was wir in ung 
ſelbſt als Willen finden, von welchem Willen wir die unmittel- 
barfte und intimfte Kenntniß haben, die überhaupt möglich if; daß 
ferner die einzelnen Aeußerungen biefed Willens in Bewegung geſetzt 
werben bei erfennenden, d. h. thieriichen Weſen durch Motive, aber 
nicht minder im organifchen Leben des Thieres und der Pflanze 
durch Reize, bei unorganifchen endlich durch bloße Urfachen im 
engften Sinne des Worts: daß hingegen die Erfenntnig und ihr. 
Zubftrat, der Intellect, ein vom Willen gänzlic, verfchiedenes, blos 
fecundäres, nur die höhern Stufen der Objectivation des Willens 
begleitendes Phänomen fei, ihm felbft unwefentlih, von feiner Er⸗ 
fheinung im thierifchen Organismus abhängig, daher phyfiſch, nicht 
metaphyſiſch, wie er ſelbſt: daß folglich von Abweienheit der Er- 
fenntniß. nie geſchloſſen werden könne auf Abwefenheit des Willens, 
vielmehr diefer fih auch in allen Erfcheinungen der erfenntnißlofen, 
jowol der vegetabilifchen als der unorganiſchen Natur ‚nachweifen 
laſſe: aljo nicht, wie man bisher annahm, Wille durch Erfenntniß 
bedingt fei, wiewol Erfenntniß durch Wille. („Ueber ven Willen in 
der Natur‘, ©. 2—4.) 

Wenn Sie diefes wohl gefaßt haben — und nad) meinen bis- 
herigen Erläuterungen wird ed Ihnen nicht ſchwer geworben fein — 
fo Haben Sie damit den Schlüffel in Händen zum Berflänpniß der 
nun noch übrigen Theile des Schopenhauer'ſchen Syſtems, nämlic, 
der Afthetif und Ethik, wovon jene noch der Betradytung der 
Welt als Vorftellung, diefe hingegen der Betrachtung der Welt 
als Wille angehört. 

Ich werde Ihnen zuerft die Grundgedanken der Afthetif dar- 
legen und dann in meinen näaͤchſten Briefen die der Ethik folgen laſſen. 

‚Die Aſthetik fliegt fih an die angegebene Grundlehre ber 
Scopenhauerihen Philofophie auf folgende Weife an: Der Wille, 
der das Weſen und der Kern der Welt ift, erfcheint nicht unmittelbar 


257 


in einzelnen, flüchtigen, den Gefegen des Raumes, der Zeit und 

Ganfalität unterworfenen Individuen, fondern dieſe find ſelbſt nur 

vorübergehende Gremplare der ewigen, von Raum, Zeit und Cau— 

ſalitat unberührten Gattungen oder Stufen der Objectität des 

Willens. 

Dieſe beftinmten, beharrlihen Stufen num, auf welchen ber das 
Anſich der Welt ausmahende Wille bleibend erfcheint oder ſich 
objectivirt, find identifch mit Dem, was Platon die ewigen Ideen 
‚oder bie unveränderlihen Formen (ein) nannte, und dieſe Platonifchen - 
Ddeen find das Dbfect der Kunſt, überhaupt der Gegenftand des 
aſthetiſchen Wohlgefallens. 

So wie aber fein Object ohne Subject iſt, da jedes Object nur 
Vorftellung ift und jede Vorftellung ein. Vorftellendes vorausfegt; 
-fo muß aud) der eigenthümlichen Befchaffenheit des aſthetiſchen Ob- 
jects (der Platoniſchen Idee) eine eigenthümliche Beſchaffenheit des 
vorftellenden Subjects entfprechen. Das vorftellende Subject kann 
den ewigen, von Raum, Zeit und Canfalität unberührten (Platonifchen) 
Ioeen gegenüber nicht mehr daffelbe fein, welches es den einzelnen, 
flüchtigen, den Caufalnerus unterivorfenen individuellen Dingen 

gegenüber ift. Der höhern Stufe des Objects, welches der Gegen- 
ftand des äfthetiichen Wohlgefallens ift, entjpricht auch ein höherer 
Grad des erfennenden oder vorftellenden Subjects. Demnach bietet 
die Aſthetit eine objective und eine fubjective Seite dar, und 
beide find umgertvennlich. Diefen Grundgedanken wird Ihnen das 
Folgende verdeutlichen: 

Die Platoniſche Idee it zwar Dbject, ein Erfanntes, eine Vor 
ſtellung und eben dadurch vom Ding an ſich verfchieden. Aber fie 
hat die untergeordneten Formen der Erfcheinung, Raum, Zeit und 
Gaufalität, abgelegt, oder ift vielmehr noch nicht in fie eingegangen; 
hingegen bie erfte und allgemeinfte Form hat fie beibehalten, die der 
Vorftellung überhaupt, des Objectfeing für ein Subjet. Die diefer 
untergeorbneten Formen (Räumlichfeit, Zeitlichteit und Gaufalität) 
find es, welde die Idee zu einzelnen und vergänglichen Individuen 
vervielfältigen, deren Zahl, in Beziehung auf die Idee oder bas 
eigentliche Was, das in ihnen erfcjeint, völlig gleichgüftig ift. Das 
einzelne Ding ift alfo nur eine mittelbare Erſcheinung oder Ob⸗ 


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jectivation des Dinges an ſich (des Willens), zwiſchen welchem und 
ihm noch die Idee ſteht als die alleinige unmittelbare Objectitaͤt des 
Willens, daher fie allein die moͤglichſt adäquate Objectität des 
Willens oder Dinged an fi if, während die einzelnen Dinge feine 
ganze adäquate Objectität des Willens mehr find, fondern fchon 
getrübt durch die Yormen des Raums, der Zeit und Gaufalität, in 
die fie eingegangen. 

Anmerk. Durd die Darftellung der Platoniſchen Ideen als bleibenver 
Erſcheinungs⸗ oder Objectivationsfiufen des Willens, als des Dinges an 
fih, bat Schopenhauer die Platonifche Philofophie mit der Kant'ſchen in innern 
Zufammenhang gebracht. Er ſtellt ſelbſt dieſen Zufammenhang fo dar*): 
Iſt uns der Wille das Ding an fi, die Idee aber die unmittelbare 
Objectität jenes Willend auf einer beflimmten Stufe, fo finden wir 
Kant’d Ding an fih und Platon’s Idee, die ihm allein Ovruc ov ifl, 
diefe beiden dunfeln Paradoxen der beiden größten Philofophen des Occi⸗ 
dents, — zwar nicht als identiſch, aber doch als fehr nahe verwandt und 
nur durch eine einzige Beſtimmung unterſchieden. Nämlih, was Kant 
fagt, ft, den Weientlihen nad, Folgendes: „Zeit, Raum und Gaufalität 
find nicht Beflimmungen des Dinge an fi, ſondern gehören nur feiner 
Erſcheinung au, indem fie nichts als Formen unferer Erkenntniß find. 
Da nun aber alle Vielheit und alles Entſtehen und Vergehen allein 
dur Zeit, Raum und Gaufalität möglih find, fo folgt, daß auch jene 


' allein ver Erſcheinung, keineswegs dem Dinge an fih anhängen. Weil 
‚ unfere Erkenntniß aber durch jene Formen bevingt if, fo if die ge- 
: fammte Grfahrung nur Erkenntniß der Erſcheinung, nicht des Dinges an 
-fih: daher auch können ihre Geſetze nicht auf das Ding an fidh geltend 
gemacht werden. Selbft auf unfer eigenes Ich erſtreckt ſich das Geſagte 


und wir erfennen e8 nur als Erſcheinung, nit nah Dem, was es an 
fi fein mag.” Dieſes der Sinn der Kant’fchen Lehre. — Platon nun 
aber fagt: „Die Dinge diefer Welt, welche unfere Sinne wahrnehmen, 
haben gar Fein wahres Sein: fie werden immer, find aber nie: 
fie Haben nur ein velatives Sein, find indgefammt nur in und durch ihr 
Verhältniß zueinander: man kann daher ihr ganzes Dafein ebenfowol 
ein Nichtfein nennen. Sie find folglih auch nicht Objecte einer eigent- 
lihen Erkenntniß (dmommpm): denn nur von Dem, was an und für fid 
und immer auf gleiche Weife if, kann e8 eine ſolche geben: fie hingegen 


u find nur das Object eines durch Empfindung veranlaßten Dafürhaltens 





*) „Die Welt ale Wille und Vorſtellung“, 3b. I, $. 31. 


dem Feuer vorübergeführt würden, und auch fogar 
voneinander, ja Jeder vom ſich felbft, eben mur die Schatten auf jener 
Wand. Ihre Weisheit aber wäre, die aus Erfahrung erlernte Suceeffion 
jener Schatten vorher zu fagen. Was nun hingegen allein wahrhaft Seiend 
(&vrug dv) genannt werben Fann, weil e8 immer tft, aber nie wird, 









einzelne, vergängliche Dinge derſelben Art find. Ihnen kommt auch 
Entftehen und Vergehen zu: denn fie find wahrhaft feiend, nie 
werdend, mod) untergehend, tie ihre hinſchwindenden Macbilder. (. 
dieſen Beiden verneinenden Beflimmungen ift aber nothwendig als Vor: 
ausfegung enthalten, daf Zeit, Raum und Gaufalität für fe Feine Bes 
„noch Gültigkeit haben und fie nicht in dieſen bafind.) Von 
daher gibt es eine eigentliche Erfenntniß, da das Objen 
nur Das fein Tann, was immer und in jedem Betr 
ift; nicht Das, was iſt, aber auch wieder nicht iſt, je 
anfieht." Dies ift Platon’s Lehre, 
offenbar, fagt Schopenhauer, daß der innere Sinn beider 
ift, daß beide die fihtbare Welt für eine Erſcheinung 
am ſich nichtig ift und nur durch dad in ihr ih. Ausdrückende 
das Ding an fd, dem Andern bie Ioee) Bereutung und 
Dieſelben Formen, die Kant feinem Ding an ſich abſpricht 
und Gaufalnerus) hat mittelbar Platon auch feinen Ideen 
abgefprogen, indem er Vielpeit, Entftehen ind Vergehen, die nur durch 
jene Formen möglid) find, von ihnen verneint. 

Schopenhauer erläutert dieſes noch näher durd ein Beiſplel, das 
Sie ſelbſt a, a. O. nachleſen mögen, und Fommt dann zu dem Nefultate, 
bafı pwiſchen Kant und Platon nur ver eine Unterſchied ftattfindet, daß die 
Ideen deö Leptern mur von den untergeorpneten Bormen ber Erſcheinung, 
Zeit, Raum und Gaufalität, frei find, dagegen die erſte und allgemeinfte 
Form, die der Vorftellung überhaupt, des Objectfeins für rin Subject, 
noch an fi Haben; während das Kant'ſche Ding an fid, als von 
allen dem Erkennen als ſolchen anhängenden Bormen frei, auch dieſe 

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RETBE ZBBE 
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260 


allgemeinſte Form, das Object⸗ für ein Subjectſein, abgelegt hat (wes⸗ 
halb, wie Schopenhauer in der Kritik der Kant'ſchen Philoſophie zeigt, 
es eine Inconſequenz Kant's war, daß er das Ding an fi als Object 
dem Subject entgegenftellte). Kurz, die Foren find nicht felbft das Ding 
an fih, fondern nur die unmittelbare Objectität deſſelben, mit andern 
Worten: der von aller Vorftellung und ihren Kormen unabhängige Wille 
ift das Ding an fi und die Platonifhen Ideen oder Objectivationsſtufen 


des Willens feine unmittelbare Erſcheinung. 


— 5* 55 


Wären nun wir ſelbſt nicht Individuen, d. h. wäre unſere An⸗ 
ſchauung nicht vermittelt durch einen Leib, von deſſen Affectionen fie 
ausgeht und welcher ſelbſt nur concretes Wollen, Objectität des 
Willens, alfo Dbjert unter Objecten und als foldyes den Formen 


“ aller individuellen Objecte: Raum, Zeit und Gaufalität, unterworfen 


ift; wären wir vielmehr individualitätslofes, reines, willensfreies 
Subjert der Erfenntniß: fo würden wir gar nicht „mehr einzelne 
Dinge, noch Wechſel, noch PVielheit erkennen, fondern nur Ideen, 
nur die Stufenleiter der Objectivation jenes einen Willens, der das 
wahre Ding an fich if, in reiner ungetrübter Erkenntniß auffafien *). 

Diefe reine, ungetrübte, willensfreie Auffaffung der Ideen tritt in 
der That ein beim Genie im Momente des fünftlerifchen Schaffens, und 
beim Beichauer fchöner oder erhabener Raturs und Kunftwerfe im 


. Momente der rein äfthetiihen Contemplation. Der Intellect, der alfo 


urfprünglih nur zum Dienfte des Willens gefchaffen ift, in feiner 
natürlichen Yunction daher auch nur auf Die räumlichen, zeitlichen 
und Gaufalbeziehungen der einzelnen Dinge unter einander und in 
ihrem Verhältniß zum Willen gerichtet ift, ja bei den Thieren ftets 
auf diefer Stufe feiner Dienftbarkeit unter dem Willen ftehen bleibt, 
— erhebt ſich in der äſthetiſchen Contemplation zur Anſchauung der 
ewigen, unvergänglichen Ideen oder des allgemeinen harafteriftifchen 
Wefens ber Dinge, durch momentane Befreiung vom Dienfte des 
Willens. 

Diefen freien Zuftand des Intellects ſchildert Schopenhauer im 
Gegenfag zu dem der Dienftbarfeit näher fo: Da allein die Re: 
fationen der Dinge zum Leibe und dadurch zum Willen (deffen Er- 


*) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, Bd. 1, $. 30—33. 


261 ri 
oder Sichtbarkeit ja der Leib nur ift) dem Individuo die 
intereffant machen, fo wird das Individuum als foldes 
auch nur beftrebt fein, von den Dbjecten eben nur jene Re— 
oder unmittelbar, aufzufaffen. Es wird alfo, fo 
fi) als Individuum, als Einzelnes, als perfonifteirter 
den Dingen verhält, nur den mannichfaltigen Beziehungen 
, Zeit und Caufalität nachgehen. Daher denn 

dem individuellen Willen dienende Erfenntniß an den Ob— 
eigentlich nichts weiter auffaßt, als daß fie zu diejer Zeit, au 
Ort, unter diefen Umftänden, aus dieſen Urfachen, mit diefen 


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Wirfungen dafind. — Anders das willensfreie oder reine, inbivie 
dunlitätslofe Subject der Grfenntniß. Diefes laßt die Beziehungen 
der Dinge auf den Willen oder die den perſonlichen Willen inter 


auf 
reffirende Seite derfelben ganz fahren, um ftatt ihrer das durch 
alle Relationen hindurch ſich ausſprechende rein objective Weſen 
ihrer Erſcheinung aufzufaffen. Im einzelnen Dinge erfennt ed blos 
das Wefentlie und daher die ganze Gattung defielben, folglich 
hat es zu feinem Gegenftand bie Ideen, im Platoniſchen Sinne; 
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unabhängigen Geftalten, die species rerum *). 
Der — von der gemeinen Erfenntniß einzelner Dinge 
Erlenntniß ihrer Idee geſchieht plöglich, ‚indem die Erfenntniß 
vom Dienfte des Willens losreißt, eben dadurd das Subject 
ein blos individuelles zu fein und jeht reines, willenlofes 
der Erfenntniß if, weiches nicht mehr, dem Sage vom 
gemäß, der Relation nachgeht, fondern in feſter Content 
des dargebotenen Objects, außer feinem Zufanmenhange 
andern, ruht" und darin aufgeht, 
man, durch die Kraft des Geiftes gehoben, bie gewöhn- | 
l 
| 


iit7: 


& 
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Betrachtungsart der Dinge fahren läßt, alfo nicht mehr das |) 
das Wann, das Warum und Wozu an den Dingen betrachtet, | || 
einzig und allein das Was, aud) nicht das abftracte Denfen, 
Begriffe der Vernunft, das Bewußtfein einnehmen läßt, fondern| | 


5* 


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+) „Die Welt als Wille und Vorlellung*, Bv. 1, 8. 33 1, und Bb. 2, 
29 fd. „Parerga und Paralipomena‘, Bd. 2, $. 205 fg. 


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fait alle Deſſen, die ganze Nacht feines Geiſtes der Unfchauung 
bingibt, ſich ganı in biefe verfenft unb Das ganze Bewußtſein aus- 
füllen läßt durch die ruhige Gontemplatien des gerabe gegenwärtigen 
natürlichen Gegenftandes, jei es eime Landſchaft, ein Baum, ein 


Fels, ein Gebäude oder was andy immer; indem man, nad) einer 


finuvollen deutſchen Rebensart, ih gamz im dieſen Gegenſtand ver⸗ 


: fiert, d. 5. eben jein Indivivuum, feinen Willen vergißt und nur 
noch als reines Subject, ald Marer Epiegel des Objects beſtehend 


bleibt, ſodaß man nur noch weiß, baß bier angeichaut wird, aber 
nicht mehr weiß, wer der Anichauende ik; wenn alte foldyermaßen 


das Dbject aus aller Relation zu etwas außer if, bad Subject 
: aus aller Relation zum Willen getreten if: dann if, was alfo er 


fannt wird, nicht mehr das einzelne Ding als ſolches, fondern es 
iR die Idee, die ewige Form, die unmittelbare Objertität des 
Willens auf diefer Stufe, und eben dadurch ift zugleich der in biefer 
Anſchauung Begriffene nicht mehr Individuum: demn das Individuum 


- Bat fi eben in ſolche Anfchaunug verloren, fondern er iR reines, 


willenlofes, fchmerzlofes, zeitlofe Subject der Erfenntniß”). 

Ich brauche mich bei der Erläuterung dieſes Grundgedankens 
der Schopenhauer’fchen Afthetif, aus dem fich alles Weitere in der⸗ 
ſelben natürli und ungeswungen entwidelt, um fo weniger aufzu⸗ 
halten, als ich in meinen „Aſthetiſchen ragen“ **), befonders in 
Abſchnitt II über die „ſpecifiſch verfchievenen Arten des Wohlges 
fallens“, Abfchnitt VI über das „verfchievene Verhalten zur Wirk⸗ 
lichkeit und zum Bilde”, und Abfchnitt XVI über das „zwiefache Ins 
terefie an Kunftwerfen”, binlängliche Erläuterungen dazu gegeben 
babe. Auch wird Ihnen die eigene Erfahrung fagen, daß Sie in 
jedem echtäfthetifchen Genufle, fei e8 nun bei der Beichauung einer 


' fchönen Landſchaft, oder eines guten Gemäldes, oder eined Dramas 
im Theater, fi ſelbſt mit all Ihren perfönlichen Beziehungen und der 


Miſere des praftifchen Lebens ganz aus dem Bewußtſein verloren, und 


ı die Seligfeit des Genuſſes eben daher entfprang. Sie werden daher 


auch jetzt verftehen, was Schopenhauer eigentlih meint, indem er 


— — — — 


) a. a. O. 
”*) Deſſau, bei Gebrüber Katz, 1853. 


blühender Vorfahr ift, und ebenfo, ob der Betrachter diefes, oder 
irgend ein anderes, irgend warn und irgend wo lebendes Individuum 
iſt .“ Das will fagen: In der äſthetiſchen Betrachtungsweiſe find 
zwei ungertrennliche Beftandtheile enthalten: 1) die Erfenntniß 
des Dbjects, nicht ald einzelnen, jet und hier und in ſolchen 
Gaufalbeziehungen ftehenden Dinges, fondern als Ausdruds einer 
ewigen, ftets ſich gleich bleibenden, an den verſchiedenſten Orten, zu 
den verſchiedenſten Zeiten und unter den verfchiedenften Umftänden 
ſich wefentlic auf diefelbe Weife offenbarenden Idee; und 2) das 
Bewußtſein des Erfennenden nicht als Individuums, fondern als 
reinen, willenlofen Subject8 der Erfenntniß. 

Die befchriebene äfthetiihe Stimmung fann vom Object ober 
vom Subject ausgehen, Jenes ift der Fall, wenn fie von außen 
durch entgegenfommende Objecte, durch die zu ihrem Auſchauen eins 
ladende, ja fid) aufdringende Schönheit der Natur oder der Kunft 
hervorgerufen und befördert wird. Von innen hingegen geht fie aus 
beim Genie, deſſen wefentlicher Charakter ſich im Uebergewicht des 
wilfenfreien, rein objectiven Erfennens über das Wollen Fumdgibt **). 

Der Unterfchied des Schönen vom Erhabenen ergibt fid auf 
folgende Weiſe aus diefer Schopenhauer/fhen Lehre: Das Verſetzen 
in den Zuftand des reinen willenlofen Anfchauens tritt dann am 
leichteſten ein, wenn die Gegenftände demfelben entgegenfommen, 
de h. durch ihre beftimmte und deutliche Geftalt leicht zu Repräfens 
tanten ihrer Ideen werden, worin eben bie Schönheit, im objectiven 
Sinne, befteht, Bor Allem hat die fhöne Natur diefe 
und gewinnt dadurch feloR dem Unempfinblichften wenigitens ein 
flüchtiges aſthetiſches Wohlgefalen ab. So lange nun dieſes Ent: 
gegenfommen der Natur, die Bebeutfamfeit und Deutlichfeit ihrer 


”) „Die Welt als Wille und Vorftellung“, I, 222 u. 237. 
) „Die Belt als Wille und Borftellung“, Bd. 1, $.36—33, u. Vd. 2, Gap. 31. 


— — 


264 


Formen, aus denen bie in ihnen individualifirten Ideen uns leicht 
anfprechen, es ift, die und aus der dem Willen dienftbaren Erfenntniß 
bloßer Relationen in die Afthetifche Contemplation verfegt und eben 
damit zum willensfreien Subject des Erfennens erhebt, fo lange ift 
ed blos das Schöne, was auf und wirft, und Gefühl der Schöns 
heit, was erregt if. Wenn nun aber eben jene Gegenflände, deren 
beveutfame Geftalten uns zu ihrer Eontemplation einladen, gegen den 


menſchlichen Willen überhaupt, wie er in feiner Objectität, dem 


menſchlichen Leibe fich darftellt, ein feindliches Verhältniß haben, ihm 
entgegen find, durch ihre allen Widerftand aufhebende Uebermacht 
ihn bedrohen, oder vor ihrer unermeßlihen Größe ihn bis zum 
Nichts verkleinern; der Betrachter aber dennoch nicht auf dieſes ſich 
aufdringende feindliche Verhältnig zu feinem Willen feine Aufmerf- 
ſamkeit richtet, fondern, obwol es wahrnehmend und anerfennend, 
fih mit Bewußtfein davon abwendet, indem er fi von feinem 
Willen und deſſen Verhältniffen gewaltfam losreißt und, allein der 
Erkenntniß hingegeben, eben jene dem Willen furchtbaren Gegen- 
ftände als reines willenlofes Subject des Erkennens ruhig contemplirt, 
ihre jeder Relation fremde Idee allein auffaflend, daher gerne bei 
ihrer Betrachtung weilend, folglich eben dadurch über fich felbft, feine 
Perfon, fein Wollen und alles Wollen hinausgehoben wird: — 
dann erfüllt ihn das Gefühl des Erhabenen: er if im Zuftand 
ber Erhebung, und deshalb nennt man auch den foldhen Zuftand 
veranlaffenden Gegenftand erhaben *). 

Nach diefer allgemeinen Beleuchtung des Weſens des Afthetifchen 
von feiner objectiven und fubjectiven Seite, bei welcher letztern vor⸗ 
nehmlich das Genie in Betrachtung fommt, das Keiner fo gründlid) 
erklärt und fo wahr befchrieben hat, als Schopenhauer, — geht Schopens 
bauer zu den einzelnen Künften über. Da ich es jedoch in diefen Briefen 
nur übernommen habe, Ihnen die Grundgedanken der Schopenhaner’s 
hen Philofophie in ihrem Zuſammenhange darzulegen, fo muß id) es 
Ihnen felbit überlaffen, feine Darftelung des Weſens der einzelnen 


Künfte im dritten Buche der Schrift „Die Welt ald Wille und 


*) Die nähere Ausführung diefes Gedankens finden Sie in ber Schrift „Die 
Melt als Wille und Vorſtellung“, Bd. 1, 5. 39, wo auch Beifpiele zur Erläuterung 
beigegeben find. 


Vorftellung“, ſowie in den dazu gehörigen Ergänzungen be ziweiten 
Bandes und inderSchrift „Parerga und Paralipomena“, Bd. 2, Cap.19, 
nachzuleſen. Alsdann verweife ich Sie auch nochmals auf meine 
Aſthetiſche Fragen“, in denen ich gelegentlich viele Stellen aus der 
Schopenhauer ſchen Afthetit angezogen und überhaupt feine Aſthetit 
vielfach erläutert habe. 

Auf die nun folgende Ethik deutet die Schopenhauer’fche Aftherit 
in folgender Weife hin: Die Erlöfung vom Dienfte und dadurch von 
den Qualen des Willens gefcyieht in der äfthetiichen Contemplation nur 
auf vorübergehende Weiſe. Die durd die Kunft und namentlich 
durch das Trauerfpiel gewonnene Erfenntniß des Wefens der Welt 
und des Lebens wirft nur vorübergehend als ein Beichwichtigendes 
oder, wie ſich Schopenhauer ausprüdt, als Quietiv des Willens, 
führt ber noch nicht zur gänzlichen Refignation, d. h. zur totalen 
Verneinung des Willens zum Leben, obwol das Trauerfpiel ſchon 
zu biefer amleitet*). Was aber die äſthetiſche Erfenntnißweife nur 


*) Schopenhauer betrachtet das Tranerfbiel als den Gipfel der Dichtfunft, 
Es if,“ fagt er, „für das Ganze unferer Vetrachtung fehr bedeutfam und wohl zu 
beachten, daß der Zweck biefer höchften poetifchen Leiſtung die Darftellung ber 
ſchredlichen Seite des Lebens iſt, daß der namenlofe Schmerz, der Sammer der 
Menjehheit, der Triumph der Vosheit, die höhnende Herrfhaft des Zufalls und 
dee rettungslofe Ball der Gerechten und Unſchuldigen uns bier vorgeführt werben: 

ein famer bis D it ber It und des 
J 2 1; der Witerftreit des Willens mit fidh * welcher hier, auf der 


—— feiner Objectität, am — entfaltet, furchtbar hervortritt. 





—— der in ihnen Allen Lebt und erſcheint, deſſen Erfchel: 
mungen aber, getäuſcht und gebfenbet durch die trennenbe Korm ber Jubivibuation, 
fich felbh bekämpfen und ſich felbft zerfleifchen. Im dieſem Individuo tritt er 
gewaltig, in jenem fÄwäcer hervor, hier mehr, bort minder zur Beſinnung ges 
bracht und gemilbert durch has Licht ber Erfenntniß, bis endlich im Gingelnen 
—— ſ gelautert und geſteigert durch das Leiden ſelbſt, ben Punft erreicht, 

, der Schleier der Maja, fie nicht mehr tauſcht, die Inbivl- 


buation, bie de der Erſcheinung, von ihr durchſchaut wird, ber auf berfelben 
beruhende Egoismus eben bamit erfticht, wodurch nummehr bie vorhin fo gewal · 
tigen Motive des Willens ihre Macht verlieren, und ftatt ihrer die vollfommene 


) 


———a | — 


266 


auf Augenblide thut, Das thut die ethifche auf immer. Die echt 
ethiſche Gefinnung, wie fie im Leben des Heiligen zur Grfcheinung 
fommt, erlöft nicht blos auf Augenblide vom Leben, fondern auf 
immer, indem fie ganz von bemfelben abwendet und aus demfelben 
bhinausführt. Schopenhauer drüdt diefes näher fo aus: Der Genuß 
alles Schönen, der Troft, den die Kunft gewährt, der Enthufiasmus 
des Künftlers, welcher ihn die Mühen des Lebens vergeflen läßt, 
diefer eine Vorzug des Genius vor den Andern, der ihn für das mit 
der Klarheit des Bewußtſeins in gleihem Maße gefteigerte Leiden 
und für die öde Einfamfeit unter einem heterogenen Gefchlechte allein 
entfchäbigt, — dieſes Alles beruht darauf, daß das Anfich des 
Lebens, der Wille, das Dafein felbft, ein ſtetes Leiden, und theils 
jämmerlih, theils ſchrecklich if, daſſelbe hingegen als Borftellung 
allein, rein angefchaut, ober durch die Kunft wiederholt, frei von 
Dual ein beveutfames Schaufpiel gewährt. Diefe rein erkennbare 
Seite der Welt und die Wiederholung verfelben in irgend einer 
Kunft ift das Element des Künftlers. Ihn feflelt die Betrachtung 
des Schaufpield der Objertivation des Willens: bei demfelben bleibt 
er ftehen, wird nicht müde, e8 zu betrachten und darftellend zu wieder: 
holen, und trägt verweilen felbft die Koften der Aufführung jenes 
Schaufpiels, d. h. ift ja ſelbſt der Wille, der ſich alfo objectivirt und 
in ftetem Leiden bleibt. Jene reine, wahre und tiefe Erfenntniß des 
Weſens der Welt wird ihm nun Zweck an fi, er bleibt bei ihr 
ftehen.” Daher wird fie ihm nicht, wie bei dem zur Refignation 


Erkenntnig des Wefens der Welt, als Duietiv des Willens wirfend, die Refig⸗ 
nation herbeiführt, das Aufgeben, nicht blos bes Lebens, fondern bes ganzen 
Willens zum Leben felbfl. So fehen wir im Trauerfpiel zulegt bie Edelſten, nad 
langem Kampf und Leiden, den Iweden, vie fie bis dahin fo heftig verfolgten, 
und allen den Genüſſen des Lebens auf immer entfagen, oder es felbft willig und 
freudig aufgeben. — Bei diefem Anblid fühlen wir uns aufgefodert, unfern Willen 
vom Leben abzuwenden, es nicht mehr zu wollen und zu lieben. Im Augenblid 


- der tragifchen Kataftrophe wird uns beutlicher als jemals die Ueberzeugung, daß 
. bas Leben ein fehwerer Traum fei, aus bem wir zu erwachen haben. Das Trauer: 


fpiel leitet demnach zur Refignation hin ).“ 


*) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, I, 286 fg. u. II, 433 fg., wo Sie ausführliche 
DBeifpiele zum Belege viefer Anſicht vom Trauerſpiel finden. 


267 


gelangten Heiligen, Quietiv des Willens, erlöft ihn nicht auf immer, 
fondern auf Augenblide vom Leben und ift ihm fo noch nicht der 
Weg aus demfelben, fondern nur einftweilen ein Troft in demfelben, 
bis feine dadurch gefteigerte Kraft, endlich des Spieles müde, den 
Ernft ergreift. Als Siumbild diefes Ueberganges kann man die 
heilige Gäcilie von Rafael betrachten *). 

Den Ernft der Schopenhauer ſchen Ethik werden Sie nun aus 
meinen folgenden Briefen Fennen lernen, die Ihnen auch das zuleht 
Angeführte noch verftändlicher machen werden. Die Schopenhauer ſche 
Ethit ift zwar gerade derjenige Theil feines Syftems, der bisher 
am meiften Anftoß erregt hat. Manche möchten wol ganz gern 
ſich feine Naturphilofophie und Aſthetik aneignen **), aber diefe peſſi— 
miſtiſche Ethik mit ihrer Lebens- und Weltverachtung, mit der fleiſch⸗ 
und ‚blutlofen Refignation und Heiligkeit, die ſie als das höchſte 

ttliche Ideal it, — will, wie leicht erflärlih, ihrem Lebens 
Iufigen Willen nicht in den Sinn. Der das Leben bejahende Wille 
wird natürlich durch eine Ethik, deren Gipfel die Berneinung des 
Willens zum Leben ift, abgeftoßen, Und doch ift die Schopenhauer’ 
ſche Ethit im Grunde nicht verfchieden von der alten urchriftlich- 
ascetifhen, ja nicht blos mit diefer, fondern auch mit der noch weit 
verbreitetern und weit mehr Anhänger zählenden buddhaiſtiſchen 
ftimmt fie weſentlich überein, und fteht folglich, Feineswegs fo iſolirt 
da, wie Manche glauben, die fie nur für die Ausgeburt eines eine 
jamen- mifanthropif—hen Kopfes und Herzens halten. 


*) „Die Welt als Wille und Vorftellung“, I, 302. 
) So hat z. DB. Road in feiner Schrift: „Die Theologie als Neligions- 
philofophie‘‘, ſich ganz ſuillſchweigend Schopenfauer's Narurphilofophie angeeignet. 


Bierundzwanzigfter Brief. 


Doppelfinn der Erfheinung bei Schopenhauer. — Unterſchied zwiſchen 
Platon's und Fants Lehre. — Die drei Grundeigenſchaften des Willens. — 
Kurze Weberfiht über die Schopenhauer’fhe Ethit. 


— — — — 


Der Grundgedanke der Schopenhauer'ſchen Afthetif hat Sie, ver⸗ 
ehrter Freund, wie Sie in Ihrem legten Schreiben fagen, über den eigen- 
thümlichen erhöhten Zuftand der Seele bei Betrachtung des Schönen 
und Erhabenen, den Sie bisher zwar aus Erfahrung Fannten, aber eben 
nur genofien, ohne ihn fich zu deuten, zum erften mal zum Elaren und 
deutlichen Bewußtfein gebracht. Bisher haben Sie zwar fchon, wie 
Sie fagen, mandherlei äftbetifche Genüffe gehabt, mandherlei fchöne 
und erhabene Naturerfiheinungen beobachtet, mandherlei geniale 
Kunftwerfe aus allen Gattungen der Kunft angefhaut. Aber, was 
fi) dabei in Ihrer Seele geregt, welche Veränderung dabei in Ihnen 
vorgegangen, was bie äfthetifche Betrachtung und den äfthetifchen 
Genuß über die gemeine, alltägliche Betrachtungsweife der “Dinge 
und über die materiellen Genüfle fo hoch hinausgehoben, — das 
fei Ihnen jet erft, nach der Schopenhauerfchen Zerlegung der äfthe- 
tifchen Contemplation in die objective und fubjective Seite, auf 
welcher erftern die Platoniſche Idee, auf der lebtern das reine, inbivi- 
dualitäts- und willenlofe Subject der Erfenntniß, als ihr Correlat, 
ftehe, — klar und deutlich geworden. Auch haben, wie Sie fagen, 
meine „Afthetifhe Fragen” Ihnen noch mande erwünfchte Auf: 
fhlüffe gegeben und Sie über manches bisher nur Dunkel Gefühlte 


zur hellen Erkenntniß und Einſicht gebracht. So z. B. fei Ihnen 
en mancher Schaufpieler, 
den man neulich aud) dem ſchwarzen Tragöden Ira Aldridge hat 
vorwerfen wollen, zuwider gewefen; aber warum Sie ihn ftets fo 
unäfthetifch gefunden, darüber fei Ihnen erft, nachdem Sie die Stelle 
in meinen „Afthetifhen Fragen“, S. 139 fg., über die äſthetiſche 
Aluſion gelefen, ein Licht aufgegangen. Das freut mich fehr. 
Dody nun zu Ihrem Bedenken, das Sie gegen die Schopen- 
hauer ſche Gombination des Kant'ſchen Idealismus mit der Piatoni⸗ 
ſchen Ideenlehte haben. Sie ſagen nämlich, Platon erfläre zwar 
ahnlich die wahrgenommenen Cinzeldinge dieſer Welt, als der 
Vielheit in Raum und Zeit und dem Gaufalnerus im Entftehen 
und Vergehen unterworfen, für nichtig, d. b. nicht wahrhaft 
feiend, wie Kant fie für bloße Erfcheinungen erfläre und dem Ding 
an ſich als dem wahrhaft Seienden entgegenfege. Aber der Grund 
diefer Entgegenfegung fei doch bei Beiden ein verſchiedener. Der 
Sinn diefes Gegenfages ſei bei Beiden nicht gang berfelbe. Dem 
Platon feien die Eingeldinge nur das nicht wahrhaft Seiende (dvras 
dv) wegen ihrer Flüchtigfeit und ihres Unbeftandes; dem Kant hin 
gegen Erſcheinungen, weil fie nicht das Ding an fich, fondern durch 
die fubjectiven, aprioriſchen Formen der Anſchauung und des Vers 
ſtandes bedingte Borftellungen ſeien. Platon’s Grundgedanle fei: 
Nur das Ewige, Ungewordene und Underänderliche ift das Wahre; 
Kants Grundgedanke hingegen der: Nur das Unvorgeftellte, das von 
den Formen der Borftellung Freie ift das Ding an fih. Wenn Platon 
von dem wahrhaft Seienden Vielheit, Entftehen und Vergehen negire, 
fo faffe er doch aber immer die Vielheit, das Entftchen und Ber 
sehen, ald etwas Neales, unabhängig vom erfennenden Subject 
Gegebenes auf, als die realen Abbilver der ewigen Urbilver. Wenn 
Kant dagegen die Einzeldinge für bloße Erſcheinung erfläre, fo meine 
er damit, e8 komme ihnen Feine vom Subjeet unabhängige Realität 
sw, fondern fie jeien bloße durch die aprioriihen Formen der Anz 
ſchauung und des Verftandes bedingte Vorftellungen. Bei Kant 
babe alfo das Wort Erfheinung (im Gegenfag zum Ding an 
ſich) eine gang andere Bedeutung, als bei Platon, wo die Erſchei⸗ 
nungen (die Einzeldinge) zwar nicht das wahrhaft Seiende, aber 





Gehen kann es fat gar might, weil es nur auf Klettern berechnet iſt 
hülflos auf dem Boden, it es behend auf den Bäumen, und fieht 
ſelbſt aus wie ein bemoofter Aft, damit Fein Verfolger feiner gewahr 
werbe*), Schopenhauer zeigt noch 


B 

& 

A 

: 

& 
8: 


wir, fagt er, etwas näher ein auf die Angemefienheit der 

fation jedes Thiers zu feiner Lebensweife und den Mitteln, ſich feine 
Erifteng zu erhalten, fo entfteht zunächſt die Frage, ob die Lebens⸗ 
nach der Organifation, oder diefe nach jener gerichtet habe. 
erften Blick ſcheint jenes das Richtigere, da der Zeit nad) 
die Drganifation der Lebehsweife vorhergeht, und man meint, das 
Thier habe die Lebensweiſe ergriffen, zu der fein Ban ſich am beften 
eignete, und habe feine vorgefundenen Organe beftens benußt, ber 
Vogel fliege, weil er Flügel hat, der Stier ftoße, weil er Hörner, 
hatz micht umgefehrt. Allein, fährt Schopenhauer fort, dann bleibt 


unerflärt, wie die ganz verfciedenen Theile feines Organismus « 


fänmtlich feiner Lebensweife genau entfpredhen, fein Organ das 
andere ftört, vielmehr jedes das andere unterftüßt, auch Feines unbe⸗ 
nugt bleibt und Fein untergeordnetes Organ zu einer andern Lebens» 
weife beffer taugen würde, während allein die Hauptorgane die 
Rebensweife beftimmt hätten, bie das Thier wirklich führt; vielmehr 
jeder Theil des Thieres fowol jedem andern, als feiner Lebensweiſe 
auf das genauefte entfpricht, 3. B. die Mlauen jedes mal gefchidt find, 
den Raub zu ergreifen, den die Zähne zu zerfleiſchen und zu zer⸗ 
brechen taugen und den der Darmfanal zu verbauen vermag, und 
die Bewegungsglieder-gefchicht find, dahin zu tragen, wo jener Raub 
fih aufhält, und fein Organ je unbenupt bleibt. So z. B. hat der 
Ameifenbär nicht nur an den Vorderfüßen lange Klauen, um die 
Termitennefter aufjureißen, fondern auch zum Eindringen in diefelben 
eine fange cylinderförmige Schnauze, mit feinem Maul und eine 
fange, fadenförmige mit Mebrigem Schleim bevedte Zunge, die er 
tief in die Termitennefter hineinſteckt und fie darauf mit jenen Ins 


*) „Ueber ben Willen in ber Natur‘, ©. 43. 


272 


feften beflebt zurückzieht; hingegen hat er Feine Zähne, weil er Feine 
braucht. Der Hals der Bögel, wie der Duadrupeben, ift in ber 
Regel fo lang wie ihre Beine, damit fie ihr Futter von ber Erbe 
erreichen Fönnen, aber bei Schwimmvoͤgeln oft viel länger, weil dieſe 
ſchwimmend ihre Nahrung unter der Waflerfläche hervorholen. Sumpf: 
vögel haben unmäßig hohe Beine, um waten zu Fönnen, ohne zu 
ertrinfen oder naß zu werden, und bemgemäß Hals und Schnabel 
fehr lang, lestern ſtark oder ſchwach, je nachdem er Reptilien, Fiſche 
oder Gewürme zu zermalmen hat, und dem entiprechen auch ſtets die 
Eingeweide, u. f. w.*) 

Aus diefer Angemeffenheit des Baues jedes Thieres zu feiner 
Lebensweiſe ſchließt Schopenhauer, „aß Die Lebensweife, die das 
Thier, um feinen Unterhalt zu finden, führen wollte, es war, die 
feinen Bau beftimmte; nicht anders als wie ein Jäger, ehe er aus⸗ 
geht, fein gefummtes Rüftzeug, Flinte, Schrot, Pulver, Jagdtaſche, 
Hirſchfänger und Kleidung, gemäß dem Wilde wählt, welches er 
erlegen will: er fchießt nicht auf die wilde Sau, weil er eine 
Büchfe trägt, fondern er nahm die Büchſe und nicht die Vogel⸗ 
flinte, weil er auf die wilde Sau ausging: und der Stier ftößt 
nicht, weil er Hörner bat, fondern weil er ftoßen will, hat er 
Hörner *).“ 

Diefe Stelle zeigt klar und deutlich, daß Schopenhauer die Er- 
fheinung für den realen entfprechenden Ausdruck, für die objective 
leibhaftige Offenbarung des in ihr Erfcheinenven, oder des Wefens, 
d. i. ded Willens, Hält. Andererfeits aber wieder nimmt er das 
Wort Erſcheinung im Kantfchen Sinne, indem er am Anfang befiel- 
ben Gapiteld: „Vergleichende Anatomie”, aus welchem ich jene Stelle 
ausgehoben habe, fagt: „Daß ber organifche Leib nichts Anderes fei, 
als der in die Vorftellung getretene Wille, der in der Erfennts 
nipform des Raumes angefchaute Wille, ſelbſt“. Ich Fann es 
mir daher nicht verhehlen, daß das Wort Erfcheinung bei Schopen- 
bauer, durch die Kombination der Platonifchen Ideenlehre mit dem 
Kant'ſchen Idealismus, einen Doppelfinn befommt. Ein mal ift der 


— — 


) „Ueber den Willen in der Natur”, ©. 45 fg. 
,.0.D. 


273 


Leib venler entfprehender Ausprud der in ihm ich. verwirt⸗ 
lichenden Platoniſchen Idee als der unmittelbaren Objectivation des 

regnen feiner Erſcheinung, und infofern 
ift der Leib ein objectiver Spiegel des Willens; und doch ift er 
andererfeits wiederum. nur Vorftellung, alfo ein rein fubjectives 
Gehirnphänomen, bedingt durch die aprioriſchen Formen bes Naumes, 
der Zeit und Gaufalität. „As Object wird auch er allein mittel- 
bar erfannt, indem er gleich allen andern Objecten, fih im Ber- 
ftande oder Gehien (welches Eins if), als erfannte Urfache fubjectiv 
gegebener Wirfung und eben dadurch objectiv barftellt, welches 
nur dadurch gefchehen Fann, daß feine Theile auf feine eigenen 
Sinne wirfen, alfo dad Auge den Leib ficht, die Hand ihn betaftet 
uf w,, als auf welche Data das Gehirn oder der Verftand, auch 
ihn, gleich andern —— ſeiner Geſtalt und Beſchaffenheit nach, 
raumuch conſtruirt *).” 

Indeſſen glaube ich Boch, daß diefer Doppelfinn der Erſchei⸗ 
nung bei Schopenhauer, wonad) fie einerfeits, gemäß der Platoniſchen 
Lehre, objectiver Spiegel des in ihr Erſcheinenden, und anbererfeits, 


gemäß der Kantfchen Lehre, fubjective Vorftellung oder Gehirnphä- 


nomen ift, alfo eine reale und ideale Seite hat, feinen Wider 
ſpruch involvirt. Denn da der Intellect, in deffen Formen nad) 
Schopenhauer das Ding an fi, der Wille, erſcheint, felbft nur 


ein Erzeugniß eben diefes Willens ift, der in ihm erfceint, fo Fann " 


er nicht, wie ein Berirfpiegel, täufchen **), fondern durch feine 
Formen, Raum, Zeit und Caufalität hindurch muß doc) irgend» 
wie das Wefen an ſich der Dinge zu erfennen fein. Erſcheknung 
iſt alfo nicht mit Schein zu verwechjeln, Die Erfceinung, obwol 
durch die Formen des Intellects bedingt, offenbart dod nach Scho— 
penhauer durch fie hindurch das Erſchein ende, d. i. das Wefen, 
den Willen, Denn der Wille feloft ift es ja, der mittel des von 

*) „Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureicenden Grunde“, 
2. Anfl,, 8.22. 

”*) Ic erinnere Sie an die Stelle („‚Bom Willen in der Natur“, ©. 75), 
wo Schopenhauer an ber Kant ſchen „Rritif der teinen Vernunft” es tabelt, daß 
es mad) ihr fcheint, „als habe die Natur ben Intelleet abfichtlich zu einem Verirs 
fiegel beftimmt und fpiele Verſtec mit ung.” Vergl. damit „Barerga und Pa 
ralipomena”, II, 141. 

18 i 


v 


274 
ihm geſchaffenen Intellects ſich ſeiner ſelbft bewußt wird. „Wie 
die Welt trotz der Sonne ſinſter bliebe, wenn keine Körper da waͤren, 
das Licht derſelben zuruͤckzuwerfen, oder wie die Vibration der Saite 
der Luft und ſelbſt irgend eines Reſonanzbodens bedarf, um zum 
Klange zu werden, ſo wird der Wille erſt durch den Zutritt der 
Erkenntniß ſich ſeiner ſelbſt bewußt: die Erkenntniß iſt gleichſam der 
Reſonanzboden des Willens und der dadurch entſtehende Ton das 
Bewußtſein *).“ 

Sie ſehen alſo, daß nach Schopenhauer die Erſcheinung, 
obwol ſubjectiv (durch die Formen des Intellects) bedingt, doch 
auch eine objective, reale Bedeutung hat, da das Weſen an ſich 
der Dinge, der Wille ſelbſt es iſt, der in jenen Formen ſichtbar wird, 
oder in ihnen dem Intellect erſcheint. Demnach würde zwar mit Platon 
feſtzuhalten ſein, daß die Einzeldinge nicht das wahrhaft Seiende, 
d. h. nicht das Unveraͤnderliche und Ewige find; aber daraus würde 
nicht folgen, daß fie, im einfeitig idealiſtiſchen Sinne, einem bloßen 
fubjettiven, trügerifchen Stein, der nichts Wefenhaftes in fi) hat, 
gleichen. 

Nach diefer Digreffion, zu der Sie mid) durch das von Ihnen 
aufgeworfene Bedenfen veranlapt haben, Fehre ich nun zu dem. Haupt- 
thema dieſes meined Briefes, der Darftelung der Schopenhauer’fchen 
Ethik, zurüd.- Auch in Ddiefer werden Sie es beftätigt finden, daß 
nach Schopenhauer die Erjcheinung dem in ihr Erfcheinenvden ents 
ſpricht. Denn die ſchlechte Befchaffenheit der Welt entipringt nach 
Schopenhauer eben daher, daß der Wille, der in ihr erfcheint,“ ein 
ichlechter if. „Der Befchaffenheit des Willens muß feine Erfcheis 
nung genau entfprechen **).“ 

Um die Schopenhauerfhe Ethif ganz und ex fundamento vers 
ftehen zu Eönnen, haben Sie vornehmlich drei Grundeigenſchaften des 
Willens als des. Dinges an fih ins Auge zu fafen, erftens bie 
Ipentität des Willens in allen feinen Erfcheinungen, zweitens 
feine Ewigfeit ober Ungerftörbarfeit, und drittens feine Freiheit. 
Die Verfennung der Identität des Willens in allen feinen Durch 





*) „Vom Willen in der Natur“, S. 60. 
**) „Die Welt ale Wille und Vorſtellung“, II, 538. 


275 


die Indlviduation getrennten Erfheinungen ift die Duelle’ des Egois- 
mus und der Vosheit, fo wie dagegen die intuitive Exfenntniß jener 
Ipentität die Duelle der Gerechtigkeit und des Wohlwollens oder 
der Liebe. Zugleich ergibt ſich aus der urfprünglichen Identität des 
Willens in allen feinen Erſcheinungen die ewige Gerechtigkeit, der 
zufolge der Lohn des Guten und die Strafe des Böſen nicht in 
einem zufünftigen Himmel und einer zukünftigen Hölle zu — 
ſondern als ewig gegenwärtige zu betrachten ſind. — 
Ewigkeit oder Ungerftörbarfeit des Willens bringt es mit Pr 
daß derfelbe, fo lange er fich bejaht, die Folgen eben dieſer Bes 
jahung zu tragen hat, alfo auch durch den Tod der Individuen 
nicht erlöft werden kann, fondern lediglich durch freiwillige Selbſt⸗ 
aufgebung, oder wie es die chriſtliche Religion ausdrückt, durch 
Wiedergeburt. — Endlich die Freiheit des Willens ift es, 
welche feine Berneinung oder Selbftaufhebung möglich macht, Wäre 
der Wille an ſich nicht frei, fo fönnte freitich die Welt von Sünde 
and Elend, wie fie aus der beharrlichen Bejahung des Willens zum 
Leben ſtets aufs neue hervorgehen, nie erlöft werden. Aber bie 

thatſächlich, in den Heiligen aller Zeiten, zur Erſcheinung gekom— 
mene Berneinung des Willens zum Leben oder freiwillige Selbft- 
aufhebung beweift, daß feine Erlöfung moͤglich ift. Wenn erft der 
Wille die in den Heiligen nur vereinzelt, ſporadiſch vorgefommene 
Abwendung vom Leben im Ganzen und Großen vollziehen wird, 
dann wird eben damit auch die ganze gegenwärtige Welt, die eben 
nie ‚der Ausdruck der Bejahung des Willens zum Leben ift, wege 
fallen und eine andere Ordnung der Dinge, bie, wir freilich noch 
nicht poſitiv beftimmen Fönnen, an deren Stelle treten. _ 

Dieſe Grundgedanfen der Schopenhauer ſchen Ethik nun werde ich 
Ihnen in meinem folgenden Briefe näher entwickeln und bin ſehr ber 
gierig, was Sie alsdann darauf erwidern werben. Denn, wie id) 
Ihnen ſchon gefagt Habe, gerade die Eihif Schopenhaner's ift es, 
was bisher am meiften Anftoß erregt hat. Profeſſor Fichte ſchreibt 
diefelbe geradezu einer „def complicirten ethiſchen Verbildung“ zu*); 


*) „Beitfehrift für Philoſophle und philoſophiſche Reitit”, Neue Folge, Vd. 21, 
ft2. “ 
18* i 


obwwst ex furz vanım? Th mo gemichige ent. eimzugeiluhen: „Bas 


auch trühtelig uud hovochendruch, doch von Tu erergiſcher um emi- 
kunfidienner Wirfung, dus man eime gewiite Achtung ühe wide ver⸗ 
iagen Bun ®). 

Zur ihre „emfiunlühenne‘ Wirkung kilter vie Schopenhaner⸗ 
ſche Erf ein heitiumed Gegengewicht gegen den durch Fererbach 
wieder ernenerten materialimiſchen Cnbimemidmud unterer Jeit. Der 
Miterislisurus mug nacũrlich im der Erhif zur Emancipatien des 
Aeijches führen. Ene Philejophie, ver nur das Sinnlide das 
wahrhait Wirfliche it, Tie da ray: „Wuhrheir, Wirklichkeit un Simn- 
ichteit np identijch Rur em Aumliches Wein ik ein wahres, 
ein wirflihes Bern, um te Simlichkeit Wahrheit ur Wirk 
lichkeit —“ ») eime ſelche Phileſerhie faun canfequeutermeile anch 
nur den Zinuengenus als höchſtes ethiſches Ideal aufichen Wenn 
We vabei teuned ver ver debauche wurut und eine gewiſſe Ber- 
nänftigleit im Genup empichlt, je geihicht dies mur ums finger 
envämenikiicher Berechnung, tie du einficht, Tas Maßhalten im 
Genuß nothwendig ik, wenn der Menſch ſich nicht bald um feine 
Genußfaͤhigkeit bringen und alsdann un noch als cin blafrter 
Schatten, glei einem Todten unter den Lebendigen berummanbeln 
wii. Dieſe Ethik bleibt aljo immer, tro& ihrer Bernünftigfeit und 
Maͤßigkeit, doch weientlih nur eine jeine Kunſt zu genießen, oder 
die Kunfl, fein zu genießen. Dagegen muß, eben jo conjeguent, der 
Platoniſch⸗Kant'ſche Idealismns, wie ihn Echopenhaner ausgebildet 
hat, der dad Einnlidye, Einzelne, Biele, d. i. das der Raͤumlichkeit, 
Zeitlichkeit und Cauſalitaͤt Unterworfene feineswegs für das wahrhaft 
Seiende (övrug 59) oder für das Ding an fich, jondern nur für flüch⸗ 
tige, vergängliche Erjcheinung hält, — in der Ethik zur „Entſinnlichung“ 
führen. Sie fehen alfo hieran, wie eng die Ethik mit der Meta- 
phyſil zufammenhängt. 





— —— —— 
* 


*) Daſelbſt 22. Bo., 1. Heft. 
**) Ludw. Feuerbach's „Grundſaͤtze der Philoſophie der Zukunft“, $. 32. 





278 
Leben, Welt da fein. Dem Willen zum Leben ift alſo dad Leben 
gewiß, und fo lange wir von Lebenswillen erfüllt find, dürfen wir 
für unfer Dafein nicht beforgt fein, auch nicht beim Anblid des 
Todes. Wol fehen wir dad Individuum entftehen und vergehen: 
aber das Individuum ift nur Erfcheinung, der Wille hingegen, als 
Ding an fih in allen Erfcheinungen, wird von Geburt und Tod 
nicht berührt. Für ihn gibt es Feine Vergangenheit, noch Zukunft, 
fondern nur ewige Gegenwart. Dem Willen ift das Leben, dem 
Leben die Gegenwart gewiß. Wir koͤnnen Die Zeit einem, endlos 
drehenden Kreife vergleichen, die ſtets finfende Hälfte wäre die Ver⸗ 
gangenheit, die ftets fleigende die Zukunft: oben aber der untbeil 
bare Punkt, der die Tangente berührt, wäre die ausdehnungslofe 
Gegenwart: wie Die Tangente nicht mit fortrolit, fo auch nicht 
die Gegenwart. Ober: die Zeit gleicht einem unaufhaltfamen Strom, 
und die Gegenwart einem Belfen, an dem fich jener bricht, aber 
nit ihn mit fortreißt. Wie dem Willen das Leben, feine eigene 
Erſcheinung, gewiß ift, fo ift ed auch die Gegenwart, bie einzige 
Form des wirklichen Lebens. Wir haben demnach nicht nach der 
Vergangenheit vor dem Leben, noch nad der Zufunft nach Dem 
Zode zu forfchen: vielmehr haben wir als die einzige Form, in 
welcher der. Wille fich erfcheint, die Gegenwart zu erkennen, fie 
wird ihm nicht entrinnen, aber er ihr wahrlich auch niht*). Wen 
daher das Leben, wie es ift, befriedigt, wer es auf alle Weile ber. 
jaht, der kann es mit Zuverficht ald endlos betrachten und die To⸗ 
desfurcht als eine Taufchung bannen, welche ihm die ungereimte 
Furcht eingibt, er Tönne der Gegenwart je verluftig. werden, und. 
ihm eine Zeit vorfpiegelt, ohne eine Gegenwart darin. Der Selbfts 
mord iſt daher auch eine vergebliche und thörichte Handlung. Denn, 
obwol die Individuen als Erfcheinungen in der Zeit entftehen und 
vergehen, flüchtigen Träumen vergleichbar, fo ift doch andererſeits 
jedes Individuum nicht duch und durch bloße Erfcheinung, ſon⸗ 


*) Schopenhauer, führt hierzu die Damit übereinftimmende Stelle an: „Scho- 
lastici docuerunt, quod aeternitas non sit temporis sine fine successio, 
sed Nunc stans; i. e. idem nobis Nunc esse, quod erat Nunc Adamo: i. e. 
inter nuno et tunco nullam esse differentiam,‘ (Hobbes Leviathan c. 46.) 


- 


iſt Gegenwart ohne Ende *).“ 

Wille ift nicht blos ewig und unzerftörbar, fon 
dern er iſt auch am ſich frei und allmächtig. Diefe Freiheit, 
dieſe Allmacht des Willens kann fi) nun auf zwiefache, rabical 
entgegengefegte Weife äußern, nämlid) als Bejahung oder als 
Verneinung des Willens zum Lehen, Der Wille bejaht ſich 
ſelbſt, Heißt: indem in feiner Objeetität, d. i. der Welt und dem 
Leben, fein eigenes Wefen ihm als Vorftellung vollftändig und deut 
lich gegeben wird, hemmt diefe Erkenntniß fein Wollen keineswegs; 
fondern eben diefes fo erkannte Leben wird auch als ſolches von 
ihm gewollt, wie bis dahin ohne Erkenntniß, als blinder Drang, 
fo jegt mit Erkenntniß, bewußt und befonnen. — Das Gegentheit 
hiervon, die Berneinung des Willens zum Leben, zeigt ſich, 
wenn auf jene Erkenntniß das Wollen endet, indem ſodann nicht 
mehr die erlannten einzelnen Erſcheinungen als Motive des Wol- 
tens wirken, fondern die ganze, durch Auffaffung der Ideen er 
wachfene Erfenntniß des Wefens der Welt, die den Willen fpiegelt, 
zum Dmietiv des Willens wird, welches alles Wollen beſchwich⸗ 
tigt, und fo der Wille frei ſich ſelbſt aufhebt **). 

Die Bejahung des Willens zum Leben, welde ihr Gen 
trum fm Generationsact hatt), ift beim Thier unausbleiblih, Denn 
‚allererft im Menfchen kommt der Wille, welcher die natura nalurans 





) „Die Welt als Wille und Vorfellung”, 1, 318; 11, 501 fg. ! 
+) „Die Welt als Wille und Vorfellung“, Bd. 1, 8. 51 u. 09; 2, 
. Al. 
—) „Die Welt als Wille und Vorftellung“, I, 321 u. 347. 
+) Schopenhauer nennt die Genitalien den „Brennpunft des Willens zum 


i 


280 

ift, zue Befinnung. Zur Befinnung Fommen heißt: nicht blos 
zur augenblidlihen Nothdurft des individuellen Willens, zu feinem 
Dienft in der dringenden Gegenwart, erfennen, — wie died int 
Thier der Fall ift; fondern eine größere Breite der Erfenntniß er- 
langt haben, vermöge einer deutlichen Erinnerung des Vergangenen, 
ungefähren Anticipation des Zufünftigen und eben dadurdy allfeitigen 
Ueberfiht des individuellen Lebens, des eigenen, des fremden, ja 
des Dafeins überhaupt. — Nachdem alfo der Wille zum Leben, 
d. i. das innere MWefen der Natur, in raftlofem Streben nad) voll- 
fommener Objectivation und vollfommenem Genuß, die ganze Reihe 
ber Thiere Durchlaufen hat, — kommt er zulegt in dem mit Ber- 
nunft auögeftatteten Menfchen, zur Befinnung. Hier nun fängt die 
Sache an ihm bedenklich zu werden, die Frage drängt fih ihm auf, 
woher und wozu das Alles fei und hauptfächlich, ob die Mühe und 
Noth feines Lebens und Strebend wol durch den Gewinn belohnt 
werde? le jeu vaut-il bien la chandelle? — Demnad ift bier der 
Punkt, wo er beim Lichte deutlicher Erfenntniß, ſich zur Bejahung 
oder Berneinung des Willens zum Leben enticheidet *). 

Wie der Wille aber, ald Ding an fih, 1) ewig und unzers 
ftörbar, 2) frei, fich zu bejahen oder zu verneinen, ift, fo ift er 
3) auch das identiſche Wefen in allen Erfcheinungen. Die in 
Raum und Zeit fich ausbreitende Vielheit der Individuen fommt 
alfo nicht dem Willen ald Ding an fi zu, fondern nur feiner Er⸗ 
ſcheinung. Freilich aber ftelt fi der Erkenutniß, fowie fie, dem 
Willen zu feinem Dienft entfproffen, dem Individuo als folchen 
wird, die Welt nicht fo dar, wie fie dem Forſcher zulegt fih aufs 
Härt, als die Objectität des einen und alleinigen Willend zum Les 
ben, der er felbft iftz fondern den Blid des rohen Individuums 
trübt, wie die Inder fagen, der Schleier ver Maja: ihm zeigt fich, 
ftatt des Dinges an ſich, nur die Erfcheinung, in Zeit und Raum, 
dem principio individuationis: und in biefer Form feiner Erfenntniß 
fieht er nicht das Wefen der Dinge, welches Eins ift, fondern deſſen 
Eriheinungen, ald gefondert, getrennt, unzählbar, fehr verſchieden, 


*) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, Br. 2, S. 568 fg.; Br. 2, 
Gap. 45—48. 


der, jener ald Dulder und Opfer, das Böfe als Eines und das 
Uebel als ein Anderes. Er fieht ven Einen in Freuden, Ueberfluß 
und Wollüften leben, und zugleid vor deffen Thüre den Andern 
durd Mangel und Kälte qualvoll ſterben. Dann fragt er: wo 
bleibt die Vergeltung. 

Anders die das Princip der individuellen Sonderung (das prin- * 
eipium individuationis) durchſchauende Erfenntniß. Diefe ſieht ein: 
Dem wahren Wefen der Dinge nad) hat Jeder alle Leiden der Welt 
als die jeinigen, ja alle nur möglichen als für ihn wirklich zu bes 
trachten, fo lange er der fefte Wille zum Leben ift, d. h. mit aller 
Kraft das Leben bejaht. Für die das prineipium individuationis 
durchſchauende Erfenntniß ift ein glückliches Leben in der Zeit, vom 
Zufall gechenkt, oder ihm durch Klugheit abgewonnen, mitten unter 
den Leiden unzähliger Andern, — doc nur der Traum eines Bett- 
lers, in welchem er ein König ift, aber aus dem er erwachen muß, 
um zu erfahren, daß nur eine flüchtige Täufchung ihn von den Leis 
den feines Lebens 

Dem in der individuellen, räumlich, gefonderten Vielheit der 
Erſcheinungen das identiſche Wefen verfennenden Blick entzieht ſich 
bie ewige Gerehtigfeit: er vermißt fie ganz, wenn er nicht etwa 
durch Fictionen fie rettet. Er ficht den Böfen nach Unthaten und 
Graufamfeiten aller Art in Freuden leben und unangefochten aus 
der Welt gehen. Er ficht den Untervrüdten ein Leben voll Leiden 
bis zum Ende fehleppen, ohne daß fih ein Rächer, ein Vergelter 
zeigte. Aber die ewige Gerechtigkeit wird nur Der begreifen und 
faflen, der durch die Erfcheinung, den Schleier der Maja, zum 
Dinge an ſich hindurchdringt, der die Ideen erfennt, das prineipium 
individuationis durchſchaut und inne wird, wie dem Dinge an ſich 
die Formen der Erfheinung nicht zufommen. Diefer iſt es auch 
allein, der, vermöge derfelben Erfenntniß, das wahre Weſen der 
Tugend verftehen kann; wiewol zur Ausübung derſelben diefe Er— 
tenntniß in abstracto feineswegs erfodert wird, Wer alfo bis zu 
der befagten Exfenntniß gelangt ift, dem wird es deutlich, daß, weil 
der Wille das Anfic aller Crſcheinung iſt, die über Andere ver- 


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bängte und die felbfterfahrene Dual, das Boͤſe und das Uebel, im- 
mer nur jenes eine und daſſelbe Weſen treffen; wenngleich die Erfchel- 
nungen, in weldyen das eine und das andere ſich darftellt, als ganz 
verfchiebene Individuen baftehen und fogur durdy ferne Zeiten und 
Räume getrennt find. Er fieht ein, daß die Berichiedenheit zwifchen 
Dem, der das Leiden verhängt, und Dem, weldyer es dulden muß, 
nur Phänomen ift und nicht das Ding an fid) trifft, welches ver 
in beiden lebende Wille ift, der hier, durch die an feinen Dienſt ges 
bundene Erfenntniß getäufcht, fich felbft verfennt, in einer feiner 
Erjcheinungen gefteigertes Wohlfein fuchend, in der andern großes 
Leiden hervorbringt und fo, im heftigen Drange, die Zähne in fein 
eigenes Fleiſch fhlägt, nicht vwoiffend, daß er immer nur fi ſelbſt 
verlegt, bergeftalt, durch dad Medium der Inbividuation, den Wi⸗ 
derftreit mit fich felbft offenbarend, welden er in feinem Innern 
trägt. Der Quaͤler und der Gequälte find Eined. Jener irrt, ins 
dem er fih der Dual, Diefer, indem er fi) der Schuld nicht theil« 
haft ylaubt *). 

Jetzt werben Sie verfiehen, in welchem Sinne Schopenhauer 
fagt: „Die Welt felbft ift das Weltgericht.” Das will eben fagen, 
was der weltichöpferifhe Wille in der einen feiner Erfcheinungen 
verfchuldet, dad hat er in der andern zu dulden, und umgefehrt. 
„Die Erfcheinung, die Objectität des einen Willend zum Leben 
ift die Welt, in aller Vielheit ihrer Theile und Geftalten. Das 
Dafein felbft und die Art des Dafeins, in der Gefammtheit, 
wie in jevem Theil, ift allein aus dem Willen. Er: ift frei, 
er iſt allmächtig. In jedem Dinge erfcheint der Wille gerade 
fo, wie er fih felbft an fih und außer der Zeit beflimmt. Die 
Melt ift nur der Spiegel diefes Wollens: und alle Endlichkeit, alle 
Leiden, alle Qualen, welde fie enthält, gehören zum Ausbrud 
Deflen, was er will, find fo, weil er fo will. Mit dem ftrengften 
Rechte trägt fonach jedes Wefen das Dafein überhaupt, ſodann das 
Dafein feiner Art und feiner eigenthümlichen Individualität, ganz 
wie fie ift und unter Umgebungen wie fle find, in einer Welt fo 
wie fie ift, vom Zufall und vom SIrrthum beherrfcht, zeitlich, ver: 


*) „Die Welt als Wille nnd Borftellung”, Bd. 1, $. 63. 


gänglich, ſtets leidend: und in Allem, was ihm wiberfährt, ja nur 
widerfahren kann, geſchieht ihm immer Recht, Denn fein ift der _ 
Wille: und wie der Wille ift, jo ift die Welt .“ 

As ein mythiſches, eroterifhhes Surrogat biefer efoterifhen 
Lehre betrachtet Schopenhauer die Lehre von der Seelenwan— 
derung und macht überdies **) auf einige Eigenthümlichfeiten der 
menfhlichen Natur aufmerkfam, welche beitragen fönnen zu verdeut⸗ 
lichen, wie einem Jeden das Weſen jener ewigen Gerechtigfeit und 

die Einheit und Iventität des Willens in allen feinen Erſcheinungen, 
. worauf jene beruht, twenigftens als dunkles Gefühl bewußt: ift. Auch 
der Gewiffensangft des Böfewichts liegt diefe gefühlte Iventität 
des Willens in feinen gefonderten Erfheinungen zum Grunde. So 
dicht nämlich, auch den Sinn des Böfen der Schleier der Maja ums 
hüllt, d. h. fo feſt er aud) im prineipio individuationis ‚befangen 
äft, demgemäß er feine Perfon von jeder andern als abfolut ver- 
fhieben und durch eine weite Kluft getreint anfieht, welche Exfennt- 
niß, weil fie feinem Egoismus allein gemäß und die Stüge defiel- 
ben ift, er mit aller Gewalt fefthält, wie denn faft immer die Er- 
fenntniß vom Willen beftodhen ift; fo regt ſich dennoch im Innerften 
feines Bewußtſeins die geheime Ahnung, daß eine folhe Ordnung 
der Dinge doch nur Erſcheinung ift, an fid) aber es ſich ganz an— 
ders verhält: daß, fo fehr auch Zeit und Naum ihn von andern 
Individuen und deren umzählbaren Qualen, die fie leiden, ja durch 
ihn leiden, trennen und fie als ihm ganz fremd darftellen, dennoch) 
an ſich und abgefehen von der Vorftellung und ihren Formen ber 
eine Wille zum Leben es ift, der in ihnen allen erſcheint, der hier, 

ſich felbft verfennend, gegen ſich ſelbſt feine Waffen wendet **), 

Nach diefer bisherigen Darlegung werden Sie nun ſchon er⸗ 
tathen, worin nach Schopenhauer der Grundunterſchied des Guten 
und Böfen befteht! Der Gute zieht zwiſchen ſich und den Andern 
feine Scheivewand, erfennt die Iventität des Wefens in ſich und 
den Andern, fühlt demnach ihre Freuden als die feinigen, trägt ihre 
Leiden als bie feinigen. Der Böfe hingegen, durch feinen Egoismus 

a. a. O., 8.3675. 

a. a. O., 8. 64. 
— a. a. D., 9.65. 





28% 


geblendet und in der falfchen, die Individuation nicht durchſchauen⸗ 
den Erfenniniß befangen, macht einen möglichft großen Unterfchieb 
zwifchen fih und allen Andern, fich allein für real baltend, Die 
Realität der Andern Hingegen praftifch verneinend und verleugnend. 
Wenn, fagt Schopenhauer, ein Menſch, fobald Veranlafſung 
dazu da iſt und ihn Feine äußere Macht abhält, ſtets geneigt if, 
Unrecht zu thun, nennen wir ihn böfe. Nach unferer Erflärung 
des Unrechts heißt diefes, daß ein folher nicht allein den Willen 
zum Leben, wie er in feinem Leibe erfcheint, bejaht, ſondern in Dies 
fer Bejahung fo weit geht, daß er den in andern Individuen ers 
feheinenden Willen verneint, was ſich darin zeigt, daß er ihre Kräfte 
zum Dienfte feines Willens verlangt und ihr Dafein zu vertilgen 
ſucht, wenn fie ‚ven Beftrebungen feines Willens entgegenftehen. Die 
letzte Duelle hiervon ift ein hoher Grad von Egoismus, der fich in 
zweierlei Fundgibt: erftlich darin, daß in einem folchen Menfchen 
ein überaus heftiger, weit über die Bejahung feines eigenen Leibes 
hinausgehender Wille zum Leben fich ausfpricht; und zweitens 
barin, daß feine Erfenntniß, ganz im principio individuationis bes 
fangen, bei dem durch dieſes letztere geſetzten Unterfchieve zwifchen 
feiner eigenen ‘Berfon und allen Andern feft ftehen bleibt, daher er 
allein fein eigenes Wohlfein fucht, vollfommen gleichgültig gegen 
das aller Andern, deren Wefen ihm vielmehr völlig fremd ift, durd) 
eine weite Kluft von dem feinigen gefchieven, ja die er eigentlich 
nur wie Larven ohne alle Realität anfieht. — Und diefe zwei Ei: 
genfchaften find die Grundelemente des böfen Charakters *). 
Dagegen geht aus der Durchfchauung des principii individua- 
lionis, d. 5. aus der intuitiven Erfenntniß der wefentliden Iden⸗ 
tität feiner felbft mit den Andern, im geringern Grade die Gerech— 
tigfeit, im böhern die eigentliche Güte der Geſinnung hervor, welche 
fih ale reine, d. 5. uneigennüßige Liebe gegen Andere zeigt. 
Die Gerechtigfeit ift als Zwilchenftufe zwiſchen dem Böfen 
und der eigentlichen Güte zu betrachten. Der Gerechte wirb nicht, 
um fein eigened Wohljein zu vermehren, Leiden über Andere ver: 
hängen: d. h. er wird Fein Berbrechen begehen, wird die Rechte, 


NR a. a. O., $. 6. 


285 


wird das Eigenthum eines Jeden refpectiren. Einem Solchen ift 
alfo ſchon nicht mehr, wie dem Böfen, die Individuation eine ab⸗ 
folute Scheidewand, fondern durch feine Handlungsweiſe zeigt er, 
daß er fein eigenes Wefen, nämlich den Willen zum Leben als Ding 
an fih, auch in der fremden, ihm blos als Borftellung gegebenen 
Erfcheinung wie dererkennt, alfo ſich felbft in jener wiederfindet, 
bis auf einen gewiflen Grad, naͤmlich den des Nicht-Unrechtthung, 
d. h. des Nichtverlegens. 

In höherm Grade hat die Durchſchauung des principii indivi- 
duationis ftatt im Guten, den fie zum pofitiven Wohlwollen und 
Wohlthun, zur Menfchenliebe treibt. Der Gute iR feineswegs für 
eine urfprünglich ſchwaͤchere Willenserfcheinung zu halten, als ber 
Böſe, denn die fchwächlihe Gutmüthigfeit ift Feiner beträchtlichen 
Selbftüberwindung fähig; fjondern es ift die Erfenntnig, welche in 
ihm den blinden Willensdrang bemeiftert®). (Hierbei haben Sie 
aber wohl zu beachten, daß Schopenhauer, wenn er die Güte aus 
ber Erkenntniß ableitet, darunter nicht die abftracte, begrifflihe Er- 
fenntniß verfteht, die ſich durch Worte mittheilen läßt. Vielmehr, 
fagt er, kann man fo wenig durch ethiſche Vorträge oder Predigten 
einen Tugendhaften zu Stande bringen, als alle Afthetifen, von 
der des Ariftoteles an, je einen Dichter gemacht haben. Velle non 
discitur. Auf die Tugend, d. b. auf die Güte der Oefinnung, find 
die abſtracten Dogmen in der That ohne Einfluß: die falfchen ftören 
fie nicht und die wahren befördern fie ſchwerlich. Die Erfenniniß, 
von der die echte Güte der Gefinnung, die uneigennügige Tugent 
und der reine Edelmuth ausgehen, ift feine abſtracte, ſondern um: 
mittelbare und intuitive, die nit wegzuraiſonniren uns nicht an 
zuratfonniren ift, die eben, weil fie nit abſtract it, Rh auch nicht 
mitteilen läßt, fondern Jedem feld aufgehen mus, nie nıker ihrem 
eigentlihen und adäquaten Auſsdruck nit im Worten Anyer, inınom 
ganz allein in Thaten, in Hanviungen, im Lehenblau! gea Min- 
fhen.) Wenn uns nun ein Menſch vorkommt, ner srmr rin he. 
trächtliches Einkommen befigt, von dieſen aber mr menig Fer Ag 
benupt und alles Uebrige den Nothleidechen ger, mätrenn #7 Wih 


.) „Die Belt als Wille und Vorftellung/, Bp, 1, 9. 66. 


x» 


28% 

geblendet und in der falſchen, die Individuation nicht durchſchauen⸗ 
den Erfenntniß befangen, macht einen möglichft großen Linterfchieb 
zwifchen ſich und allen Andern, fich allein für real haltend, Die 
Realität der Andern hingegen praftifch verneinend und verleugnen. 

Wenn, fagt Schopenhauer, ein Menſch, fobald Veranlaffung 
dazu da iſt und ihn Feine äußere Macht abhält, ſtets geneigt iſt, 
Unrecht zu thun, nennen wir ihn böfe. Nah unferer Erklärung 
des Unrechts heißt Diefes, daß ein folcher nicht allein den Willen 
zum Leben, wie er in feinem Leibe erfcheint, bejaht, fondern in die⸗ 
fer Bejahung fo weit geht, daß er den in andern Individuen ers 
fheinenden Willen verneint, was fi) darin zeigt, daß er ihre Kräfte 
zum Dienfte feines Willens verlangt und ihr Dafein zu vertilgen 
ſucht, wenn fie den Beftrebungen feines Willens entgegenftehen. Die 
legte Duelle hiervon ift ein hoher Grad von Egoismus, der fich in 
zweierlei kundgibt: erftlich darin, daß in einem folchen Menfchen 
ein überaus heftiger, weit über die Bejahung feines eigenen Leibes 
hinausgehender Wille zum Leben fi ausſpricht; und zweitens 
darin, daß feine Erfenntniß, ganz im principio individuationis bes 
fangen, bei dem durch dieſes letztere gefegten Unterfchieve zwifchen 
feiner eigenen Berfon und allen Andern feft ftehen bleibt, daher er 
allein fein eigenes Wohlſein ſucht, vollfommen gleichgültig gegen 
das aller Andern, deren Wefen ihm vielmehr völlig fremd ift, durch 
eine weite Kluft von dem feinigen gefchieden, ja die er eigentlich 
nur wie Larven ohne alle Realität anfieht. — Und dieſe zwei Ei- 
genfchaften find die Grundelemente des böfen Charakters *). 

Dagegen geht aus der Durchſchauung des principii individua- 


lionis, d. h. aus der intuitiven Erfenntniß der wejentlihen Iden⸗ 


tität feiner felbft mit den Andern, im geringern Grade die Gerech— 
tigkeit, im höhern die eigentliche Güte der Gefinnung hervor, welde 
fi als reine, d. h. uneigennügige Liebe gegen Andere zeigt. | 
Die Gerechtigkeit ift als Zwifchenftufe zwifchen dem Böfen 
und der eigentlichen Güte zu betrachten. Der Gerechte wird nicht, 
un fein eigenes Wohlfein zu vermehren, Leiden über Andere ver: 


hängen: d. h. er wird Fein Berbrechen begehen, wird die Rechte, 


) a. a. O., $. 68. 


285 


wird das Eigenthum eines Jeden refpectiren. Einem Solchen ift 
alfo ſchon nicht mehr, wie dem Böfen, die Individuation eine ab- 
folnte Scheidewand, fondern durch feine Handfungsweife zeigt ex, 
daß er fein eigenes Wefen, nämlid; den Willen zum Leben als Ding 
an fi), auch in der fremden, ihm blos als BVorftellung gegebenen 
Erſcheinung wiedererfennt, alſo fich ſelbſt in jener wiederfindet, 
bis auf einen gewiſſen Grad, nämlich den des Nicht-Unrechtthuns, 
d. h. des Nichtverlegens. = 

In höherm Grade hat die Durchſchauung des principii indivi- 
duationis ftatt im Guten, den fie zum ‚pofitiven Wohlwollen und 
Wohlthun, zur Menfchenliebe treibt. Der Gute ift feineswegs für 
eine urfprünglich ſchwaäͤchere Willenserfheinung zu halten, als der 
Böfe, denn die ſchwachliche Gutmüthigfeit ift feiner beträchtlichen 
Selbftüberwindung fähig; fondern es ift die Erkenntniß, welche in 
ihm den blinden Willensprang bemeiftert*). (Hierbei haben Sie 
aber wohl zu beachten, daß Schopenhauer, wenn er die Güte aus 
der Erfenntniß abfeitet, darunter nicht die abftracte, begrifflihe Er- 
fenntniß verfteht, die ſich durch Worte mittheilen läßt, Vielmehr, 
fagt er, fann man fo wenig durch ethifche Vorträge oder Predigten 
einen ZTugendhaften zu Stande bringen, als alle Afthetifen, von 
der des Ariftoteles am, je einen Dichter gemacht haben. Velle non 
diseitar, Auf die Tugend, d. h. auf die Güte der Gefinnung, find 
die abftracten Dogmen in der That ohne Einfluß: die falſchen ftören 
fie nicht und die wahren befördern fie ſchwerlich. Die Erfenntniß, 
von der die echte Güte ber Gefinnung, die uneigennügige Tugend 
und der reine Edelmuth ausgehen, tft feine abftracte, fondern uns 
mittelbare und intuitive, die nicht wegzuraifonniren und nicht anz 
zuralſonniren iſt, die eben, weil fie nicht abſtract ift, ſich auch nicht 
mittheilen läßt, fondern Jedem felbft aufgehen muß, die daher ihren 
eigentlichen und adäquaten Ausdrud nicht in Worten findet, fondern 
ganz allein in Thaten, in Handlungen, im Lebenslauf des Men- 
fhen) Wenn uns nun ein Menſch vorkommt, der etwa ein bes 
trächtliches Einkommen befigt, von diefem aber nur wenig für fi 
benugt und alles Webrige den Nothleivenden gibt, während er felbft 


) „Die Welt als Wille und Borftellung“, ®d, 1, $. 66. 


286 


viele Genüffe und Annehmlichkeiten entbehrt, und wir das Thun 
dieſes Menfchen uns zu verveutlichen fuchen, fo werben wir, ganz 
abfehend von den Dogmen, durch welche er etwa felbft fein Thun 
feiner Vernunft begreiflich machen will, als den einfachſten, allges 
meinen Ausdruck und als den wefentlihen Charafter feiner Hand⸗ 
lungsweife finden, daß er weniger, als fonft geſchieht, einen 
Unterfhied macht zwifhen Sich und Andern*). 

Sowie der Böfe dur die Gewiffensangft .die Identität des 
Willens in feinen gefonderten Erfcheinungen beftätigte, fo der Gute 
durch das Gegentheil jener, durch das gute Gewiffen, durch bie 
Befriedigung, welche er nad) jeder uneigennügigen That verfpürt. 
Diefe entfpringt daraus, daß ſolche That, wie fie hervorging aus 
dem unmittelbaren Wiedererfennen unferd eigenen Weſens an ſich 
auch in der fremden Erfcheinung, und auch wiederum die Beglau- 
bigung dieſer Erfenntniß gibt, der Erfenntniß, daß unfer wahres 
Selbſt nicht blos in der eigenen Perfon, diefer einzelnen Erfcheinung, 
ba ift, fondern in Allem was lebt. Dadurch fühlt fih das Herz 
erweitert, wie durch den Egoismus zufammengezogen *®). 

Die nähere Ausführung diefer Grundgedanken finden Sie, außer 
am angeführten Orte in dem vierten Buche der Schrift: „Die Welt 
als Wille und Vorſtellung“, Hauptfächlih noch in der Preisfchrift 
„über das Fundament der Moral‘, welche die königlich dänifche So⸗ 
cietät der Wiffenfchaften zu Kopenhagen nicht gekrönt hat. Dort 
weift Schopenhauer das Mitleid als die alleinige, allen Handlun- 
gen von echtem moralichen Werth zu runde liegende Triebfever 
nah. „Das Mitleid ganz allein ift die wirkliche Baſis aller freien 
Gerechtigkeit und aller echten Menfchenliebe ***).” Diefe Aufftel- 
lung des Mitleids als Bundament der Ethif hat der dänifchen 
Akademie nicht genügt, denn fie fagt in ihrem Judicium: „Quod 
autem scriptor in sympathia fundamentum ethicae constituere co- 
natus est, neque ipsa disserendi forma nobis satisfecit, neque 
reapse, hoc fundamentum sufficere, evicit.” Auch in fonftigen 


*) „Die Welt als Wille und Borftellung‘‘, Br. 1, $. 66. 
N a. a. O. 
**) „Die beiden Grundprobleme der Ethik“, S. 212. 


näher und fehärfer in Augenfchein genommen, aus denen er es 
tut, fo hätte wan ſich dadurch weniger befremdet gefühlt und es 
weniger parabor gefunden. Die Beweife, die Schopenhauer für 
feine Behauptung gibt, find folgende: 

Das Wohl und Wehe, weldes jeder Handlung oder Unter 
laſſung als legter Zwer zum Grunde liegen muß, iſt entweder das 
des Handelnden felbft, oder das irgend eines Andern, bei der Hands 
Tung paſſiv Betheiligten. Im erften Falle ift die Handlung nothe 
wendig egotfifch, weil ihr ein intereffirtes Motiv zum Grunde 
liegt, folglih ohne moralifchen Werth. Liegt dagegen der letzte 
Beweggrund zu einer Handlung oder Unterlaffung geradezu und 
ausfchließlich im Wohl und Wehe irgend eines dabei paffive ber 
theiligten Andern, hat alfo der active Theil bei feinem Handeln 
oder Unterlaffen ganz allein das Wohl und Wehe eines Andern 
im Auge und bezwedt durchaus nichts, als daß jener Andere uns 
verlegt bleibe, oder gar Hülfe, Beiftand und Erleichterung erhalte, 
fo brüdt dieſer Zweck allein einer Handlung oder Unterlaffung den 
Stempel des moralifhen Werthes auf; welder demnach aus- 
ſchließlich darauf beruht, daß die Handlung blos zum Nup und 
Frommen eines Andern gefchehe oder unterbleibe. Sobald näm« 
lich dies nicht der Fall ift, jo Fann das Wohl und Wehe, welches 
zu jeder Handlung treibt, oder von ihr abhält, nur das des Han- 
delnden ſelbſt fein: dann aber ift die Handlung oder Unterlafjung 
allemal egoiftifch, mithin ohne moralifhen Werth. 

Wenn nun aber meine Handlung ganz allein des Andern 
wegen gefchehen fol, fo muß fein Wohl und Wehe unmittel- 
bar mein Motiv fein: fowie bei allen andern Handlungen das 
meinige es ift. Das bringt unfer Problem auf einen engern Aus⸗ 
ru, nämlich diefen: wie ift «8 irgend möglich, daß das Wohl 
und Wehe eines Andern, unmittelbar, d. h. ganz fo wie font 
nur mein eigenes, meinen Willen bewege, alfo direct mein Motiv 
werbe und fogar es bisweilen in dem Grabe werde, daß ich dem⸗ 
felben mein eigenes Wohl und Wehe, diefe fonft alleinige Duelle 


288 


meiner Motive, mehr oder weniger nachſetze? — Offenbar nur da⸗ 
dur, daß jener Andere der lebte Zweck meines Willens wird, 
ganz fo wie fonft ich felbft es bin: alfo dadurch, daß ich ganz un- 
mittelbar fein Wohl will und fein Wehe nicht will, fo unmittel- 
bar, wie fonft nur das meinige. Dies aber ſetzt nothwendig 
voraus, daß ich bei feinem Wehe als ſolchem geradezu mit leide, 
fein Wehe fühle, wie fonft nur meines, und deshalb fein Wohl 
unmittelbar will, wie fonft nur meined. Dies erfodert aber, daß 
ich auf irgend eine Weife mit ihm identificirt fei, d. h. jener 
gänzliche Unterſchied zwifchen mir und jedem Andern, auf welchem 
gerade mein Egoismus beruht, wenigftend in einem gewiffen Grabe 
aufgehoben fei. Da ich nun aber doch nicht in Der Haut des 

Andern flede, fo kann allein vermittelft der Erfenntniß, Die ich 
von ihm habe, ich mich fo weit mit ihm ibentificiren, daß meine 
That jenen Unterſchied ald aufgehoben anfündigt. Dies ift nun der 
"Fall im Mitleid, Diefer ganz unmittelbaren, von allen anderwei⸗ 
tigen Rüdfichten unabhängigen Theilnahme zunächſt am Leiden 
eined Andern und dadurch an der Berhinderung oder Aufhebung 
dieſes Leidens, ald worin zulegt alle Befriedigung und alles Wohl⸗ 
fein und Glück befteht *). 

Das Mitleid ift jener „erftaunungswürdige, ja myſterioͤſe“ 
Borgang, in welchem wir „die Scheidewand, welche nad) dem Licht 
der Natur (wie alle Theologen die Vernunft nennen) Wefen von 
Weſen durchaus trennt, aufgehoben und das Nicht-Ich gewiffermaßen 
zum Ich geworden fehen”. 

Nachdem ich Ihnen nun vorher gezeigt hatte, daß Schopenhauer 
in die Durchfchauung des principii individuationis, alfo in die un⸗ 
mittelbare und intuitive Erfenntniß der wefentlichen Spentität des 
Willens in allen feinen getrennten Erfcheinungen, die Quelle der 
moralifchen Güte gefegt, wird es Sie jegt nicht mehr befremden, daß 
er das Mitleid für die allein echte moralifche Triebfeder erflärt. 
Er thut dies eben, weil er im Mitleid und allen daraus entjprin« 
genden Handlungen eben jene Durchfchauung des principiü indivi- 
duationis wieberfinbet. 


) a. a. O., S. 210— 212. 





290 
diefem bringt. Sogar Spinoga fagt: benevolentia nihil aliud est, 
quam cupiditas ex commiseratione orta (Eth. III, pr. 27, cor. 3, 
schol.) und im Jtalienifchen werden Mitleid und reine Liebe durch 
daffelbe Wort pietä bezeichnet. — Der Glüdlihe, Zufriedene als 
ſolcher läßt und gleichgültig: eigentlich weil fein Zuftand ein nes 
gativer ift: die Abwefenheit des Schmerzes, des Mangeld und der 
Roth. Wir fönnen zwar uber das Glüd, das Wohlfein, den Ges 
nuß Anderer uns freuen: dies iſt dann aber fecrundär und dadurch 
vermittelt, daß vorber ihr Leiden und Entbehren und betrübt hatte; 
oder aber auch wir nehmen Theil an dem Beglüdten und Genießen 
den, nicht als ſolchem, jondern fofern er unfer Kind, Bater, 
Freund, Verwandter, Diener, Unterthban u. dergl. iſt. Aber nicht 
der Beglüdte und Genießende rein als ſolcher erregt unfere un⸗ 
mittelbare Theilnahme, wie e8 der Leidende, Entbehrende, Unglüds 
liche rein als folder thut. Erregt doch fogar auch für une 
felbft eigentlich nur unfer Leiden, wohin auch jever Mangel, Bes 
duͤrfniß, Wunfch, ja die Langeweile zu zählen ift, unfere Thätigfeit; 
während ein Zuſtand der Zufriedenheit und Beglüdung uns unthä⸗ 
tig und in träger Ruhe läßt: wie follte es in Hinfiht auf Andere 
nicht ebenfo fein? da ja unfere Theilnahme auf einer Ipentification 
mit ihnen beruht ®). 

Nach diefer Begründung wird es Ihnen wol nicht mehr fo pas 
rador Flingen, daß Mitleid die allein echte moralifche Triebfeder 
fei, daß aus ihm als der legten Duelle die Tugend der Gerech⸗ 
tigfeit und der Menſchenliebe hervorgehen, die beide in der all⸗ 
gemeinen Maxime: neminem laede; imo omnes, quantum potes, 
juva, ihren Ausdrud finden. Schopenhauer zeigt Died noch näher 
in $. 17 und 18 der Preisfchrift „Ueber das Bundament der Moral“, 
und führt alddann in 8. 19 aus der „Erfahrung und ben Aus: 
fprüchen des allgemeinen Menſchengefühls“ Beftätigungen dafür an, 
bie Sie felbft nachlefen mögen. 

Doch Gerechtigkeit und Menfchenliebe find nad) Schopen- 
haner noch nicht der Gipfel der ethifchen Vollendung. Diefer wird 
vielmehr erft Durch die gänzlihe VBerneinung des Willens zum 


*) „Die Welt ale Wille und Vorſtellung“, I, 424 fg. „Die beiden Grund⸗ 
probleme der Ethik“, S. 214 fg. - 


nicht mehr den egoiftifchen Unterſchied zwiſchen feiner 

der fremden macht, fondern an den Leiden der andern Individuen 
fo viel Antheil nimmt, wie an feinen eigenen, und dadurch nicht 
nur im höchften Grade Hüffreidy iſt, fondern fogar bereit, fein eige- 
nes Individuum zu opfern, fobald fremde dadurch zu retten find: 
dann folgt von felbft, daß ein ſolcher Menſch, der in allen Wefen 
ſich, fein | und wahres Selbſt erfennt, auch die endloſen 
Leiden alles Lebenden als die feinigen betrachten und fo den Schmerz 
der ganzen Welt ſich zueignen muß. Ihm iſt fein Leiden mehr 


fremd, Alle Qualen Anderer, die er fieht und fe ten unbe 
vermag, alle Dualen, von denen ex mittelbar "hat, ja die er 
mur als möglid; erfennt, wirfen auf feinen Geift wie feine eigenen, 
Er erfennt das Ganze, faßt das Wefen defielben auf und findet es 
in einem fieten Vergehen, nichtigem Streben, innerm Widerſtrelt 
und beftänbigem Leiden begriffen, ficht, wohin er auch blickt, die 
leldende Menſchhelt und die leidende Thierheit, und eine Hinfchwins 
dende Welt; Diefes alles aber liegt ihm jeht fo nahe, wie dem 
Egotften nur feine eigene Perfon. Wie follte er nun, bei folder 


befangen iſt, mur eingelne Dinge und ihr Verhältniß zu feiner Per- 
fon erfennt, und jene dann zu immer ermeuerten Motiven feines 


Ganzen, des Wefens der Dinge an fi, zum Quietiv alles und 
jedes Wollens, Der Wille wendet fid) nunmehr vom Leben ab: 
ihm ſchaudert jegt vor defien Genüffen, in denen er die Beſahung 
deſſelben erkennt. Der Menſch gelangt zum Zuftande der freiwilligen 
, der Refignation, der wahren Gelaffenheit und gänplichen 








292 





Bergleichen wir, fagt Schopenhauer in treffendem Gleichniß, 
das Leben mit einer Kreisbahn aus glühenden Kohlen, mit einigen 
fühlen Stellen, weldhe Bahn wir unabläffig zu durchlaufen hätten, 
fo tröftel den im Wahn Befangenen die fühle Stelle, auf der er jeßt 
eben fteht, oder die er nahe vor ſich flieht, und er fährt fort, die 
Bahn zu durchlaufen. Jener aber, der, dad principium individua- 
tionis durchſchauend, das Weſen der Dinge an fidy und dadurch das 
Ganze erkennt, ift ſolchen Troftes nicht mehr empfaͤnglich: er ſieht 
ſich an allen Stellen zugleich und tritt heraus. Sein Wille wendet 
fih, bejaht nicht mehr fein eigenes, ſich in der Erfcheinung fpiegeln- 
des Weſen, fondern verneint ed. Das Phänomen, wodurch dieſes 
fih Fundgibt, ift der Lebergang von der Tugend zur Wffefis, 
Rämlich es genügt ihm nicht mehr, Andere ſich felbft gleich zu lieben 
und für fie fo viel zu thun, als für ſich; fondern es entfteht in ihm 
ein Abſcheu vor dem Weſen, defien Ausdruck feine eigene Erfcheinung - 
ift, dem Willen zum Leben, dem Kern und Weſen jener -ald jam- 
mervol erfannten Welt. Er verleugnet daher eben dieſes in ihm 
erfcheinende und fchon durch feinen Leib ausgebrüdte Weſen, und 
fein Thun ftraft jetzt feine Erfcheinung Lügen, tritt in offenen Wis. 
berfpruch mit derfelben. Weſentlich nichts Anderes, ald Erfcheinung 
des Willens, hört er auf, irgend etwas zu wollen, hütet fih, feinen 
Willen an irgend etwas zu hängen, ſucht die größte Gleichgültigkeit 
gegen alle Dinge in ſich zu befeftigen *). 

Diefen Zuftand bejchreibt Schopenhauer noch näher und weift 
ihn aus dem Leben der Heiligen, der Affeten, Anachoreten und 
Büßer, nicht blos unter den Chriften, fondern auch unter den Hindus 
und andern Glaubensgenoſſen thatfählih nach, wobei Sie aber 
wiederum wohl zu beachten haben, daß er unter der Erkenntniß der 
Heiligen von dem Weſen der Welt, die in ihnen zum Quietiv alles 
Wollens wird und fie zur gänzlichen Verneinung des Willens zum 
Leben führt, nicht Die abftracte, philofophifche, ſondern die intuitive 
verftehbt. Der fchwerfte Schritt in der Affefe oder Verneinung des 
Willens zum Leben ift die freiwillige, vollfommene Keufchheit. Sowie 
in der Gefchlechtöbeftiedigung der Wille zum Leben über das eigene 


) a. a. O. 


293 . 


Indlviduum Hinaus bejaht wird*), fo verneint dagegen die Affefe 
dur Enthaltung von der Geſchlechtsbefriedigung bie über das ins 
dividuelle Leben hinausgehende Bejahung des Willens und gibt da- 
mit die Anzeige, daß mit dem Leben dieſes Leibes auc der Wille, 
deſſen Etſcheinung er ift, ſich aufhebt. „Die Natur, immer wahr 
und naiv, fagt aus, daß, wenn diefe Marime allgemein würde, das 
Menſchengeſchlecht ausftürde: und nad) Dem, was im zweiten Bud) 
über den Zufammenhang aller Willenserſcheinungen gefagt ift, glaube 
ich annehmen zu Fönnen, daß mit der höchſten Willenserfcheinung 

der Wiederſchein derfelben, die Thierheit, wegfallen 


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1; 
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Welt in Nichts; da ohne Subject Fein Object. Ich 
‚hierauf eine Stelle im «Peda» beziehen, wo es heißt: 


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‚und die übrige Natur hat ihre Erlöfung vom 
gu eriwarten, welcher Priefter und Opfer zugleich iſt. So— 
mir die ſchwierige Bibelſtelle Röm. 8, 2124 in diefem 
auszulegen zu fein **)." 

So lange unfer Wille derfelbe ift, kann, nad) Schopenhauer, 
unfere Welt feine andere fein. Zwar wünſchen Alle, fügt er, erlöft 
zu werben aus dem Zuftande des Leidens und des Todes: fie mödh- 
ten, wie man fagt, zur ewigen Seligfeit gelangen, ins Himmelreich 
fommten; aber nur nicht auf eigenen Füßen, fondern hineingetragen 
fie werden, durch den Lauf der Natur. Allein das if un- 
gli. Denn die Natur iſt mur das Abbild, der Schatten unfers 

Willens. Daher wird fie zwar uns nie fallen und zu nichts wer- 
den fafen: aber fie kann uns nirgends hinbringen, als immer nur 
wieder in die Natur. Wie mißlich es jedoch) ift, als ein Theil der 
Natur zu eriftiren, erfährt Jeder an feinem eigenen Leben und 
Sterben**H). Nur die totale Verneinuug des Willens zum Leben, 


Hi 


— 


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*) Bergl, „Die Welt als Wille und Vorftellung“, 1. 370. Dazu Bd. 2, 
Gap. 49—44 als Erläuterung. 

‚als Wille und Vorfellung“, 1, 430, 

und Vorftellung“, 2b. 2, Cap 48. 


— — — — — — — — * 


in deſſen Bejahung die Natur die Duelle ihres Daſeins hat, kann 
nad) Schopenhauer zur wirflihen Erlöfung der Welt führen. Zu 
diefem hohen Ziele bilden die moralifchen Tugenden, Gerechtigkeit 
und Menfchenliebe, nur die Brüde. Sie find zuvörberft ein An⸗ 
zeichen, ein Symptom, daß der erfcheinende Wille nicht mehr ganz 
feft in jenem Wahn des prineipii individuationis befangen ift, ſon⸗ 
dern die Enttäufchung ſchon eintritt; ſodaß man gleichnißweiſe fagen 
fönnte, er fchlage bereits mit den Flügeln, um davon zu fliegen. 
Naͤchſtdem aber find jene moralifhen Tugenden ein Befoͤrderungs⸗ 
mittel der Selbftverleugnung und demnad der Verneinung des Wil 
lens zum Leben. Denn die wahre Rechtfchaffenheit, die unverbrüch⸗ 
liche Gerechtigkeit, diefe erfte und wichtigfte Gardinaltugend,- ift eine 
fo jchwere Aufgabe, daß, wer ſich unbedingt und aus Herzensgrunde 
zu ihr befennt, Opfer zu bringen hat, bie dem Leben bald die Süße, 
weldye das Genügen an ihm erfobert, benehmen und dadurch den 
Willen von demfelben abwenden, aljo zur Nefignation leiten. Noch 
fhneller führt allerdings die weiter gehende Tugend der Menfchen- 
liebe eben dahin. Wer von biefer Tugend befeelt ift, hat fein eige- 
ned Wefen in jedem Andern wiebererfannt. . Dadurch nun identificirt 
er fein eigenes Loos mit dem der Menfchheit überhaupt: diefes nun 
aber ift ein hartes Loos, das des Mühens, Leidens und Sterbens. 
Wer alfo, indem er jedem zufälligen Bortheil entfagt, für ſich Fein 
anderes, ald das Loos der Menfchheit überhaupt will, kann auch 
dieſes nicht lange mehr wollen: die Anhänglichfeit an das Leben 
und feine Genüffe muß jegt bald weichen und einer allgemeinen 
Entfagung Plag machen: mithin wird die Verneinung des Willens 
eintreten *). 

Mit der Verneinung des Willens zum Leben im Menfchen aber 
muß wegen der metaphufifchen Ipentität des Willens auf allen Stufen 
feiner Erfcheinung diefe unfere ganze Erfcheinungswelt wegfallen, als 
welche ja eben nur die Erfcheinung oder der Spiegel der Bejahung des 
Willens zum Leben ift. „Beiahung des Willens zum Leben, Erſchei⸗ 
nungswelt, Diverfität aller Weſen, Individualität, Egoismus, Haß, 
Bosheit entfpringen aus einer Wurzel; und ebenfo andererfeitd Welt 


*) „Die Welt ale Wille und Borftellung‘, II, 602 — 604. 





des Dinges an ſich, Identitt aller Weſen,Gerechtigleit, Menfchenliche, 
Bernelaung dea Willens: um Sehen." *). 

Sie werden freilich fagen: Das flingt myRifg. Aber Mir 
und Mpferien ind es, worin, wie Schopenhauer zeigt, nicht blos 


noch 

reicht.“ *) Der Myftifer, ſagt Schopenhauer, ſteht zum Philoſophen 
nur dadurch im Gegenſatz, daß er von innen anhebt, dieſer aber 
von außen, Der Myſtiker naͤmlich geht aus von feiner innern, por 
fitiven, individuellen Erfahrung, die ihn in fid) das ewige identiſche 
Weſen aller Dinge finden läßt. Aber mittheilbar ift hiervon nichts, 
als eben Behauptungen, die man auf fein Wort zu glauben hatt 
folglid kann er nicht überzeugen. Der Philoſoph hingegen geht aus 
von bem Allen Gemeinfamen, von der objectiven, Allen vorliegenden - 
Erſcheinung, und von den Thatfachen des Selbftbewußtfeins, wie 

- fie ſich in Jedem vorfinden. Seine Methode ift daher Die Reflerion 
über alles Diefes und die Gombination der darin gegebenen Dala: 
deswegen Fann er überzeugen. Diefem nun entfpricht es, fügt Schos 
venhauer, daß meine Lehre, wann auf ihrem Gipfelpunfte angelangt, 
einen negativen Charakter annimmt, älfo mit einer Negation enz 
digt. Sie fann hier nämlich mur von Dem reden, was verneint, 
aufgegeben wird: was dafür aber gewonnen, ergriffen wird, iſt fie 
genöthigt, als Nichts zu bezeichnen und Fann blos den Troft hinzu⸗ 
fügen, daß es mur ein relatives, Fein abfolutes Nichts fe"), — 
‚Hier nun gerade ift es, wo der Myſtiler poſitiv verfährt, und von 
wo an daher nichts als Myſtik übrig bleibt. Soldye pofitiv myſtiſche 
Ergänzungen find zu finden im „Dupnefhat”, fodann in den „Ennca- | 
den“ des ‘Plotinos, im „Scotus Erigena““, ftellenweife im „Jakob 
Böhm”, beſonders aber in dem Werf der Guyon „Les torrens”, und 
im „Angelus Sileſtus“, endlich noch in den Gedichten der „Sufi”.+) 


296 


Schließlich ift noch zu bemerken, daß die Verneinung des Wil⸗ 
lens zum Leben auf zwiefache Weife herbeigeführt werden Fann- 
Außer der befchriebenen Erfenntniß des Ganzen, des Weſens des 
Lebens, wie fie in den Heiligen zum Quietiv des Willens wird, 
fann nämlid — und dies ift bei den Meiften der Fall — aud 
Ichweres eigenes Leiden zur Refignation führen. Schopenhauer nennt 
diefen zweiten Weg den deurspog mioüc *). 

Ich habe Ihnen, verehrter Freund, im Bisherigen nur die Grundges 
danken der Schopenhauer'ſchen Eihif dargelegt. Die nähere Ausführung 
und Begründung derfelben muß ih Sie bitten, im vierten Buche der 
Schrift „Die Welt ald Wille und Vorftelung” nebft den dazu gehörigen 
Ergänzungen des zweiten Bandes, ferner in der Preisfchrift „Ueber 
das Fundament der Moral”, auch in den „Parerga und PBaras 
lipomena”, Bd. 2, Cap. VIT— XIV., feldft nachzulefen. Auch koͤn⸗ 
nen Sie das Fleine Eapitel: „Hinwelfung auf die Ethik“, in der 
Schrift „Ueber den Willen in der Ratur” noch hinzunehmen, wels 
ches den Zufammenhang zwifchen der Schopenhauer’fhen Ethif und 
Metaphyſik kurz nachweift. 

Ich habe nun mein Verſprechen, Ihnen die Grundgedanken der 
Schopenhauer'ſchen Philoſophie mitzutheilen, erfuͤllt. Sowie die Welt 
mit der freiwilligen Verneinung oder Selbſtaufhebung des ſie her⸗ 
vorbringenden Willens ein Ende hat, ſo muß natürlich auch das 
Syſtem mit der Darſtellung dieſer Verneinung ſein Ende erreichen, 
und folglich muß auch meine Darlegung des Syſtems hiermit en⸗ 
digen. Ich erwarte nun Ihr Urtheil und will alsdann ſehen, ob 
und inwieweit Sie mir durch daſſelbe Veranlaffung zu noch fernern 
Erörterungen und Erläuterungen geben. 


*) „Die Welt ale Wille und Borftellung“, I, 442 fg. II, 624 fg. 630 fg. 





298 


und Gefhichte mit Stillſchweigen übergangen, der über biefelben 
nicht feine eigenen Gedanken gehabt und fich nicht für fie lebhaft 
intereffirt babe. Platon, Spinoza und Kant, von denen Schopen- 
bauer fo viel gelernt, fie hätten alle Drei der philofophifchen Unter: 
fuchung über Recht und Staat befondere Schriften gewidmet. Won 
dem lebhaften Interefie_Kant’d für die Gefchichte zeuge überdies 
der zweite Abfchnitt im „Streit der Facultaͤten“, der über den Streit - 
der philofophifchen Yacultät mit der juriftifchen handle und gleidy 
mit der wichtigen Frage anfange: „Ob das menſchliche Geſchlecht 
im beftändigen Hortfchreiten zum Beſſern ſei?“ bei welcher Gelegen- 
heit denn Kant auch duf die franzöftfche Revolution 'fomme und Die 
merkwürdigen Worte ausfprehe: „Die Revolution eined geiftreichen 
Volks, die wir in unfern Tagen haben vor fi) gehen fehen, mag 
gelingen oder fcheitern; fie mag mit Elend und Greuelthaten ders 
maßen angefüllt fein, daß ein wohlvdenfender Menſch, wenn er 
fie, zum zweiten male unternebmend, glücklich auszuführen hoffen 
könnte, doch das Erperiment auf folche Koften zu machen nie be 
fchließen würde, — dieſe Revolution, fage ich, findet Doch in den 
Gemüthern aller Zufchauer (die nicht felbft in diefem Spiele mit. 
verwidelt find) eine Theilnehmung dem Wunſche nad), die nahe 
an Enthufiasmus grenzt, und deren Aeußerung felbft mit. Gefahr 
verbunden war, die alfo Feine andere, als eine moralifche Anlage im 
Menfchengefchledht zur Urfacdhe haben kann *).” Außerdem habe Kant 
auch einen Tractat „Zum ewigen Frieden“, ferner „dee zu einer 
allgemeinen Geſchichte in weltbürgerlicher Abfiht”, und „Muthmaß⸗ 
licher Anfang der Menfchengefchichte”, fo wie noch mehre Kleine Ab⸗ 
handlungen zur Politif und zur Philofophie der Gefchichte **) ges 
fchrieben und durch alles Diefes fein Intereſſe für Politif und Ges 
Ihichte Hinlänglich documentirt. Wenn alfo, fchließen Sie, Schopen- 
bauer fih einen Schüler Kant's nenne, fo müfle er doch auch 
Unterfuchungen über Recht, Staat und Gefchichte angeftellt und dieſe 
feinem Syſteme einverleibt haben. Zwar erwarten Sie allerdings 
von Schopenhauer, wegen feiner Weltverachtung, feines Peſſimismus 


*) Gefammtausgabe von Rofenfranz und Schubert, X, 346. 
”*) Im fiebenten Theil der Gefammtausgabe von Rofenfranz und Schubert 
zu finben. 


des Willens zum Leben überhaupt vernommen, feien Sie auch 
auf deffen Verdammungsurtheil über das politiche Thum und Treiben 
gefaßt. Es verftehe ſich von felof, daß, wenn Quietismus über 
haupt das Befte fei, wir auch in politiſcher Hinficht nichts Befferes 
thun können, als uns zur Ruhe fegen; oder wenn Dulden und 
Leiden zur Seligfeit führe, auch politifches Leiden und Dulden (freis 
williger Gehorfam) einen Beitrag dazu liefere, 

Verehrter Freund, Conſequenzmacherei ift leichter, ald Ein- 
dringen in den tiefen Sinn einer Lehre. Vom Standpunkt der 
BVerneinung des Willens zum Leben ergibt ſich allerdings auch bie 
Verneinung des politiihen Lebenswillens. Aber, da die Philofophie 
als univerfelle Deutung des Lebens, ebeyfo die Bejahung, wie 
die Verneinung des Willens zu ihrem Gegenftande hat, fo wird fie 
die in das Gebiet der Bejahung des Willens zum Leben fallenden 

- Erfhjeinungen mit demfelben rein objectiven, willenlos contemplativen 
Auge betrachten, wie.die in das Gebiet der Verneinung gehörenden. 
Vergegenwärtigen Sie fi immer nur, daß die Philofophie nach 
Schopenhauer feine praftifhen Zwede hat, fondern lediglich theo- 
retifche, d, b. auf Erfenntniß ausgeht. Demnach nun aber 
haben Sie, was Schopenhauer über Staat und Geſchichte fagt, 
nicht aus ‚einem politifhen degonı abzuleiten, fondern aus ber objer- 
tiven Erfenntniß der Sache. Sie haben allerdings richtig divinirt, 
daß Schopenhauer feinem Syſtem zufolge den politiſchen Enthuſias— 
mus unferer modernen Demokraten nicht fheilen könne. Aber defien- 
ungeachtet finden Sie bei ihm ein [ebhaftes theoretifches Intereffe 
für die Fragen der Politif. Gin anderes als theoretifches Intereffe 
hat man aber von einem Philofophen qua Philofophen nicht zu vers 
langen, Handelt es fi 3. B. um die Frage nach der Volfsfons 
‚veränetät, fo hat ein Philofoph als folder nicht aus Zu⸗ oder Ab» 
‚darüber zu entſcheiden, fondern aus unpartelifcher, d. h. 





300 


rein objectiver, willendlofer Erlenntniß. Aus folder heraus 
urtheilt denn auch Schopenhauer hierüber: „Die Frage nad) der 
Souveränetät des Bolfs läuft im Grunde darauf hinaus, ob irgend 
Jemand urfprünglic das Recht haben Fönne, ein Volk wider feinen 
Willen zu beherrfhen. Wie ſich das .vernünftigerweife behaupten 
laffe, fehe ich nicht ab. Allerdings alfo ift das Volk fouverain: 
jedoch ift e8 ein ewig unmündiger Souverain, welder daher unter 
bleidender Bormundfchaft ſtehen muß und nie feine Rechte felbft vers 
walten kann, ohne grenzenlofe Gefahren herbeizuführen, zumal er, 
wie alle Unmünbigen, gar leicht das Spiel hinterlifiiger Gauner 
wird, welche deshalb Demagogen heißen ).“ 

In eben ſolchem unintereflirten, d. b.-nur theoretifch inte 
reffirten Sinne urtheilt Schopenhauer über conftitutionelles 
Königthum und Deutſche Reihsverfaffung, über den Adel, 
über Leibeigenfchaft und Sklaverei, über Breßfreiheit, Ges 
fhworenengerihte, Cmancipation des Judenthums, ben 
Eid und noch manches andere in das Gebiet des Rechts und ber 
Politik Einfchlagende **). Ausführliche Betrachtungen über das 
Duell finden Sie in der Schrift „Parerga und Paralipomena”, 
Band 1, in den „Aphorismen zur LXebensweisheit”, Cap. 4, unter 
der Ueberfchrift: „Von Dem, was Einer vorſtellt.“ Ja, als einen 
Beweis, wie Schopenhauer’ allumfaffendem theoretifhen Intereſſe 
Nichts entgeht, was nur irgend einer philofophifchen Betrachtung 
werth ift und eine objective Seite darbietet, koͤnnen Sie es anfehen, 
daß er fogar über die Orden philsfophirt. „Orden find Wechfel- 
briefe, gezogen auf die öffentliche Meinung: ihr Werth beruht auf 
dem Credit des Ausftellerd” u. ſ. w.***) (Hat doch Schopenhauer 
überhaupt Manches in das Gebiet der Philofophie hereingezogen, 
was von den andern modernen Philofophen faum eines Blickes 
gewürdigt worden, wie z. B. die Metaphyſik ver Gefchledhtsliebet), 


) „Parerga und Paralipomena“, Bd. 2, in dem. Capitel zur Rechtslehre 
und Bolitif, $. 126. 
*+) In dem erwähnten Gapitel zur Nechtslehre und Bolitif. 
***) ‚Barerga und PBaralipomena“, II, 343 fg. 
FT) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, Bd. 2, Gap. 44. 


300 


die Pfitofeppie des Geifterfehens und der damit verwandten Er— 
ſcheinungen) *). 

Nicht alfo, weil es bei Schopenhauer an philoſophiſchen Unter: 
fuchungen über Net und Staat fehlt, noch auch, wie Sie glaus 
ben, aus „zarter Schonung” für Ste und Ihre politifche Farbe habe 
id) darüber gefhtwiegen, fondern weil ich Ihnen die Stelle, wo. bei 
Schopenhauer die Rechtslehre als ein integrirender Theil der Ethik 
eintritt, hinlänglich angedeutet hatte und nun das Nähere Ihrem 
eigenen Studium überlaffen wollte, Doch, da Sie damit nicht zu⸗ 
frieven find und, wie es ſcheint, nicht übel Luft Haben, mic) wegen 
unvollftändiger Leiftung des zu leiften Uebernommenen einer Con— 
traetverlegung zu beſchuldigen und einen Proceß gegen mich anhängig 
zu machen, fo will ich das Verſaumte jept nod) nachholen und 
Ihnen Schopenhauer's Grundgedanken über Recht, Staat und 
Geſchichte mittheilen, follte auch Ihr politischer Eifer nod fo fehr 
dadurch abgefühlt werben. 

Schopenhauer ift leineswegs, wie unfere modernen politiſchen 
Enthufiaften, der Meinung, daß alles Heil für die Zufunft, ja der 
Himmel auf Erden mur vom Staate zu erwarten und nur den 
Regierungen die Schuld beizumefjen ſei, daß es nicht beſſer wer- 
den will: „Ueberall und zu allen Zeiten,” fagt er, „hat es viel Unzus 
friedenheit mit den Regierungen, Gefegen und öffentlichen Einrich- 
tungen gegeben; großentheild aber nur, weil man ftets bereit iſt, 
diefen das Elend zur Laft zu Tegen, welches dem menfchlichen Dafein 
ſelbſt ungertrennlich anhängt, indem es, mythiſch zu reden, der Fluch 
if, ben Adanı empfing, und mit ihm fein ganzes Geſchlecht. Jedoch 
nie iſt jene falſche Vorfpiegelung auf lügenhaftere und frechere Weile 
gemacht worden, ald von den Demagogen der « Jeptzeit.» Diefe 
nämlich find als Feinde des Chriſtenthums Optimiften: die Welt ift 
ihnen «Selbftzwedto und daher am fich felbft, d. h. ihrer natürlichen 
Beichaffenheit nach, ganz vortrefflich eingerichtet, ein rechter Wohns 
plag der Gfüdfeligkeit. Die nun hiergegen fehreienden, Folofjalen 
Uebel der Welt ſchreiben fie gänzlich den Regierungen zu: thäten 
nämlich nur diefe ihre Schuldigfeit, fo würde der Himmel auf Erden 


>) „Barerga und Paralipomena“, I, 215—206, 





302 


eriftiren, d. 5. (und nun fommen einige Sraftausdrüde, wie fie 
Schopenhauer am rechten Drte liebt, wegen deren ihm aber von 
Gutzkow und Andern ein „cyniſcher polternder Ton” vorgeworfen 
worden) „Alle würden ohne Mühe und Noth vollauf freffen, faufen, 
fi) propagiren und frepiren fönnen: denn dies ift bie Paraphrafe 
ihres «Selbflzwed» ).“ 

Daß vom Staat überhaupt nady Schopenhauer Feine gründliche, 
radicale Heilung der Llebel der Menjchheit zu erwarten fei, Fönnen 
Sie aus folgender Stelle entnehmen: „Erreichte der Staat feinen 
Zweck vollfonmen, fo Fönnte gewiflermaßen, da er, durch die in ihm 
vereinigten Menfchenfräfte, auch die übrige Ratur fih mehr und 
mehr dienftbar zu machen weiß, zulest, durch Fortſchaffung aller 
Arten von Uebel, etwas dem Schlaraffenlande ſich Annäherndes zu 
Stande fommen. Allein, theils ift er noch ‚immer fehr weit von 
diefem Ziele entfernt’ geblieben, theild würden auch noch immer uns 
zählige, dem Leben durchaus wefentliche Uebel, unter denen, würden 
fie auch alle fortgefchafft, zulegt die Langeweile jede von den andern 
verlaffene Stelle fogleich ocrupirt, e8 nach wie vor im Leiden er« 
halten; theils ift auch fogar der Zwift der Individuen nie durch 
den Staat aufzuheben, da er im Kleinen nedt, wo er im Großen 
verpönt iſt; und endlich wendet ſich die aus dem Innern glüdfidy 
vertriebene Eris zulegt nach außen: als Streit der Individuen durch 
die ‚Staatseinrichtungen verbannt, kommt fie von außen als Krieg 
der Völker wieder und fodert nun im Großen und mit Einem male, 
al8 aufgehäufte Schuld, die blutigen Opfer ein, welche man ihr 
durch Fluge Vorfehrung im Cinzelnen entzogen hatte. Ja geſetzt, 
auch dieſes Alles wäre endlich, durch eine auf die Erfahrung von. 
Jahrtaufenden geftüste Klugheit, überwunden und befeitigt, fo wiürbe 
am Ende die wirkliche Uebervölferung des ganzen Planeten das Res 
fultat fein, deffen entfegliche Uebel ſich jest nur eine fühne Einbils 
dungsfraft zu vergegenwärtigen vermag **).” 

Während bei Hegel die Moral einen untergeordneten Theil der 
Bolitif bildet und in diefer aufgeht, fo ift e8 bei Schopenhauer 


*) „Parerga und Baralipomena‘, Bd. 2, $. 128. 
**) ‚Die Welt als Wille und Vorſtellung“, I, 395. 


ſei ein Thema ihrer würdig. Nichts fann verfehrter fein. Denn in 
jedem Einzelnen erſcheint der ganze ungetheilte Wille zum Leben, 
"das Wefen an ſich, und der Mitrofosmos it dem Makrokosmos 
gleich. Die Mafien haben nicht mehr Inhalt, als jeder Einzelne, 
Nicht vom Thun und Erfolg, fondern vom Wollen handelt es ſich 
und das Wollen felbft geht ftetS nur im Inbividuo 
vor, Nicht das Schichſſal der Völker, welches nur in der Erſcheinung 
da ift, jondern das des Einzelnen entſcheidet ſich moraliſch. Die 
Völfer find eigentlich bloße Abftraetionen. Die Individuen allein 
eriftiren wirklich *). 

Uebereinftimmend hiermit lautet Schopenhauer’s Anſicht über 
die Gefhichte. Auf diefe fommt er ausführlich im zweiten Buche 
der Schrift „Die Welt als Wille und BVorftellung”, alfo in der 
Aſthetit, zu ſprechen, am der Stelle nämlich, wo er den Unterfchied 
zwiſchen Poeſie und Geſchichte auseinanderfegt **) umd mit Aris 
ftoteles darin übereinftimmt, daß die Poefie philofophifcher fei, als 


*) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, U, 586 fg. 
f in meinen „Hfthetifchen Fragen“ finden Sie hierüber ein Gapitel, 
mer bezogen habe, 






304 


die Geſchichte. Schopenhauer zeigt dort „daß und warum für die 
Erkenntniß des Weſens der Menſchheit mehr von der Dichtung, als 
von der Geſchichte geleiſtet wird“. Die Geſchichte iſt ihm eigentlich 
keine Wiſſenſchaft; „denn ihr fehlt der Grundcharakter der Wiſſen⸗ 
ſchaft, die Subordination des Gewußten, ſtatt deren ſie bloße Coor⸗ 
dination deſſelben aufzuweiſen hat. Daher gibt es kein Syſtem der 
Geſchichte, wie doch jeder andern Wiſſenſchaft. Denn nirgends er⸗ 
kennt ſie das Einzelne mittels des Allgemeinen, ſondern muß das 
Einzelne unmittelbar faſſen und ſo gleichſam auf dem Boden der 
Erfahrung fortkriechen; waͤhrend die wirklichen Wiſſenſchaften darüber 
ſchweben, indem fie umfaſſende Begriffe gewonnen haben, mittels 
deren fie das Einzelne beherrſchen *).“ | 

Aber nicht blos deswegen, weil die Gefchichte Feine Wiffenfchaft 
ift, legt ihr Schopenhauer feinen fonderlichen Werth bei, fondern auch, 
was freilich damit zufammenhängt, weil ihr Stoff, in Vergleichung mit 
dem der Kunft und Wiffenfchaft, ein fehr untergeordneter und 
„kaum noch der ernften und mühfamen Betrachtung des Menfchengeiftes 
wuͤrdiger ift, des Menfchengeiftes, der gerade, weil er fo vergänglich iſt, 
das IUnvergängliche zu feinen Betrachtungen wählen ſollte **)." 

Während nämlich der Stoff der Kunft die Idee, der Stoff der 
Wiftenfchaft der Begriff ift, und fo Beide mit Dem befchäftigt 
find, was immer da ift und ftets auf gleiche Weife, nicht aber jet . 
ift und jet nicht, jebt fo und jebt anders: fo ift hingegen der Stoff 
der Gefchichte das Einzelne in feiner Einzelnheit und Zufälligfeit, 
was Ein mal ift und dann auf immer nicht mehr ift, „die vorübers 
gehenden Verflechtungen einer wie Wolfen im Winde beweglichen 
Menfchenwelt, welche oft durch den geringfügigften Umſtand ganz 
umgeftaltet werben ***).” 

Nach dieſer Auffaflung wird e8 Sie nicht mehr befremden, 
wenn Schopenhauer gegen das, befonderd „durch die überall fo 
geifteöverderbliche und verdbummende Hegel'ſche Afterphilofophie” auf 


*) „Die Welt als Wille und VBorftellung‘‘, Bd. 2, Cap. 38, wo Sie bie 
nähere Ausführung und Begründung dieſes Gegenfaßes zwifchen Wiflenfchaft und 
Geſchichte finden. 

**) ‚Die Welt als Wille und Borftellung‘‘, II, 442. 

») a. a. O. 


305 


gefommene Beftreben, Die Weligeſchichte als ein planmäpiges Gange 
zu faffen, oder, wie fie es nennen, „fe organiſch zu conſtruiren“, 
heftig polemiſirt. Es liegt, fagt er, demſelben eigentlich ein roher 
und platter Realismus zum Grunde, der die Erſcheinung für 
das Wefen an ſich der Welt Hält und vermeint, auf fie, auf ihre 


wirkliche, 

Ginpeit dus Bewußtſeins hat, fo ÄR. die Einheit de& Lehenslaufs 
dieſes eine bloße Fiction. Zudem, wie In der Natur nur die Species 
real, die genera bloße Abftractionen find, fo find im Menfchenger 
ſchlecht nur die Individuen und ihr Lebenslauf real, die Völfer und 
ihr Leben blofe Abftractionen. Endlich laufen die Eonftructionsgefchice 
ten, vom platten Optimismus geleitet, zulegt immer auf einen behag⸗ 
lichen nahrhaften, fetten Staat, mit wohlgeregelter Conftitution, guter 
Juſtiz und Poligei, Technil und Induftrie und höchſtens auf inteller- 
tuelle Vervollfommnung hinaus, weil diefe in der That die allein 
mögliche ift, da das Moralifche im Wefentlichen unveränderlich bleibt. 
Das Moralifhe aber iſt es, worauf, nad) dem Zeugniß unfers 
innerften Bewußtfeins, Alles ankommt: und dieſes liegt allein im 
Individuo, als die Richtung feines Willens. In Wahrheit hat nur 
der Lebenslauf jedes Einzelnen Einheit, Zufammenhang und wahre 
Bereutfamfeit; er ift als eine Belehrung anzufehen, und der Sinn 
derfelden ift ein moralifcher, Nur die innern Vorgänge, fofern fie 
den Willen betreffen, haben wahre Realität und find wirkliche Be— 
— weil der Wille allein das Ding an ſich iſt. In jedem 

Mitroloomos liegt der ganze Mafrofosmos, und dieſer enthält nichts 
mehr als jener. Die Vielheit it Erſcheinung, und die äußern Vor— 
gänge find bloße onfigurationen der Erſcheinungswelt, haben 
daher unmittelbar weder Realität noch Bedeutung, fondern erft 
mittelbar, durch ihre Beziehung auf den Willen der Einzelnen, Das 
Beftreben, fie unmittelbar deuten und auslegen zu wollen, gleicht 
ſonach dem, in den Gebilben der Wolfen Gruppen von Menſchen 
und Thieren zu fehen. — Was die Geſchichte erzählt, ift in der 
That nur der lange, ſchwere und verworrene Traum der Menfchheit*).” 





306 

Dennoch ſpricht Schopenhauer der Geſchichte nicht allen und 
jeden Werth ab. Bielmehr: „Was die Bernunft dem Jubdi⸗ 
vidno, das if die Geſchichte dem menfchlichen Geſchlechte.“ 
So wie naͤmlich das der Bernunft ermangelnde Thier, defien reflerione- 
loſe Erkenntniß auf die enge anfchauliche Gegenwart beichränft iR, 
unfundig, dumpf, einfältig, hülflos und abhängig zwilchen ven Men⸗ 
fhen umherwandelt: aͤhnlich ift ein Volk, das feine eigene Gefchichte 
nicht fennt, auf die Gegenwart der jeht lebenden Generation be 
fhränft, daher verficht es ſich felbft und feind Gegenwart nicht, weil 
ed fie nicht auf die Bergangenheit zu beziehen und aus biefer zu 
erflären, noch weniger die Zukunft zu anticipiren vermag. Erſt durch 
die Geſchichte wird ein Voll fich feiner felbft vollftändig bewußt. 
Demnach ift die Gefchichte als das vernünftige Selbftbewußtfein des 
menſchlichen Geſchlechts anzufehen und vertritt die Stelle eines dem⸗ 
felben unmittelbar gemeinfamen Selbftbewußtfeins, ſodaß erſt ver 
möge ihrer dafjelbe wirklich zu einem Ganzen, zu einer Menſch⸗ 
beit wird *). 

Sie erfehen hieraus, daß die Geſchichte nach Schopenhauer 
‚eigentlih nur einen praftifchen, d. h. auf die vernünftige plan» 
mäßige Leitung der Völfer und des Menfchengefchlechts bezüglichen 
Werth bat, aber Feinen theoretifchen, philofophifchen. Die theos 
retifche Belehrung, die wir aus der Gefchichte empfangen, ift nad 
Schopenhauer nicht größer, ja fogar geringer, als die uns die Bes 
trachtung eines einzelnen, individuellen Lebenslaufes gewährt. Daher 
jieht er die Biographien, vornehmlich die Autobiographien der eigent⸗ 
lichen Gelchichte vor**). Wer, fagt er, nuchdem er den Unterſchied 
zwifchen Wille (Platonifher), Idee und Erfcheinung in der Afthetif 
auseinandergefegt, die Idee von ihrer Erfcheinung zu unterfcheiden 
weiß, dem werden die Weltbegebenheiten nur noch fofern fie Buch⸗ 
ftaben find, aus denen die Idee des Menfchen fich Iefen läßt, Be 
deutung haben, nicht aber an und für fih. Er wird nicht mit den 
Leuten glauben, daß die Zeit etwas wirklich Neues und Bedeutfames 


*) Die nähere Ausführung dieſes Gedankens finden Sie a. a. O., ©. 444 fg. 
*>) Vergl. das Nähere hierüber in: „Die Welt ale Wille und Vorſtellung“, 
I, 280 fg., 





ſchengeſchlechts, in Eigennug, Haß, Liebe, Furcht, Kühnheit, Leicht - 
finn, Stumpfheit, Schlauheit, Wig, Genie u. f. w., welche alle, zu 
taufendfältigen Geftalten (Individuen) zufanmmenlaufend und. ges 
tinend, fortwährend die große und die kieine Weltgeſchichte auf⸗ 
führen, wobei e8 am ſich gleichviel ift, ob, was fie in Veivegung . 
fest, Nüffe oder Kronen find *). : 
Bon feinem nur die ewigen unveränderlihen Ideen als das 
wahrhafte Wefen, die zeitlichen Individuen hingegen nur als flüch⸗ 
tige, wechſelnde Erfheinungen betradhtenden (Platoniſchen) Stand- 
punkt aus, muß Schopenhauer natürlich eine eigentliche, d. h. wer 
fentliche Perfectibilität des Menſchengeſchlechts Teugnen, wie noch 
befonderd aus folgender, gleich an das Vorige ſich anſchlleßen⸗ 
den Meußerung hervorgeht, „daß es nämlich in der Welt iſt, 
wie in den Dramen des Goyi, in welden allen immer dieſelben 
Berfonen auftreten, mit gleicher Abſicht und gleichem Scyidfal: die 
und Begebenheiten freilich find in jedem Stüde andere; aber 
der Begebenheiten iſt derfelbe; die Perfonen des einen 
jen auch nichts von den Vorgängen im andern, in wel⸗ 
fie ſelbſt agixten: daher ift, nach allen Erfahrungen der 
Stüde, doch Pantalone nicht behender oder freigebiger, Tars 


E 
Ef 


T 
Er 


früßern 


308 


taglia nicht gewiſſenhafter, Brighella nicht behergter und Eolombine 
nicht fittfamer geworben.” 

Nehmen Sie hierzu noch die Worte: „In diefer Welt der Er 
fheinung ift jo wenig wahrer Berluft, als wahrer Gewinn möglid,. 
Der Wille allein ift: er, das Ding an fi, er, die Quelle aller 
jener Erfcheinungen. Seine Selbfterfenntniß und darauf fi ent 
fheidende Bejahung oder Berneinung ift die einzige Begebenheit an 
fi *);" fo werden Sie über Schopenhauer’d Geſchichtsanficht voll⸗ 
ftändig im Klaren fein, Sie ift mit kurzen Worten die des Kohe⸗ 
(etb (1, 9. 10): „Was jest da ift, das wird einft wieder kommen, 
und was wir thun, wird ein Anderer thun; nichts iſt ganz nem 
unterm Sonnenlidt. Sagt man von etwas auch: «fich” das iſt 
neu!» fo war doch in ber Vorzeit ſchon, was ſich vor unſern Augen 
jetzt ereignet.” 

In dieſer Geſchichtsanſicht trifft Schopenhauer auch mit Her⸗ 
bart zuſammen, der ebenfalls jedes eigentliche Werden, d. h. Ber 
änderung des Realen, leugnet und gegen die dreiſte Behauptung 
eines „Weltplans‘ und die Gefchichtsconftructionen nach dem angeb- 
lichen Weltplan polemifirt. (Bergl. das Schlußrapitel in der „ana⸗ 
Intifchen Beleuchtung des Naturrechts und der Moral“.) 

Zwar leugnet Schupenhauer nicht -alle und jede “PBerfertibilität. 
Aber fie it ihm nur eine intellectuelle, feine moralifche; denn 
der Wille und, die beftimmte Willensrichtung, der Charakter, find 
ihm unveränderlih *%). In moralifcher Beziehung ift alfo an 
ein Befjerwerden nicht zu denken; ſondern hier Handelt es fich lediglich 
um eine ganz neue Schöpfung, um eine Wiedergeburt, wie’ es 
das ChriftenthHum nennt. Hier heißt es: aut, aut! Entweder Bes 
jahbung oder Berneinung des Willens zum Leben! Die Welt 
geihichte ift nur der Ausprud der Bejahung des Willens zum 
Leben. Dagegen ift die Weltentfagung der Heiligen der Ausdruck 
ver Berneinung des Willens zum Leben. So hoch aber die 
Berneinung über der Bejahung fleht, fo erhaben ift das Leben des 


*) „Die Welt ale Wille und Borftellung‘‘, I, 207. 
”*) Dergl. „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, Bd. 2, Cap. 19, befonbere 
©. 226 fg., 239 fg. u. 266, die phyſiologiſche Beſtätigung dazu. 





fophen find in diefer Hinficht jene Lebensbefchreibungen heilige, ſich 
felbft verleugnender Menſchen, fo ſchlecht fie auch meiftens geſchtieben, 
ja mit Aberglauben und Unfinn vermiſcht vorgetragen find, doch, 
durch die Bebeutfamfeit des Stoffes, ungleid; belehrender und 
wichtiger, als ſelbſt Plutarchos und Livius ) · * 
Doch genug von Schopenhauer's Geſchichtsanſicht l Sp gehe 
jegt zur Darlegung feiner Rechts⸗ und Staatsphilofophie über. 
Nach Schopenhauer iſt nicht der Begriff des Rechts, fondern 


der des Unrechts der urfprüngliche und pofitive: der ihm entgegen- 
geſehte des Rechts hingegen der abgeleitete und negative, Denn, 
fagt er, wir müſſen uns nicht an Worte, fondern an die Begriffe 
halten. Der Begriff des Rechts, als der Negation des Unrechts, 
hat feine Hauptfächliche Anwendung und ohne Zweifel auch feine 
erfte Entftehung gefunden in den Fällen, wo verfuchtes Unrecht durch 


2 


abgewehrt wird, welche Abwehrung nicht felbft wieder Un⸗ 
fein kann, folglich Recht ift; obgleich die dabei ausgeübte Ge— 
waltthätigfeit, blos an fid und abgeriffen betrachtet, Unrecht wäre, 
und hier nur durch ihr Motiv gerechtfertigt, d. h. zum Necht wird, 
Wenn ein Individuum in der Bejahung feines eigenen Willens fo 
weit geht, daß es in die Sphäre der meiner Perfon als folder 
weſentlichen Willensbejahung eindringt und damit diefe verneint, fü 


& 


Willens, folglich nicht Unrecht, mithin Recht. Dies heißt: ich habe 
alodann ein Necht, jene fremde Verneinung mit der zu ihrer Auf 
hebung nöthigen Kraft zu verneinen, welches, wie leicht einzufehen, 
bis zur Tödtung des fremden Individuums gehen kann, deſſen Ber 
einträchtigung, als eindringende äußere Geivalt, mit einer diefe etwas 
überwiegenden Gegenwirfung abgewehrt werben fan, ohne alles. 


a 


in „Die Welt als Wille und Borftellung“, 


P 


310 
Unrecht, folglich mit Recht; weil Alles, was von meiner Seite ge« ' 
fhieht, immer nur in der Sphäre der meiner Perfon als folcher 
weientlichen und fchon durch fie ausgedrüdten Willensbejahung liegt, 
nicht in die fremde eindringt, folglih nur Regation der Regation, 
alfo Affirmation, nicht felbft Regation if. Ich kann alfo, ohne 
Unredt, den meinen Willen (wie diefer in meinem Leibe und ber 
Verwendung von deflen Kräften zu defien Erhaltung, ohne Ver⸗ 
neinung eines gleiche Schranfen haltenden fremden Willens, erfcheint) 
verneinenden fremden Willen zwingen, von diefer Berneinung abzu⸗ 
ſtehen, d. h. ich habe foweit ein Zwangsredt. 

In der That, fagt Schopenhauer, würde nie von Recht geredet 
worden fein, gäbe es Fein Unrecht. Der Begriff Recht enthält 
nämlich blos die Regation des Unrechts und ihm wird jede Hands» 
(ung fubfumirt, welche nicht Verneinung des fremden Willens zur 
ftärfern Bejahung des eigenen — worin eben das Unrecht beftebt 
— if. Sobald eine Handlung nicht, (fei e8 durch Verletzung des 
fremden Leibes [der die unmittelbarfte Bejahung des -fremden 
Willens ifi], oder dur Eigenthumsverlegung und — was bie 
Art der Ausübung betrifft, — fei es dur Gewalt oder durch 
zift), in die Sphäre der fremden Willensbejahung, dieſe verneinend, 
eingreift, ift fie nicht Unrecht. Daher 3. B. das Verſagen der Hülfe 
bei dringender fremder Noth, das ruhige Zufchauen fremden Hunger- 
todes bei eigenem Ueberfluß, zwar graufam und teuflifch, aber nicht 
Unrecht if: nur läßt fi) mit völliger Sicherheit fagen, daß wer 
fähig ift, Die Lieblofigfeit und Härte bis zu einem folchen Grade zu 
treiben, auch ganz gewiß jedes Unrecht ausüben wird, fobald feine 
Wünfche es fodern und fein Zwang es wehrt*., 

Der Grundſatz der Gerechtigkeit ift nur das: Neminem 
laede! und dieſes läßt fidy erzwingen. Dagegen ift das: imo omnes 
quantum potes; juva, das an jenen ſich anfchließt, ſchon Grundſatz 
der Menſchenliebe, caritas, ayanın, die fich. nicht erzwingen läßt, 
fondern blos freiwillig ift. „Weil die Boderung der Gerechtigkeit blos 
negativ ift, läßt fie fich erzwingen: denn das neminem laede fann 


*) ‚Die Welt als Wille uud Vorſtellung“, Bd. 1, $. 62, wo die nähere 
Ausführung davon, 





Die Begriffe Unrecht und Recht, als gleichbedeutend mit Ver⸗ 
legung und Nichtverlegung, zu welcher leptern aud das Abwehren 
der Verlegung gehört, find nad) Schopenhauer unabhängig von aller 
pofitiven Gefepgebung und dieſer vorhergehend: alfo gibt es ein 
rein ethiſches Recht oder Naturrecht und eine reine, d. h. von aller 
pofitiven Sapung unabhängige Rechtslehre. Die Grundfäge derfelben 
haben zwar infofern einen empirifchen Urfprung, als fie auf Anlaß 
des Begriffs der Verlegung entftehen, an fich felbft aber find fie 
aprioriſch, gleichfam ein moraliſches Nepercuffionsgejeg. Den diefes 
leugnenden Empirifer darf man, da bei ihm allein Erfahrung gilt, 
nur auf die Wilden hinweifen, die alle ganz richtig, oft audy fein 
und genau, Unrecht und Recht unterſcheiden; welches fehr in die 
Augen fällt bei ihrem Tauſchhandel und andern Uebereinkünften mit 
der Mannſchaft europäifcher Schiffe und bei ihren Beſuchen auf 
diefen. Sie find breift und zuverfichtlich, wo fie Recht Haben, hin⸗ 
gegen angſtlich, wenn das Recht nicht auf ihrer Seite ift. Bei 
Streitigkeiten laſſen fie fich eine rechtliche Ausgleihung gefallen, hin⸗ 
gegen reist ungerechtes Verfahren fie zum Kriege. Die Rechtslehre 
ift ein Theil der Moral, welcher die Handlungen feftftellt, die man 
nicht ausüben darf, wenn man nicht Andere verlegen, d. h. Unrecht 
begehen will. Die Moral hat alſo hierbei den activen Theil im 
Auge. Die Gejepgebung aber nimmt dieſes Eapitel der Moral, um 
es hinſichtlich auf die paffive Seite, alfo umgefehrt, zu gebrauchen 
und diefelben Handlungen zu betrachten als ſolche, die Keiner, da 
ihm fein Unrecht wiverfahren ſoll, zu leiden braucht. Gegen dieſe 


Handlungen errichtet nun der Staat das Bollwerk der Geſetze, als 
pofitives Recht. Seine Abficht ift, daß Keiner Unrecht leide: die Ab⸗ 
fiht der moralifchen Rechtslehre hingegen, daß Keiner Unrecht thue *). 

Der Staat ift eigentlich nur ein Product des vernünftigen Egois⸗ 
mus, oder „Das Mittel, wodurch der mit Vernunft ausgerüftete Egois⸗ 
muß feinen eigenen, ſich gegen ihn felbft wendenden fchlimmen Folgen 
auszuweichen fucht, und nun Jever das Wohl Aller befördert, weil er 
fein eigenes mit darin begriffen ficht.” „Wenn der Staat feinen 
Zwed vollfommen erreicht, wird er diefelbe Erfcheinung hervorbringen, 
als wenn vollkommene Gerechtigkeit ver Gefinnung allgemein berrfchte. 
Das innere Weſen und der Urfprung beider Erfcheinungen wirb aber 
der umgefehrte fein. Nämlich im legtern Fall wäre es dieſer, daß 
Niemand Unrecht thun wollte; im erftern aber diefer, daß Riemand 
Unrecht leiden wollte und die gehörigen Mittel zu dieſem Zweck 
vollfommen angewandt wären. So läßt ſich diefelbe Linie aus ent- 
gegengefehten Richtungen befchreiben, und ein Raubtbier mit einem 
Maulforb ift fo unschädlich wie ein grasfrefiendes Thier **).“ 

Das Kant'ſche Moralprincip ift, wie Schopenhauer ausführlich 
gezeigt hat, als ein egoiftifches, da die moraliiche Verpflichtung 
nad demfelben ganz und gar nur-aufReciprocität beruht, eigent- 
(ih nur ein Staatsprincip, aber fein Moralprincip ***). 

Hiermit, verehrter Freund, habe ich Ihnen das Wefentliche von 
Schopenhauer’d Lehre über Recht, Staat und Geſchichte mitgetheilt 
und überlaffe die nähere Ausführung und Begründung davon Ihrem 
eigenen Studium der Werke des Meifters. Ich hoffe nun von 
Ihnen entlaffen zu werden und erwarte nur noch Ihr Endurtel 
über das Ganze des Syſtems. Wie fehr man auch in mandhen 
Einzelnheiten von Schopenhauer abweichen möge, gegen das Ganze 
feiner Weltauffaffung wird fich fehwerli etwas Gegründetes vors 
bringen lafjen. Auf das Ganze, auf den Grundgedanken, fommt es 
aber hauptſaͤchlich bei einem philofophifchen Syftem an. Einzelne 


*) „Die beiden Grundprobleme der Ethik‘, ©: 222 fg. Vergl. „Die Welt 
als Wille und Vorſtellung“, I, 337 fg. u. II, 591 fg. 
2) Die Welt ale Wille und Vorſtellung“, I, 391 und 395. 
»"*) ‚Die beiden Grundprobleme der Ethik“, ©. 195. 


‚313 


Ausftelungen lafien fih am Ende an jedem wifjenfchaftlihen Werk, 
fo wie an jevem Kunftwerf machen. Iſt aber nur das Ganze nicht 
verfehlt, fo nimmt man gern einzelne Fehler und Schwächen mit in 
den Kauf; während umgefehrt, wenn das Ganze nichts taugt, die 
einzelnen Vorzüge und nicht dafür entfchädigen Fönnen. Ich wenigs 
ſtens ſehe lieber ein gutes Drama mit Fehlern im Einzelnen, Uns 
wefentlihen, als ein in der Hauptfache verfehltes mit noch fo viel 
einzelnen Schönheiten. 


| Siebenundzwanzigfter Brief. 


Beurtheilung der Erdmann'ſchen Antithefe zwiſchen Herbart und Geo: 

penhauer. — 3. H. Fichte's Urtheil über Schopenhauer. — Warum 

Schopenhauer's antikosmiſche Tendenz perhorrescitt wird. — Die dem 

Optimismus und Peſſimismus zu Grunde liegende Gefinnung. — Zwie- 

fpalt zwifchen Wille und Erkenntniß. — Fortlage's Urtheil über ven 
Schopenhauer'ſchen Peſſimismus. 


— — — ·— — 


Sie koͤnnen mich, ſchreiben Sie, verehrter Freund, noch nicht ent⸗ 
laſſen und mir Ihr Endurtel noch nicht mittheilen; denn in dieſen 
Tagen habe Ihnen Ihr Buchhaͤndler das die Schopenhauer'ſche Phi⸗ 
loſophie beurtheilende Heft von Fichte's „Zeitſchrift für Philoſophie 
und philoſophiſche Kritik“*) zugeſchickt und, nachdem Sie Erdmann's 
Antitheſe zwiſchen Schopenhauer und Herbart, und Fichte's Nach⸗ 
wort dazu geleſen, ſeien Sie einigermaßen ſchwankend in Ihrem 
Urtheil geworden. Ich fole Ihnen daher, ehe Sie mit Ihrer Mei- 
nung berausrüdten, vorerft nody fagen, ob und was an Fichte's 
und Erdmann's Urtheil Wahres fei, damit Sie Schopenhauer nicht 
Unrecht thäten. 

Nun denn: Was zuerft Erdmann's Urtheil betrifft, fo iſt 
es zwar richtig, was er gleich Anfangs fagt, daß Schopen- 
hauer’8 Philofophie ebenfo fehr der Fichte fchen Wiffenfchaftslehre, 
wie dem Schelling’jchen Identitaͤtoſyſtem entgegentrete, daß daher 
mit der Zeit, welche Waffen gegen beide fucht, auch Schopenhauer’s 


) Neue Folge, Bd. 21, Heft 2 (Halle 1852). 





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j 


Grunde gemäß 


3 
Ei 
: 


= 

J 
5° 
82 


= 


bedeutet, als ein Object haben, und Dbjectfein 
Subject erfannt werben: genau ebenfo nun ift 
‚mit einem auf irgend eine Weife beftimmten Object fo 
auch das Subjert als auf eben folhe Weife erfennend 
iſt es einerlei, ob ich fage: die Dbjecte haben 


3321 
59 
# 

: 

H 

Ei 

| 

| 


ob ich fage: die Objecte find in ſolche Claſſen zu theilen, oder: dem 
Subject find ſolche unterſchiedene Erfenntnißfräfte eigen. Demnach 
nun, ob. man fagt: Sinnlichfeit und Verftand find nicht mehr; oderz 
die (objective) Welt hat ein Ende, ift Eins. Ob man fagt: es gibt 
feine Begriffe, oder: die Vernunft ift weg und es gibt nur noch 
Thiere — iſt Eins.“ Das Verkennen diejes DVerhältnifes nun 







die jedoch mit der Miene des tiefften Gruftes, gehaltenem Ton und 
lebhaften Gifer vorgeltagen und mit berebter Potemit [wachen 


* 


346 

Gegnern gegenüber vertheidigt, glänzen Eonnte und etwas zu fein 
fchien.” Fichte, fagt Schopenhauer, ift nicht, wie die echten Philos 
. fophen, aus dem Anblik der Welt und dem daraus erwachfenden 
Platonifchen Taupafeıv pnaia Yuiocopov ran: zum Philoſophen 
geworben, fondern, wie die unechten, nur aus einem Buche, einem 
vorliegenden Syfteme, „da er blos über Kant's Ding an fi zum 
Philofophen geworden ift und ohne daſſelbe hoͤchſt wahrfcheinlich. 
ganz andere Dinge mit viel befierm Erfolg getrieben hätte, dal er 
bedeutendes rhetorifches Talent befaß. Wäre er jedoch in den Sinn 
des Buches, das ihn zum Philofophen gemacht hat, die « Kritif der 
reinen Vernunft», nur irgend tief eingedrungen, fo würbe er verftan- 
den haben, daß ihre Hauptlehre, dem Geiſte nach, diefe iſt: daß 
der Sa vom Grunde nit, wie alle fcholaftifche Philofophie mil, 
eine veritas aeterna ft, d. h. nicht eine unbebingte Gültigfeit vor, 
außer und über aller Welt habe, fondern nur eine relative und bes 
dingte, allein in der Erfcheinung geltende; daß daher das innere 
Weien der Welt, das Ding an fi, nimmer an feinem Leitfaden 
gefunden werben kann, fondern Alles, wozu biefer führt, immer ſelbſt 
wieder abhängig und relativ, immer nur Erfcheinung, nicht Ding 
an fi iſt; daß er ferner gar nicht das Subject trifft, fondern nur 
Form der Objecte ift, die eben deshalb nicht Dinge an ſich find, 
und daß mit dem Object ſchon fofort das Subject und mit dieſem 
jenes da ift, alfo weder dad Object zum Subject, noch dieſes zu 
jenem erft als Folge zu feinem Grunde hinzukommen fann. Aber 
von allem Diefem hat nicht das Mindefte an Fichte gehaftet *).” 

Was die Schelling’fhe Ipentitätsphilofophie betrifft, fo fagt 
Schopenhauer gegen diefelbe, fie ſcheine zwar den gerügten zwie⸗ 
fachen Fehler aller frühern Syfteme, des entweder materialiftifchen 
Ableitend ded Subjertd aus dem Object oder des ibealiftifchen Ab⸗ 
leitend des Objects aus dem Subject infofern zu vermeiden, als fie 
weder Subject noch Object zum eigentlichen erften Ausgangspunft 
nimmt, fondern ein drittes, das durch Bernunft-Anfchauung erfenn- 


*) „Die Welt ale Wille und Vorſtellung“, 1, 36 fg. „Parerga und Baras 
lipomena‘‘, I, 90 fg. „Weber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenben 
Grunde”, 2. Aufl., ©. 78. ’ 


Gegenfag gegen die Wiſſenſchaftslehre und das Jpentitätsfyften den 
Kantianismus fortgebildet haben. Diefe Fortbildung fei jedoch fo 
zu beftimmen, daß der Eine die eine, der Andere die andere Seite 
der Kant'ſchen Philofophie cultivirt und weiter entwidelt habe, 
Herbarten habe an Fichten der Idealismus abgeftoßen, Schopenhauer 
dagegen erhebe gerade Alles, was zum Idealismus führt, Nach 
Herbart fei das Seiende Vieles, jedes Seiende eine unvergängliche 
Monade, ein eigentliches Werden gebe es nicht, nur die Relationen 
zwiſchen den einfachen Weſen änderten ſich. Dagegen fei Schopen- 
bauer von einem wahren Haß gegen alle Vielheit und Individuas 
dität beſeelt. Der Behauptung Herbart's: Die Philofophie müfe 
Realismus, fie muͤſſe (qualitativer) Atomismus fein, fiche die Scho— 
penhauer ſche gegenüber, daß der Realismus, diefes Product der jü⸗ 
diſchen Religion, den urfprünglichen (indiſchen) Idealismus verdrängt 
habe, mit dem der Kantfche übereinftinme, Bei Herbart fei der 
Atomismus Grund feines Atheisnus; bei Schopenhauer dagegen 






id Borftellung“, I, 20 fa. 


318 


der Subſtanzialismus Grund feines Akosmismus. Herbart fei Geg⸗ 
ner Spinoza's, Schopenhauer Freund Deflelben. Bon Beiden wür: 
den Platon und Kant anerkannt, aber Jeder hebe Entgegengefehtes 
an ihnen hervor. Für Herbart fei an den Platoniſchen Ideen das 
Wichtigfte, daß jede eine andere Qualität angebe; für Schopenhauer, 
daß ſie Allgemeinbegriff iſt und die Ideenlehre die trügerifche Schein- 
erifteng der einzelnen Dinge behauptet. Bon den Nachfolgern Kant's 
fei Herbarten am liebften der antipantheiftifche Fichte, am wegwer- 
fendſten fpreche er von Schelling, dem Pantheiften. Schopenhauer 
dagegen lobe Scyelling wegen des Ev xal ray und erkläre Fichte 
für einen Windbeutel, Hegel für einen Unfinnfchmierer. In furger 
Formel: „Herbart, der realiftifche Atomift, tadelt an Kant und an 
der Wiffenfchaftsichre die Keime und die Ausbildung des Idealis⸗ 
mus, an Kant und dem pentitätöfgftem die Anfänge und Bollen- 
dung des Pantheismus, dagegen hält er Alles feft, worin Kant ein 
Bollwerk gegen beide werden kann. Umgekehrt Schopenhauer, der 
tvealiftifche Anhänger des Ev xat zav. Der Bantheismus des Iden⸗ 
titätöfyftems ftößt ihn nicht ab. Am Pantheismus des Identitaͤts⸗ 
ſyſtems mißfält ihm blos der Name; wohl aber ftößt ihn der Mangel 
an Idealismus defielben ab. Dagegen der theoretiihe Egoismus 
der Wiffenfchaftslehre grenzt ihm an Tollheit. Wo Kant Idealiſt 
ift, oder wo er das Einzelwefen gegen die Gattung herabfegt, gift 
er ald Heros. Wo er gegen den Idealismus, wo er für Freiheit 
und Unfterblichfeit des Einzelnen fpricht, da zählt er kaum mit.“ 

In diefe Erdmann'ſche Beihuldigung Schopenhauer’8 als eines 
einfeitigen Spealiften tönt auch Fichte, in feiner Nachfchrift zu Erd⸗ 
mann’d Antithefe, mit ein, indem er ben fubjectiven Idealismus 
Schopenhauer's die ſchwaͤchſte und verwundbarfte Eeite nennt und 
fügt, „daß jeder blos fubjective Idealismus überhaupt nicht haltbar 
und insbefondere jest nicht mehr wiflenfchaftlich berechtigt fei, wenn 
man auch nur ber gründlichen Widerlegung beffelben durch Herbart 
fi) erinnert, der gezeigt, dag das Mannichfaltige des gegebenen 
BVorftellungsinhaltes im Ich nur einem mannicdfaltigen Realen 
entfprechen Fönne, mit welchem die Seele in Beziehung tritt”. 

Aber ich denke, nad Dem, was ih Ihnen in meinen frühern 
Briefen über das Verhältniß der Schopenhauer’ichen Philoſophie zum 


zeugung geworben fein, daß man Schopenhauer ebenfo Unrecht thut, 
wenn man ihn ald einfeitigen Idealiſten bezeichnet, wie wenn man 
ihn zum einfeitigen Nealiften ſtempelte. Durd; die Sonderung ber 
realen Seite der Welt oder des Dinges an fid) von der idealen 
Seite oder ber Vorftellung und bie Nachweiſung des Zufammen- 
hanges, in welchem dieſe beiden MWelthemifphären zueinander ftehen, 
daß namlich die ganze objective, vorgeftellte Welt nur die Erjchel- 
nung ober der Spiegel des Willens als des Dinges an ſich fel, — 
in ja von Schopenhauer ebenfo die Cinfeitigfeit des fubjectiven 


Ei 
* 
5 


wunden. Auch Schopenhauer erfennt fo gut wie Herbart an, daß 
das Mannichfaltige des Vorftelungsinhalts (der empiriſche Stoff 
der Vorftellungswelt im Gegenfag zu ihren fubjectiven apriorifchen 
Formen) vom Realen, dem Ding an fi, herrühre. Denn er fagt 
in dem hoͤchſt wichtigen ea ee Allererſt da, 
wo alle Ausfagen a priori aufhören, mithin in dem ganz empi— 
rifhen Theil unferer Erfenntniß der Körper, alfo in der Form, 
Qualität und beftiimmten Wirfungsart derfelben, offenbart fich jener 
Wille, den wir ald das Weſen an fi der Dinge erfannt und ſeſt⸗ 
geftellt Haben.“ Allein diefe Formen und Dualitäten erſcheinen nach 
Schopenhauer ftets nur als Eigenfhaften und Aeußerungen eben 
jener Materie, deren Dafein und Wefen auf den fubjectiven For⸗ 
men unſers Intellects beruht: d. h. fie werden nur an ihr, mittels 
ihrer ſichtbar. Denn, was immer ſich uns darftellt, ift ftets nur, 
eine auf fpeciell beftimmte Weiſe wirfende Materie. Aus den in 
nern und nicht weiter erflärbaren Eigenſchaften einer ſoichen geht” 
alle beftimmte Wirkungsart gegebener Körper hervor; und doch wird 
die Materie ſelbſt (in abstracto) nie wahrgenommen, fondern eben 
nur jene Wirkungen und die diefen zum Grunde liegenden beſtimm⸗ 
ten Eigenfdaften, nad) deren Abfonderung bie Materie, als das 
dann noch übrig Bleibende, von uns nothwendig hinzugedacht wird: 
denn fie iſt die objectivirte UrfächlichFeit ſelbſt. — Dem zufolge 

Die Welt als Wille und Vorftellung“, Bb. 2, Gap. 24, wo nachgeivler 
in abstracto bie objectiv aufgefaßte Gaufalität 









N 


Ä 


320 


ift nach Schopenhauer die Materie Dasjenige, wodurch der Wille, 
der das innere Weſen der Dinge ausmacht, in die Wahrnehmbarfeit 
tritt, anfchaulih, fihtbar wird. In diefem Sinne if alfo bie 
Materie die bloße Sichtbarkeit des Willens, oder das Band der 
Melt als Wille mit der Welt als Vorftelung. Diefer gehört fie 
an, fofern fle das Product der Sunctionen des Intellects ift, jener, 
fofern das in allen materiellen Wefen, d. i. Erſcheinungen, ſich 
Manifeftirende der Wille if. Daher iſt jedes Qbiect als Ding 
an ſich Wille, und als Erſcheinung Materie. Könnten wir eine 
gegebene Materie von allen ihr a priori zukommenden Eigenfchaften, 
d. 5. von allen Formen unferer Anfchauung und Apprehenfion ent 
fleiden, fo würden wir das Ding an ſich übrig behalten, nämlich 
Dasjenige, was mitteld jener Formen „ald das rein Empirifhe an 
der Materie auftrit. Eben diefed Ding an ſich, oder der Wille, 
tritt, indem es zur Erſcheinung wird, d. h. in die Formen unſers 
Intellects eingeht, ald die Materie auf, d. h. al8 der ſelbſt uns 
fiihtbare, aber nothwendig vorausgeſetzte Träger nur durch ihn fidhts 
barer Eigenfchaften. Alle beftimmte Eigenfchaft, alfo alles Empi⸗ 
rifche an der Materie, ſelbſt fchon die Schwere, beruht auf Dem, 
was nur mittels der Materie fihtbar wird, auf dem Dinge an 
fih, dem Willen *).“ 

Aus diefen Stellen fönnen Sie deutlich entnehmen, daß die Scho⸗ 
penhauer'ſche Philofophie ebenfo Realismus, wie Idealismus 
ift, ebenfo an dem Vorftellungsinhalt Das anerfennt, was vom 
Ding an fi herrührt, wie Das, was auf Rechnung des Sub; 
jects kommt. Nur die Grenzbeftimmung zwifchen Beiden ift 
bei ihin eine andere, als bei andern Philoſophen, indem er in Uebers 
einftimmung mit Kant Raum, Zeit-und Caufalität als apriorifche 
Erfenntnipformen nicht dem Dinge an fi), fondern der Vorftellung 
zufchreibt, ‘folglich auch die Vielheit, als durch Raum, Zeit und 
Caufalität bedingt, dem Ding an ſich abfprigt. Man dürfte ihn 
alfo, wenn fih wirklich mit Herbart nachweifen ließe, daß das 
Reale urfprünglih ein Vieles ift, höchftens darüber tadeln, daß 


*) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, II, 308 fg. Vergl. I, 139, und 
„PBarerga und Paralipomena‘”, S. 90, 91 und 141. 


Idealen nicht richtig gezogen, Indem er dem Ding an 
ſich zufommt, für bloße Erſcheinung oder Vorſtellung ausgibt; aber 
feineswegs ift der Erbmann’fche Tadel daß er die Kant ſche 
Philoſophie nur in einfeitig Richtung weiter gebildet 


Uebrigens, was die Schopenhauer'ſche Erflärung dev Vielheit, 
alfo der Individuation, für bloße Erſcheinung betrifft, fo erinnere 
ii, Sie nochmals daran, daß Crfheinung nach Schopenhauer nicht | 

AR mit Schein. Die Erfdeinung wird von ihm 
aur, wie von Platon, dem wahrhaft Seienden GGroc dv) ent- 
gegengefegt. Und ich denfe, das fann am Ende fogar Jeden, der 
nicht Philoſoph von Profeffion ift, die Erfahrung und das eigene 
Nacjvenfen über dieſelbe lehren, daß dem Einzelnen, Vielen, In— 
dividuellen, das er fortwährend entfiehen, ſich verändern und ver» 
gehen fieht, fein wahrhaftes Sein zufommt. Was Erdmann Scho— 
penhaner als „Haß gegen alle Vielheit und Individualität" aus- 
legt, ift vielmehr nur die in abftracte Begriffe der Neflerion über 
ſehte Erfahrung ober die Ausfage der Natur über die Flüchtigfeit 
und Nichtigkeit alles Einzelnen, Vielen, Indiviouellen. Eigentlich 
müßte Erdmann alfo die Natur des Haſſes gegen alles Diele, 
Einzelne, Individuelle beſchuldigenz denn fie ift es, die mit den Ins 
dividuen nach dem Grundfag verfähet: 

Alles, was entficht, 
IR werth, daS es zu Grunde geht, 

Ueberdies hat Erdmann bei jenem Vorwurf nicht bedacht, daß 
Schopenhauer das Individuum nicht durch und durd nur für bloße 
Erjjeinung erklärt, fondern ausdrücklich in jedem Einzelnen das 
ervige, ungerftörbare Wefen an ſich ganz gegenwärtig findet, daher 
auch Mitleid mit jedem individuellen fühlenden Wefen, gemäß ber 
Erfenntnig: „Das bift Du!“ als Duelle aller echten Tugend bin 
ſtellt und deshalb auch die Thiere nicht von der caritas ausgefchlof- 
fen wiffen will, Wenn Schopenhauer gegen die Befangenheit im 
prineipio individuationis als Duelle des Egoismus und der Bos⸗ 
beit, polemifirt, jo geht ja eben daraus hervor, daß er bie Individuen 


| 21 





322 


— — — 


nicht, wie der Egoiſt, für bloße Larven hält, ſondern denſelben rea⸗ 
Ien Kern in ihnen anerfennt, deffen Jeder ſich als des Innern Weſens 
feiner eigenen Individualität bewußt if. J. H. Fichte hat daher auch 
Schopenhauern gar nicht verftanden, wenn er gegen feine Ethif ein- 
wendet: „Eben aus dem Grunde eines angeborenen Mitleids iſt das 
principium individuationis feine Täufhung, wie Schopenhauer 
meint. Im Gegentheil wird durd das Wohlwollen das unmittel- 
bare Zeugniß von der Wahrheit der Individuation gegeben, aber 
auch von dem Aufgehen aller Individuen in ber höchſten Einheit 
eines fich ergänzenden Geiſtergeſchlechts.“ Schopenhauer hat ja das 
principium individuationis nur in dem Sinne für eine Täufchung, 
einen Wahn erklärt, dem zufolge es den feſt in feiner Individualität 
Befangenen dazu führt, nur in fi allein das Reale anzuerkennen, 
in den Andern aber es zu verkennen, was dann die Duelle aller 
Ungerechtigkeit, Lieblofigkeit, ja Bosheit wird. Daß aber in dieſem 
Sinne das principium individuationis eine Täufchung ſei, das wird 
hoffentlich auch Fichte nicht leugnen. 

Was die perhorreseirte antilosmifche Tendenz ber Schopen⸗ 
hauer'ſchen Philoſophie betrifft, ſo hat ſie dieſelbe mit dem echten 
Chriſtenthum gemein. „Nicht allein die Religionen des Orients,“ 
ſagt Schopenhauer mit Recht, „ſondern auch das wahre Chriſten⸗ 
thum bat durchaus jenen asketiſchen Grundcharakter, den meine Phi⸗ 
lofophie al8 Verneinung ded Willens zum Leben verbeutlicht; wenns 
gleich der Proteftantismus, zumal in feiner heutigen Geftalt, dies 
zu vertufchen fucht. Haben doch fogar die in neuefter Zeit aufge- 
tretenen offenen Feinde des Chriftenthums ihm die Lehren der Ent⸗ 
fagung, Selbftverleugnung, vollkommenen Keufchheit und überhaupt 
Mortification des Willens, welche fie ganz richtig mit dem Namen 
der «antifosmifhen Tendenz» bezeichnen, nachgewiefen, und 
bag folde dem urjprünglichen und echten Chriſtenthum weſentlich 
eigen find, gründlich dargethan *).“ 

Gegen die Foderung der gänzlichen Yufgebung des Willens 
zum Leben firäubt und erboft fich natürlich der die Welt liebende 








*) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, II, 612 fg., wo Sie Belege und 
Zeugniffe für die antifosmifche Tendenz des alten echten Chriſtenthums finden. 


nis befangen iſt, daß er mur im ſich Lebt und über feine eigenen 
Lebensgenüffe die zahllofen und entſehlichen Leiden der Mitlebenden 
vergißt, fondern im Mitgefühl das Wehe der ganzen Welt auf ſich 
häuft. Sie fehen alfo, daß es in ethiſcher Beziehung zuleht auf bie 
eigene Gefinnung und Lebenserfahrung ankommt, weldem 

enbämoniftifchen, 


fügen, daß das ethifche Syftem, dem man huldigt, der Probirftein - 
der eigenen Gefinnung ft. Ueberhaupt find ja gut und ſchlecht 
nur relative Präblcate. „Der Begriff gut ift weſentlich relativ und- 
bezeichnet die Ungemeffenheit eines Objects zu irgend einer 
beftimmten Beitrebung des Willens. Alſo Alles, was den 
Willen in irgend einer feiner Aeußerungen zufagt, feinen Zweck er⸗ 
füllt, das wird durch den Begriff gut gedacht, fo verſchieden es 
auch im Uebrigen fein mag. Darum fagen wir gutes Effen, gute 
Wege, gutes Wetter, gute Waffen, gute Vorbedeutung u. ſ. w., kurz, 
nennen Alles gut, was gerade fo ift, wie wir e8 wollen; daher auch 
dem Einen gut fein fann, was dem Andern gerade das Gegentheil 
davon iſt. Der Begriff des Gegentheils, alfo des Schlechten oder 
des Uebels, bezeichnet alles dem Streben des Willens nicht Zus 
fagende*),“ Hieraus geht aber hervor, daß Optimismus und Peſ- 
ſimismus nur relativ gültige Ausfagen über die Welt enthalten, 
me Zeugniß ablegen von der Willensrichtung des Optimiſten und 
BPeffimiften. Wen die Welt und das Leben befriedigt, der wird fie 
natürlich gut finden, folglich, in der Ethik dem Cudämonismus hul⸗ 
digen, dadurch aber nur Zeugnig von feiner weltlichen, das Leben 
fiebenden und bejahenden Gefinnung ablegen. Wer umgekehrt, fei 
es durch eigenes ſchweres Leiden (desrepoc mAodg) oder durch Mite 
gefühl mit fremden, die Bitterfeit des Lebens gefoftet hat, der wird 
biefe Welt und das Leben in ihr ſchlecht finden, folglich; in der Ethit 


*) „Die Welt als Wille und Vorftellung“, I, 406 fg. 


21* 





324 


der Refignation und Weltüberwindung zugethan fein. Damit alfo 
ein Ascet einem Eudämoniften fein ethiiches Syſtem beibrächte, dazu 
wäre nichts Geringeres erfoderlih, als daß er erft defien welt» und 
lebenbejahende Gefinnung in die entgegengefegte ummanbelte. Aber, 
wie Echopenhauer häufig fagt, Velle non discitur. Demgemäß ift 
es auch Fein Wunder, daß die Schopenhauer’jche, mit der echt chriſt⸗ 
lichen übereinfiimmende ascetifche Ethik in unferer materialiftifch und 
eudämoniftifch gefinnten, genußfüchtigen Zeit, überhaupt in der occi⸗ 
dentalifchen, genußfüchtigen Welt fo wenig Anklang findet. 

In Anerfennung des Velle non discitur hat fi Schopenhauer 
auch gehütet, feiner Ethik die Form des Fategorifchen Imperatios zu 
geben, und es etwa als oberften ethifchen Grundſatz hinzuſtellen: 
Du foltft den- Willen zum Leben verneinen! Vielmehr fpridht er 
ih in feiner Kritif der „Kant'ſchen Moralphilofophie” *) aufs ent 
fhiedenfte gegen das abjolute Sollen aus. Nach Schopenhauer 

!fann die bloße Ethif fo wenig einen Heiligen machen, als bie 
| Appetit ein Genie. Demgemäß hat er es zwar im vierten Bud) 
der Schrift: „Die Welt ald Wille und Vorftellung‘‘, übernommen, 
die beiden entgegengefesten ethiichen Standpunfte der Bejahung 
und der Berneinung des Willens zum Leben, auf deren erfierm 
die Erfenntniß der Erfcheinung als Motiv, auf dem legtern bie 
Erfenntniß des Weſens der Welt ald Duietiv des Willens wirkt, 
— darzuftellen, aber hat fi) gehütet, die DVerneinung des Wil« 
lens in Form des Sollend oder bed Gebotes vorzufchreiben. 
„Beide darzuftellen und zur deutlichen Erfenntniß der Vernunft zu 
bringen, fann allein mein Zwed fein, nicht uber die eine oder bie 
andere vorzufchreiben oder anzuempfehlen, weldes fo thöricht ale 
zwecklos wäre, da der Wille an ſich der fchlechthin frei ſich ganz 
allein felbft beftimmende ift und es fein Geſetz für ihn gibt **).” 

Es Heißt alſo Die Schopenhauer'ſche Ethik falſch auffafien, wenn 
man ihr vorwirft, daß ſie die Verneinung des Willens fodere. 

| Vielmehr, ſowie die Schopenhauer'ſche Aſthetik von Keinem fodert, 


*) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, I, im Anhang, ©. 586, und in 
der — — „Ueber das Fundament der Moral”, $. 4. 
**) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, I, 321. 


echten, aus Mitleid entfpringenden Wohlwollen und Wohlthun Fund- 

„und die thatfächliche Weltüberwindung, wie fie in den echten 
alfer Zeiten zur Etſcheinung gefommen, fo lange, füge 
dieſe Thatfachen nicht umzuftoßen vermag, fo lange wird 


‚aber die Thatfahen anzuerkennen genöthigt, fo kann man als Philofoph 
nicht bei X ftehen bleiben, fondern muß fie zu deuten und zu erflären 
verſuchen und dies hat Schopenhauer in feiner Ethik gethan. Daß 
er ſelbſt dabei die Partei der antifosmifchen weltverneinenden Tendenz 
ergriffen und die Bejahung des Willens zum Leben für einen Wahn, 
eine Verirrung, ja eine Schuld, die durch das Leben mud feine 
Dualen abgebüßt werden muß, bie Verneinung dagegen als ben 
einzigen Weg zur Erlöfung erflärt hat, — das iſt bei ihm nicht, 
wie Fichte ihm vorwirft, aus Hypochondrie und ethifcher Verbildung 
fondern aus der Haren, befonnenen Erfenntniß, daß 

im Wollen feine finale Befriedigung zu finden ift, alfo das Nicht⸗ 
wollen, die Nefignation, der Ouietismus, vorzuziehen ſei. Schon 
am Schluß des zweiten Buches der Schrift „Die Welt als Wille 
und Borftellung“ Hat Schopenhauer gezeigt, daß „Abwefenheit alles 
Ziels, aller Grenzen, zum Wefen des Willens an ſich, der ein end⸗ 
loſes Streben iſt“ gehöre. „Der Wille weiß zwar, wo ihn Er 
N was er jet, was er hier will, nie aber 











326 
Beftrebungen und Wünfchen, welche ihre Erfüllung immer als letztes 
Ziel des Wollens uns vorgaufeln; fobald fie aber erreicht ind, ſich 
nicht mehr ähnlich fehen und bald vergeflen, antiquirt und eigentlich 
immer, wenngleich nicht eingeftändlich, als verichwundene Tänu- 
fhungen bei Seite gelegt werben; „glüdlich genug, wenn noch etwas 
zu wiünfchen und zu freben übrig blieb, damit das Spiel des fteten 
Ueberganges vom Wunfch zur Befriedigung und von dieſer zum 
neuen Wunfch, defien rafcher Gang Glüd, der langfame Leiden beißt, 
unterhalten werde und nicht in jenes Stoden gerathe, das fich ald 
furchtbare, lebenserftarrende Langeweile, mattes Sehnen ohne bes 
flimmtes Object, ertöbtender languor zeigt ).“ 

Im vierten Buch fodann, alfo in der Ethik, kommt Schopen« 
bauer von diefem die Unmöglichkeit einer finalen Befriedigung des 
Willens erfennenden Standpunft aus zu dem Refultate, daß es, um 
von ber ſtets fich erneuernden Siſyphus⸗Qual des Wollens erlöft zu 
werden, fein anderes Mittel gebe, als die gänzliche freiwillige Auf⸗ 
hebung des Willens, alfo das Nichtwollen. Ein abfolutes Gut 
gibt es daher nad) Schopenhauer, fo lange man im Wollen behartt, 
nicht. „Hoͤchſtes Gut, summum bonum, bedeutet nämlich eigentlich 
eine finale Befriedigung des Willens, nach welcher Fein neues Wollen 
einträte, ein letztes Motiv, deſſen Erreihung ein unzerftörbares Ges 
nügen des Willens gäbe. Nach unjerer biöherigen Betrachtung iR. 
dergleichen nicht denkbar. Der Wille fann jo wenig durch irgend 
eine Vefrichigung aufhören, fletd wieder von neuem zu wollen, ale 
die Zeit enden oder anfangen fann; eine dauernde, ſein Streben 
vollſtaͤndig und für immer befriedigende Grfülung gibt es für ihn 
nie. Gr iſt Dad Faß der Tanaiten: cd gibs fein höchſtes Gut, 
fein abſelutes ut für ibn; ſondern ſtetä nur cin cinülmeiliges. 
Wenn ci intwiien belicht, um einem alten Nudtruf. den man une 
wchadkit nicht ganz abſchaffen möchte. alädvız ziä emeritus, 
cin Shrrmamı zu geden, je may man, monkät Nor ent bildlich, 
Ne ganztiche Scidkanftetang mat Verraaxxxz NE Allrad, Die 
wahre Wrleadlergkar, ala wilde alaz Nr Nidomätrang für 


— — — 


du Ri Ri Ada I Du ra I Ben, 
ider tor smhziihiuu care Aneieam Arrkatüpit, 


wieder geftört werben Fann, allein welterföfend ift, — das abfofute 
Gut, das summum bonum nennen, und fie anfehn als das einzige 
rabicale Heilmittel der Krankheit, gegen welde alle andern Güter, 
nämlich alle erfüllten Wünfche, und alles erlangte Glüd, nur Palliaz 
tiomittel, nur Anodyna find. In diefem Sinne entſpricht das griechiſche 
=2%og, wie aud) finis bonorum, der Sache fogar noch beffer *)." 
‚Sie fehen alfo, wie die Schopenhauer ſche Sympathie für den 
Quietismus keineswegs aus einer blos fubjectiven Verſtimmung, 
einer Art von Lebensmüdigkeit oder Lebensüberdruß entfpringt, ſon— 
dern aus der obfectiven Grfenntniß vom Wefen des Willens und 
namentlich des Willens zum Leben, wie er ſich auf der höchſten 
Stufe feiner Erſcheinung, innerhalb der menſchlichen Gattung, äufert; 
Leſen Sie die Gapitel: „Charafteriftif des Willens zum Leben“ und 


Sie bie der Schopenhauer ſchen Behauptung, 
daß das Nichtwollen dem Wollen, das Nichtfein dem Dafein vorzw 
siehen fei, haben. 


Freilich) aber vermag der Wille der Erkenntniß nicht zu folgen. 
Die Harfte und deutlichfte objective Anfhauung vom Weſen des 
Lebens mag immerhin die Nichtigfeit und das Elend deſſelben in ven 
berebteften Zügen zu erfennen geben, der Wille, als ein urſprünglich 
Drang, wird darum doch fortfahren, das Leben zu lieben 
bejahen, das Nichtwollen Dagegen zu perhorreseiren. Sie 
alfo die Ausfagen des Willens über das Leben wohl zu 
von denen der objectiven willenlofen Erfenntniß. Was 
darum ber Wille noch nicht auf zu bejahen; 
dem das Leben bejahenden Willen die von der Er— 
BVerneinung nicht zu Sinne ift. Schopenhauer 
wieſpalt zwiſchen Willen und Erfenntniß in dem Gapltel 
den d fein Verhältniß zur Ungerftörbarfeit unfers 
an ſich“ erläutert, indem er gezeigt, wie die in der Todes⸗ 
Welt 


— 


A 
E 


u 


als Wille und Vorſtellung“, I, 408 fg. 
als Wille und — * 2, Gap. 28 u. 46, ſowle 
Paralipomena“, Do. 2, Cap. 11 


su 
zei 
J 





325 
fwrdgt bersorizetende gremgenleie Anbänslichleit and Lehen nicht ans 
der Grfennnig und lcherlegung entipringi, iondern aus blinbem 
Lcbensorange. „Bor ber Erfenutuig ericheint ſie vielmehr thöricht, 
ba es um ben objeciven Werth bed Lebens ſehr mislich ſteht, 
und wenigſtens zweifelhaft bleibt, ob daſſelbe dem Nichtſein vor: 
zuziehen fei, ja, wenn Griahrung und Ueberlegung zum Worte 
fommen, das NRichtiein wol gewinnen muß. Klopfte man an bie 
Gräber und fragte die Todten, ob fie wieder aufſtehen wollten, fie 
würden mit den Köpfen fcpütteln ).“ 

So wie bier, in Bezug auf den Tod, der Wille perhorrescit, 
was die Erkenntnis preift, fo auch in Beziehung auf die mora 
liche, freiwillige Selbftverleugnung, Refignation, Weltüberwinbung, 
wie fie in den Heiligen fi fundgibt. Die reine, objective, unbe 
fangene Erfenntniß muß diefen Zuftand der gänzlichen Gelaffenheit 
und Willenslofigfeit glüdlih preifen und dem des unabläffigen 
grimmigen Willensdranges mit feiner Siſyphusqual bei weitem vor 
giehen. Aber der Wille, als blinder Drang, fträubt fi) natürlich gegen 
feine Quiedcirung, und aus dieſem Sträuben des Willens daher haben 
Sie es im lebten Grunde zu erklären, wenn bie antikosmiſche Ethif 
bes echten Chriſtenthums und die mit ihr übereinftimmende Schopen- 
hauer'ſche fo wenig Anklang findet. Mit weit größerm Rechte könnte 
man alfo das Nichtanerfennen diefer Ethif den Herren ins Ges 
: willen fchleben, ald fte die Anpreifung verfelben dem Schopenhauer 
gern ind Gewiſſen fehieben möchten. 

Fine rühmliche Ausnahme unter den Zeitgenofien macht durch 
Anerkennung der Echopenhauer'fhen Ethif Fortlage. Dieſer fieht in 
ihr keineswegs wie Fichte „eine tief complicirte ethiſche Verbildung“, 
fondern befennt fich ſelbſt aufrichtig zum ascetijhen Etandpunft. In 
jeiner Schrift „Genetiſche Geſchichte der Philoſophie feit Kant“ fommt er 
in dem höchit deachtenswerthen, den Eudaͤmonismus als tie ſchadhafte 
Seite des modernen Socialismus nachweiſenden Gapitel „Ueber das 
Verdaältniß der Rhilefopbic zum Socialismus“ u dem Schluß: 
„Nicht cher iſt an eine Verbreitung des wahren Socialismus auf 
Erden zu denken, als dis entweder Herrenbut phileienhirt, oder 


„Die Melt ale Wille and Norielung”. TI. 65. 


gemäßen Streben unfers modiſchen Vernunftfanatismus ein wenig 
anftöpig, Hat aber doch auch wieder mit gewiſſen Heiligthümern, 
welche anzutaften nicht wol gerathen ift, einen fo neuen, engen und 
fatalen Zufammenhang, daß man hier wol unwillfürlih an den 
alten Schelling ſchen Waidfpruch zurücerinnert wird: «Nühre nicht, 
Bod, denn es brennt!» Schopenhauer befennt ſich öffentlich Peffimift 
zu fein. Mancher iſt geneigt, fi) von einem ſolchen Menſchen nichts 
Gutes zu verfehen. Jedoch hat Schopenhauer dafür die Ehre, Ge— 
noffen feiner Weltanficht zu haben (nad) Tacitus' Bericht, „Annal., 
XV, 44) am jenen frühen chriſtlichen Märtyrern, welde im I. 65 
in den Gärten des Nero theils als luſtige Fadeln angezündet, theils 
auf jonftige Art vom Leben zum Tode gebracht wurden, weil fle 
haud perinde in erimine incendii, quam odio humani generis 
convieti sunt. Auch diefe alſo waren Peffimiften, Die Armen 
wußten vermuthlich noch nicht die an fie gefchehene Predigt, daß die 
Welt im Argen liege, ſich fo-fein auszulegen, wie wir Söhne fort- 
gefrittener Jahrhunderte dies zu thun gewohnt find. Aber wenn 
auch Peffimift, es ift eim guter und ehrlicher Geift, welcher aus 
Schopenhauer fpricht. Wer fo fchreibt, wie er, der iſt nicht gefonnen, 
weber fih zu befügen, noch Andere. Das radicale Böfe ift aber 
immer nur der Lügengeift.” Bortlage fagt alsdann im weitern Vers 
laufe feiner Beurtheilung der Schopenhauerihen Ethik, daß ung 
zwar „zum eigenen Gebrauche in der Negel diejenigen Philoſopheme 
die liebften find, welche das Herz in feiner behaglichen Ruhe nicht 
flören und gegen einen gewiffen zum ftillen Einverftändnig gewors 
denen optimiftifchen Schlendrian der Glüclichen und Derer, welde 
es ſcheinen wollen, nicht verftoßen. Aber was hilfts? Die Zeit 
drängt, die Wahrheit pocht an die Pforte, und wo fid Wahrheit 


Eiteraturgeitung“, 1845, Nr. 146 fd. 





330 


meldet, zittert dad Herz und redet feine immer etwas unerbörte 
Sprade. Eine ans Gewiſſen redende Wahrheit it wol heute auch 
diefer Peſſimismus Schopenhauer’d zu nennen, weldher, wohl zu 
merfen! ebenfo wie der Pelfimismus jener frühen Märtyrer, nicht 
ein folder ift in Beziehung auf die ganze Weltordnung, die nad) 
Schopenhauer im Gegentheil ewige Gerechtigkeit und folglich opti- 
miſtiſch ift, jondern in Beziehung auf dieſe fleifcherne und beinerne 
Eriftenz, welcher unfere Modephiloſophen mit einer fo entzüdten Ber- 
liebtheit anhängen, daß man glauben follte, fie jeien allefammt erf 
geftern einer harten Klofterzucht entlaufen und fängen heut zum 
erfien mal: Laß mich der neuen Sreiheit genießen, laß mich ein Kind 
fein u. f. w.” Treffend fagt Kortlage, daß Schopenhauer’s Eihit 
das Gute babe „zu wirken wie nad Schelling der Satan wirkt, 
nämlich das Unentſchiedene zur Entfcheidung treibend, und den Lefer 
felbft, dem dies früher noch im Unflaren lag, zum Entfchlug und 
zur entfcheidenden Erkenntniß drängend, weß Geiftes Kind er fel”. 
Fortlage nennt die ethiſchen Saͤtze Schopenhauer’ „lauter alke, 
wohlbefannte und beim größten Theile des Menfchengefchlechts immer 
in Achtung geftandene Säge, die nur gerade jet, wo zufällig bie 
flaue Oberflächlichkeit einer an nicht mehr recht geglaubten Dogmen 
fefthbangenden ariftofratifchen Geſellſchaft fich von ihnen zum wenigfen 
für den gefelfchaftlihen Verkehr mehr und mehr entfernt hat, parabor 
Flingen, ohne dies an und für fi) im mindeften zu fein‘ 


— — — — — — — — —* 





332 

Darum hätten Sie fi) auch durch die Schopenhauerfche Ethif 
tief befhämt und gedemüthigt gefühlt. Yortlage hätte ganz Recht, 
daß die Schopenhauerffhe Ethik und zur Erfenntniß bringe, weß 
Geiftes Kinder wir feien. Aber Sie tröfteten fi über ihren Mangel 
an guten Werfen mit dem Glauben. Der Glaube, fagen Si, 
fei e8 ja auch nad dem Chriſtenthum, der und felig macht und 
nicht die Werfe. Im Glauben nun feien Sie gegen die Emancipa- 
tion des Sleifches, doc in den Werfen für diefelbe, und Sie müßten 
fi) daher mit dem Apoftel Paulus anflagen: „Ich weiß, daß in 
mir, das ift in meinem Fleiſch, wohnet nichts Gutes. Wollen habe 
ich wohl, aber Vollbringen des Guten finde ich nicht. Denn das Gute, 
das ich will, das thue ich nicht; fondern das Böfe, das ich nicht 
will, das thue ih. So ich aber (tröften Sie fih) thue, was Ich 
nicht will, fo thue Ich daffelbige nicht, fondern die Sünde, die in 
mir wohnet.“ (Röm. 7, 18—20.) 

Richt fo anerkennend jedoch, als in ethifcher Beziehung, find 
Sie in logifcher Hinficdht gegen Schopenhauer. So fehr bereit 
Sie aud mit Schopenhauer find, das fündhafte Dichten und Trach—⸗ 
ten des Willens zum Leben einzugeftchen, fo wenig findet doch 
Ihre Vernunft in Schopenhauer's Säten durchgängige Befries 
digung; denn Sie wollen Einiged was unlogiſch, d. b. den ver 
nünftigen Denfgefegen nicht gemäß ifl, in ihnen gefunden haben und 
meinen, es fei dies wol auf Rechnung der Genialität Schopen- 
hauer's zu fegen; denn die großen Genies ſundigten gewöhnlich etwas 
gegen die Logik. 

Sie geben zwar gern zu, daß Schopenhauer's Syſtem die drei 
größten Wahrheiten der drei größten Philoſophen, die vor ihm exiſtirt 
haben, nämlich) des Platon, Spinoza und Kant, in fid) vereinige. 
Bon Spinoga habe Schopenhauer das Ev xai ray, bie Einheit 
und Spentität des Weltwefens, nur daß er ſich hüte, dieſes 
optimiftifch Gott zu nennen. Bon Platon habe er die Ideen 
als die bleibenden Objectivationdftufen des einigen und ewigen 
Weſens. Endlich von Kant habe er, ald das in den been 
und wmitteld dieſer in den zahllofen Individuen zur Erfcheinung 
fommende Wefen oder Ding an fih, den Willen, nur dag Kant 
biefed noch nicht fo beſtimmt und entſchieden ausgeiprochen, 
Schopenhauer. 





ne 


334 


jeder Zeile bei Schopenhauer, ſo wie durch die mir von Demſelben 
in mündlichem und ſchriftlichem Verkehr zu Theil gewordenen Erflä- 
rungen und Erörterungen habe ich die Leberzeugung gewonnen, daß 
der Orundgedanfe der Schopenhauer'hen Philofophie an Teinem 
Widerſpruch laborirt, wie Fortlage und wie Sie glauben. Demn 
Schopenhauer erklärt zwar den Willen für Das Wefen an fi 
unferer Er [deinungewelt, "aber diefe unfere Welt ift ihm nicht 
vie einig mögliche, alles Sein erfhöpfende. Er fagt ausprüdlid: 
Auch nad diefem legten und äußerſten Echritt (nämlich der Zurück⸗ 
führung der ganzen Erſcheinungswelt auf den Willen) läßt ſich noch 
die Frage aufwerfen, was denn jener Wille, der fih in der Welt 
und ald die Welt darftellt, zulegt ſchlechthin an ſich ſelbſt ſei? d. h. 
was er fer, ganz abgefehen davon, daß er fi als Wille darftellt, 
oder überhaupt erfcheint, d. h. überhaupt erfannt. wird.” — 
„Diefe Frage“, fährt Schepenhauer fort, „it Rie zu beantworten: weil, 
wie gefagt, das Erfanntwerden ſelbſt ſchon dem Anfichfein wider 
fpricht und jedes Erkannte ſchon ald ſolches nur Erfheinung if. 
Aber die Möglichfeit diefer Yrage zeigt an, daß das Ding an fid, 
welches wir am unmittelbarften im Willen erfennen, ganz außerhalb 
aller möglichen Erfcheinung, Beftimmungen, Eigenfchaften, Daſeins— 
weifen haben mag, welche für uns fihledthin unerfennbar und uns 
faßlich find, und welche eben dann als das Wefen des Dinges an 
ſich übrig bleiben, wenn ſich diefes, wie im vierten Buche dargelegt 
wird, nis Wi Ile frei aufgehoben hat, daher ganz aus der Erſchei⸗ 
nung herausgetreten und für unfere Erfenntniß, d. h. hinſichtlich der 
Welt der Erfcheinungen, ins leere Nichts übergegangen if. Wäre 
ber Wille das Ding an fi fchlehthin und abfolut, fo wäre auch 
diefes Nichts ein abfolutes; ftatt daß es fich eben dort*) une 
ausdrüdlih nur als ein relatives ergibt **).“ 

Sie fehen alfo, daß Schopenhauer den Willen nur relativ, 
d. h. nur in Beziehung auf diefe unfere, in Raum und Zeit 
fih an&breitende und dem Caufalnerus unterworfene Erfheinungss 
welt für dad Ding an fidy erflärt, daß mithin mit der Aufhebung 
diefes relativen Weſens der Welt nicht alles Sein überhaupt, 


*) „Die Welt als Wille und Borftelluug‘, Br. 1, $. 71. 
»*) „Die Welt als Wille und BVorftellung‘, II, 201 fg. 





336 


ed a priori einzufehen, vulgo verfteht ed ſich von ſelbſt, dag Das, 
was jest das Phänomen ber Welt hervorbringt, auch fähig fein 
müffe, dieſes nicht zu thun, mithin in Ruhe zu verbleiben, — ober 
mit andern Worten, daß es zur gegenwärtigen dtactoin auch eine 
svoroAn geben müfle. Iſt nun die Erftere die Erfcheinung des 
Wollens des Lebens, fo wird die andere die Erfcheinung des Nicht 
wollens defjelben fein. Auch wird diefe, im Wefentlichen, daſſelbe 
fein mit dem magnum Sakhephat der Vedalehre (in «Oupnekhats, 
I, 163) auch mit dem Ednexewa der Neuplatonifer *)." 
Aus allem Diefen wird Ihnen der Sinn, in welchem Schopen- 
: bauer den Willen das Ding an fi nennt und dennoch von ber 
Mögligfeit feiner Aufhebung fpricht, zur Genüge hervorgehen. Der 
Wille ift nur relativ, d. h. in Beziehung auf feine Erfheinung, 
das Ding an fih. Dem Wollen ſteht aber die Möglichkeit bes 
Nichtwollend gegenüber; ja das Nichtwollen fommt im Quietismus 
der Heiligen thatfächlich zur Erfcheinung. Folglich implicirt die Auf 
hebung des Willens feinen Widerfpruch in fi. Ich habe Sie früher 
wiederholt darauf aufmerffam gemadt, daß die Schopenhauer’fche 
| Bhitefonfi immanent ift, d. b. daß fie nicht über die Erflärung 
des Was der vorliegenden Erfahrungswelt hinausgeht. Aber hier 
aus folgt nicht, daß fie das immanente Weſen diefer Welt für das 
abfolute, ale Möglichkeit des Seins erfchöpfende Hält. „Meine 
Bhilofophie”, fagt Schopenhauer ausdrücklich, „maßt fi) nicht an, 
das Dafein der Welt aus feinen legten Gründen zu erflären, viels 
mehr bleibt fie bei dem Thatfächlichen der äußern und innern Er 
jahrung, wie fie Jedem zugänglich find, flehen, und weift den wahren 
und tiefiten Zufammenhang derfelben nad, ohne jedoch eigentlich 
darüber hinauszugehen, zu irgend außerweltlichen Dingen und deren 
Berhältniffen zur Welt. Eben deshalb aber läßt fie noch viele 
Fragen übrig, nämlich warum das thatfächlic Nachgewiefene fo und 
nicht anders fei, u. f. w. Allein alle foldhe Sragen oder vielmehr 
die Antworten darauf find eigentlich transcendent, d. h. fie laſſen 
fi) mittel8 der Formen und Functionen unfers Intellects nicht dens 
‚fen, gehen in diefe nicht ein: er verhält fi) zu ihnen wie unfere 
| Sinnlichkeit zu etwaigen Eigenfchaften | ber. Körper, für bie wir feine 


f 
| *) „Barerga und Paralipomena”, Bd. 2, $. 161. 





—— . 


338 

Willens, fteht feinem Forſchen offen; weil die Erfenntnig ſelbſt nım 
Phänomen ift, daher nur in der Welt ftattfindet, wie die Welt (ale 
Borftellung) nur in ihr. Das Innere Mefen an fi der Dinge if 
ein erfennendes, fein Intellect, fondern ein erkenntnißloſes; die Ev 
fenntnig kommt erft als ein Accidenz, als ein Hülfsmittel der Erw 
fcheinung jened Weſens, hinzu, kann daher es felbft nur nach Maß 
gabe ihrer eigenen, auf ganz andere Zwede (die des individuellen 
Willens) berechneten Beichaffenheit, mithin fehr unvollfommen in 
fi) aufnehmen. Hieran liegt e6, daß vom Dafein, Weſen und 
Urfprung der Welt ein vollftändiges, bis auf den legten Grund 
gehendes und jeder Anfoderung genügendes Verſtaͤndniß unmoͤg⸗ 
lich iſt .“ 

Hiermit werden Sie, hoffe ich, über Ihr erſtes Bedenken be⸗ 
ruhigt fein. Was nun Ihr zweites Bedenken betrifft, ſo ſagen Sie: 
Nach Schopenhauer müßte conſequenter Weiſe Ein Heiliger die 
ganze Welt aufheben koͤnnen; denn, da dem Willen nach Schopen⸗ 
hauer metaphyſiſche Einheit und Untheilbarkeit zukomme, weshalb er 
auch annehme, daß mit der Verneinung des Willens im Menſchen⸗ 
gefchlecht (durch Enthaltung von der Geſchlechtsbefriedigung) auch 
der Wille in der ganzen übrigen Natur wegfallen würde; fo müßte 
er confequenter Weiſe auch annehmen, daß Ein Heiliger fähig fe, 
die ganze Welt vom Wollen zu erlöjen. Entweder alfo fei ed nur 
Schein, daß in den Heiligen wirklich der Wille fit aufhebt, ober 
ed komme dem Willen nicht jene Einheit und Untheilbarfeit zu, bie 
Schopenhauer von ihm prädicirt. Sei Das, was in der Natur ale 
Schwere Magnetismus, Eleftricität u. |. w., überhaupt als blinder 
Drang, ale zwedlofes Streben wirkt, ganz daflelbe mit Dem, was 
im Menſchen als Wille zum Leben auf bewußte und zwedmäßige 
Weiſe fih außert, jet ferner die Vielheit der Individuation nur 
Zäufchung, das wahre Weſen an fich hingegen in Allen nur Eines; 
fo müfje die Selbftaufhebung dieſes Weſens in Einem zur Folge 
haben, daß es gleichzeitig in Allen ſich aufhebt. Mit dem Eintritt 
des Nichtwollend in Einem Individuo müßte folglich auch das 
Richtwollen in allen übrigen, und mit dem Nichtwollen in der 
Menfchheit überhaupt auch das Nichtwollen in der Natur eintreten. 





*) „Die Welt ale Wille und Borflellung”, II, 634—36. 





an fi) zufommt. „Hier äußert fich die wahre Freiheit bes Willens, 
die ihm zufommt, fofern er das Ding an fidh ift, welches aber eben 
als folches grundlos iſt, d. 5. fein Warum fennt *).” Aber eben 
gegen diefe Freiheit ift Ihre dritte Einwendung gerichtet. Sie fagen 
nämlich: Wir können uns nichts denfen, ohne e8 ald ein qualitativ 
Beitimmtes, ein Was, ein rt, zu denken. Schopenhauer mache da⸗ 
gegen den Willen dadurch, daß er ihn ald Das bezeichnet, was bie 
Freiheit hat, fich zu bejahen. oder zu verneinen, zu einem völlig Uns 
beftimmten, einer tabula rasa, aus der erſt, durch eine völlig grund» 
loſe Entfcheivung, eine der beiden entgegengejehten Beftimmtheiten 
bervorgehe. So wenig aber aus Nichts Etwas werden kann, fo 
wenig könne aus einem an fich völlig Leeren und Unbeſtimmten 
etwas Entſchiedenes und Beftimmtes herausfommen. Wir jeien 
daher immer genöthigt, ein urjprüngliched Quale anzunehmen, und 
da biefed Quale feiner Natur gemäß wirken müffe, fo fei jene abfo- 
lute Breiheit und unbefchränkte Allmacht, die Schopenhauer dem 
Willen ald Ding an fich zufchreibt, und berzufolge er den em- 
pirifhen Charafter eines Menſchen als Werk feiner metaphyfifchen 
Freiheit betrachtet, völlig undenkbar. Die Philofophie dürfe aber 
vor allen Dingen Keinem, etwas Undenkbares zu denken, auferlegen. 
68 habe, fagen Sie, Sie fehr befriedigt, daß Schopenhauer den 
menfchlihen Charakter nicht anderd als wie jede andere beftimmte 
Naturkraft auffaffe, ihm daher im Wefentlichen Unveränderlichkeit 
und feinen Wirkungen oder Actionen gleich ſtrenge Nothwendig— 
feit, wie den Naturwirfungen, zufchreibe. Dieje Gleichſetzung des 
Menfchen mit der ganzen übrigen Natur babe Sie ſehr augeſprochen. 
Aber die zulegt behauptete Freiheit des Willens, derzufolge derfelbe 
an feinen Charakter nicht gebunden fei, fondern diefen auch wieder 
fahren laffen könne, habe jene Ihre Befriedigung wieder zu Schanden 
gemacht. Sie feien nun in den Wiverfprudy verjegt, dem Willen 
einerſeits als einer Naturkraft urfprünglich qualitative Beftimmts 
heit zuzufchreiben und doc ihn wiederum, wegen der präbdicirten 
Sreiheit, als urfprünglih leer und unbeftimmt aufzufaffen. 
Schopenhauer leugne zwar das liberum. arbitrium indifferentiae 
in den Handlungen, im operari, weil der Charafter, wie er ein 


— —— — — — — — 


N a. a. O. 





342 

fein koͤnne, fondern noch eine andere Drbnung der Dinge möglid 
fein _müffe, die und zwar, weil wir nur bie und befannte Ordnung 
ber vorliegenden Welt zu denken gewöhnt find, als ein Nichts 
erſcheine; die aber Fein abfolutes, fondern nur_ein relatives Nichts 
fei. Alfo Ihre Foderung, daß jedes Seiende ein xt fein müfle, iR 
gerettet. Denn auch nach der Verneinung des Willens zum Leben 
bleibt ein TC übrig, wenngleich ein ganz anderartiged, al8 das «il 
diefer Welt. Sodann, was Ihre Beichuldigung betrifft, daß es einen 
MWiderfpruch begehen heiße, einerfeits (wie Schopenhauer in ber 
Schrift „Ueber die vierfahe Wurzel des Satzes vom zureichenden 
Grunde” thut), das Geſetz der Motivation als ein ausnahme> 
loſes binzuftellen und doch andererfeits den Willen in feiner ur 
fprünglichen Entſcheidung davon auszunehmen und ibm die Kähigfeit 
einer grundlofen Entfheidung, fei ed zu Bejahung oder Ber 
meinung, zuzufchreiben: fo erledigt fidy diefer Vorwurf dadurch, Daß 
nad) Schopenhauer das Geſetz der Motivation, überhaupt der Sap 
* Grunde, nur für alle Erſcheinungen von ausnahmsloſer 
Gültigkeit it, das Ding an fi) aber gänzlich davon unberührt 
bleibt. Uebrigens, wenn Sie näher zufehen, werden Sie finden, 
dag aud die Verneinung des Willens zum Leben nicht eine durch⸗ 
aus grundlofe ift; denn die das principium individuationis durch- 
fhauende, dad Weſen des Lebens im Ganzen intuitiv auffaflende 
Erfenntniß, oder eigenes ſchweres Leiden (devrepog mioüg) ift ja bei 
Echopenhauer der Grund, aus welchem die Berneinung des Willend 
zum Leben als Folge entfpringt. So wie das Yortfahren in ber 
Bejahbung des Willens zum Leben feine guten, oder vielmehr 
fhlechten, weil auf einem Wahn, auf falicher Erfenntnig beruhenden 
Gründe hat, fo bat aud) der Eintritt der Verneinung des Willens 
zum Leben feinen guten Grund, entipringt aus der Durchſchauung 

jenes Wahnes oder aus fehmerzlicher Lebenserfahrung. 
Schopenhauer hat auch felbft den ihm von Ihnen gemachten 
Vorwurf des Widerſpruchs zwifchen dem Gefeg der Motivation 
und ber zuletzt behaupteten Freiheit des Willens vorhergefehen und 
hat ihm daher von felbit vorgebeugt, inden er gezeigt, daß das Keſet 
der Motivation nur für die Beiahung.bes_Millens Gültigkeit Hat, 
die Berneinung des Willens hingegen, ald Freiheit vom Wollen, 
auch die Freiheit von den Motiven des Willens in fich fchließe. 





388 


Nothwendigkeit der Berkımmung ded Willens Tuch tie Motive nach 
Maßgabe Ted Charakters, einerteit®, und ren der Möoglichkeit ver 
gänzlihen Aufbebung des Willens, wedurch tie Metive machtlos 
werten, undererfeit®, zur tie Wieterkelung in ter Reflerion ber 
Philoſophie. Ter Schlümel zur Vereinigung tiefer Widerſprüche 
liege aber barin, daß der Zuſtand, ım welchem ter Charakter der 
Macht ver Motive entzeger tt, nicht unmittelbar vom Willen au 
gebt, ſondern ren einer veränterten Erkenntnißweiſe. So lange 
nämlich tie Erfenntnig feine andere, als tie im principio indivi- 
duationis befangene ift, in auch die Gewalt der Motive unwider⸗ 
ftehlich: wenn aber das primwipium individuationis durchſchant, die 
Ideen, ja Dad Weſen un ſich ter Tinge, als ter gleihe Wille in 
Allem, unmittelbar erfannt wirt, und ınd Tieter Erkenntniß ein allge 
meined Ouietiv Ted Wollens berrergebt, Tann werden die einzelnen 
Motive unwirfium, weil die ibnen enrirreihente Erkenntnißpweiſe, 
durch eine gunz andere verdunkelt, zurüdgetreten it. Daher fam 
der Charakter füh nimmermehr tbeilmweite intern, jendern muß, mit‘ 
der Conſequenz eined Rarurgeieged, im Einzelnen ten Willen and 
führen, verten Ericheinung er im Ganzen it, uber eben dieſes Ganze, 
ter Charakter jelbit, kann vollig aufgebeben werten, durch Die ange 
gebene Veränderung ver Erfennmig. Dieſe seine Aufbebung if chen 
Tasjenige, was in der chriftlichen Kirche, ſebr rreitend, Die Wieder⸗ 
geburt, und die Erkenntniß, aus Der ſie hervorgeht, Das, was die 
natenwirfung genannt wurte. — Notbwendigkeit if das 
Keih der Natur, Areiheit ik das Reich Der Gnade *),“ 

Hiermit glaube ich, verehrter Freund, alle Ihre Scrupel bejeitigt 
zu haben. Ih empfehle Ihnen nun nochmals fleigiged Studium 
der ſämmtlichen Werke Schopenhauer’ an; dann werten Sie finden, 
wie bei ihm Alles Eappt, d. h. wie jih alle Wahrheiten 
einander gegenjeitig zu einer großartigen, harmoniſchen 
Ginheit ergänzen. 


*) „Die Welt als Wille und Vorſtellung“, Br. 1, 6. 70. 








Drud von Z. A. Brodbaus in Leipzig. 


Drudfebler. 


Seite vu Zeile 2 von oben flatt „Deutfchen‘ lies „deutichen “ 
5 von unten flatt „Philoſophie“ lies „Entwickelung der deutfchen 


xx 


» 


2». 
12 v. 
14 v. 


3 v. 
9 v. 
4 v. 
1 v. 
13 v. 
18 v. 
4v. 
6». 


19 v. 
12 v. 


Speculation‘‘ 


. ftatt ‚1833 Ties ‚1836 
. flatt „jeder“ lies „jener” 
. fatt „durch daffelbe bezeichnet’ lies ‚durch daſſelbe Wort 


bezeichnet“ 


. fatt „verfchledener Schulen‘ Ties „ver Philofophen‘ 
. ſtatt „ Sache” lies „Urſache“ " 


ſtreiche „ju“ weg 


.ſtatt „Gap. 17” lies „Vorrede, S. xwvır“ 

. flreihe „der“ weg 

. flreiche das Komma vor „beitreitet‘’ weg 

. ſtreiche „als“ weg 

. reiche das Komma vor „Idee“ weg und jeße es nach 


„Wille“ 


. ſtatt „ihr“ lies „ihnen“ 
. Ratt „Natue“ lies „Natur“ 


Neue Briefe 


über bie 


Schopenhauer'ſche Philoſophie. 





Rene Briefe 


Schopenhauer’fche Philoſophie. 


Zulius Franenfladt. 





Das Recht ber Ueberſetzung ift vorbehalten. 





Vorwort. 


Durch meine im ahre 1854 erfhienenen „Briefe über 
die Schopenhaner’fche Philofophie”, die hauptſächlich darftellen- 
der Art waren, hatte ich dafür geforgt, daß das größere ge- 
bifdete Publikum, das damals noch wenig von der Philofophie 
bes Franffurter Weifen wußte, hinlänglich mit derſelben bekannt 
gemacht werde, und diefen Zweck können fie ſich rühmen ers 
reicht zu haben. 

Gegenwärtig ift nun zwar die Schopenhauer'ſche Philo- 
fophie weit und breit bekannt; aber es fehlt noch viel daran, 
daß fie auch richtig erfannt fei. 

Diefem Mangel abzuhelfen, find die vorliegenden „Neuen 
Briefe” beftimmt. Sie find theils erläuternder, theils ver— 
theidigender, theils berichtigender Art. Schwierigen Punk- 
ten der Schopenhauer'ſchen Philofophie gegenüber verhalten fie 
ſich erläuternd, ungerechten gegnerifchen Angriffen gegenüber ver— 
theidigend, fehlerhaften Lehren des Syftems gegenüber berichtigend, 

Was die Berichtigungen betrifft, fo hatte ich ſchon in 
meiner Einleitung zu der Geſammtausgabe der Schopenhauer’ 
ſchen Werke (Bd. I der ſämmtlichen Werke) gejagt und an 
einigen Beifpielen gezeigt, daß die Correcturen, deren die Schopen- 


VI 


hauer'ſche Philoſophie bedürftig iſt, meiſt ſchon in ihr ſelbſt, in 
ihren eigenen allſeitigen Erwägungen und Ueberlegungen, zu finden 
ſind. Von dieſem Gedanken in den vorliegenden Briefen vollen 
Gebrauch machend, habe ich gezeigt, wie die Reſte von Dua⸗ 
lismus, die ſich noch von Kant her in der Schopenhauer'⸗ 
Ihen Philofophie finden, überall dur den Monisums ihrer 
eigenen Grundgedanken fich überwinden laſſen. Dadurch glaube 
ich die Schopenhauer’sche Philofophie in wahrerem Sinne fort- 
gebildet zu haben, als E, von Hartmann durch feine „Philo- 
jophie des Unbewußten”, bie eine Verbeflerung der Schopen- 
hauer'ſchen Lehre fein will, in Wahrheit aber eine Verſchlechterung 
berjelben ift. 

Ein Theil der in diefen „Neuen Briefen“ enthaltenen Erörtes 
rungen über Schopenhauer’8 Idealismus, Materialismus, Peſſi⸗ 
mismus, forte über feine Anfichten von der Kunft, von ber 
Geſchichte und von der Moral war fchon früher vereinzelt und 
zerftveut in verfchiedenen Zeitjchriften erfchienen. Ich Habe 
biefen Theil hier, als zum richtigen Verſtändniß und zur ges 
rechten Würdigung der Schopenhauer’schen Philoſophie wefentlich 
beitragend, mit denjenigen Verbeſſerungen und Ergänzungen 
aufgenommen, die mir nöthig fchienen. 

Mögen nun diefe „Neuen Briefe” dieſelbe gerechte, von 
Meber- und Unterfchägung gleich freie Würdigung der Schopen- 
hauer'ſchen Philoſophie beim Leſer Hervorrufen, beven fic fich 
ſelbſt beflifien haben. Wenn fie biefes erreichen, dann find fie 
nicht vergebens gejchrieben. 


Berlin, im September. 1875. 


Iulins Frauenſtädt. 


Inhalts- Derzeichniß. 


ren 


Erfter Brief. 


Beranlaffung biefer Briefe. — Gegenftand berfelben. — Unterſchied ber- 
felben von ben 1854 erfchienenen Briefen über die Schopenhauer’fche 
Philoſophie. . 


Zweiter Brief. 


Allgemeines über die Schwächen großer Philoſophen. — Ob Inconfequenzen 
und Widerfprüche ein Syftem werthlos machen. — Richtiges und ver- 
fehrtes Berhalten zu Syſtemen. — Moritz Benetianer als Bei- 
fpiel des letzten.. 


Dritter Brief. 


Schopenhauer's Begriff ber Philofophie. — Methode feiner Philofo- 
phie. — Zwei Vorausſetzungen, bie feinem Begriff und feiner 
Methode der Philofophie zum Grunde liegen - . - - 2200. 


Bierter Brief. 


Schopenhauer’8 bualiftiicher Gegenfat zwifhen Phyfit und Metaphy— 
fit. — Beridtigung beffelben aus feinem Monismus heraus. — 
Beftiinmung bes wahren Verhältniffes der Philoſophie zu ben 
Wiſſenſchafttee... 


va 


Fuufter Brief. 


Ob bei ber Schopenhaner'ſchen Begriffsbeſtimmung ber Philofophie noch 


von Metaphyſik bie Rebe fein könne. — Gegenſatz ber veralteten 
und der neuen Metapbufll . . . 22-2200. . .... ... 
Sechster Brief. 


Schopenhauer's Ausgangspunkt für die Erkenntniß bes Weſens an ſich ber 
Dinge. — Sein Anthropomorphismus. — Gegenſatz zwiſchen 
dem wiffenfhaftligden und unwiſſenſchaftlichen Anthropo⸗ 
morphismus. — Vertheidigung Schopenhauer's gegen Trendelen⸗ 
burg, Haym und Harmm...... 


Siebenter Brief. 
Eonfequenz bes Grundgedankens ber Schopenhauer’ichen Metaphyſik. — 
Die unbewußte Borftelung bei Schopenhauer unb von Hartmann 
Adter Brief. 


Berhältniß zwifhen Wille und Borftellung bei Schopenhauer 
und von Hartmann. — Bahnfen’s Kritik der von Hartmaun’schen 
3 11) 1 Be 


Nennter Brief. 
Bebeutung bes willensfreien und bes willenverneinenden Er» 
kennens bei Schopenhauer. — Wiberlegung Thilo’8....... 
Zehnter Brief. 


Vertheidigung der Schopenhauer’ichen Lehre vom Primat bes Willens 
gegen Profeffor Jürgen Bona Meyer und gegen Dr. € M. 
Friedrih Zange . >: onen. 


Eifter Brief. 


Auflöfung des Gegenſatzes zwifchen Wille und Intellect. — Erweite- 
rung bes Begriffs vom „Willen zum Leben“. — Erhebung bes 
menfhlihen Willens Über ben thierifchen Willen .. .. .. 


Zwöälfter Brief. 


Brüfung der Schopenhauer’ichen Lehre vom Ich als dem „Wunder xar’ 
Foynv. — Wiberlegung bes dualiſtiſchen Gegenfates zwiſchen Erlen» 


35 


4 


48 


62 


IX 


nen und Wollen aus dem Schopeuhauer ſchen Monismus heraus. — 


Seite 


Confequenz für bie Unferblileitsfrage urn 2. 67 


Dreizehnter Brief. 
Prüfung ber Schopenhauer'ſchen Lehre von ber Underänderlichteit 
des Willens und der Beränderlidleit bes Jutelleete. — 


Nachweis bes confanten Elements im Jutellect und bes varia- 
bein Elements im Willen.. 2 


Vierzehnter Brief. 


Prüfung bes Schopenhauer'ſchen Gegenſatzes zwifchen ber Ermübdlichkeit 
des Intelleets und der Unermüblichleit des Willene. — 
Prof. Jürgen Bona Meyer’s Polemik gegen biefe Lehre... . 


Funfzehnter Brief. 
Schopenhaitet's Lehre vom Gefllhl. — Spir's Polemik gegen bie» 
ſelbe. — Kritik dieſer Bolemit . . .. .» Eu 
Schözehuter Brief, 


Schopenhauer's angeblicher Nüdfall in den mittelakterlichen Realismus. 
— Widerlegung der Spir'ſchen Behauptung, daß Wille eine bloße 
Iäää * 


Siebzehuter Brief. 


Rritil. des Schopenhauer'ſchen Gegenſatzes zwiſchen dem Willen an ſich 
und feiner Objectität, — Unmöglichteit ber Ertennuiniß bes 
Ganzen aus einer einzelnen Erfheinung .......- . 


Achtzehnter Brief. 


Kritit des Schopenhauerihen Gegenfatses zwifhen ben einzelnen Mil- 
fensacten und dem Wolfen überhaupt. — Wahrer Sinn dieſes 
Gegenfahee onen nen 


Nennzehnter Brief. 


Gegenſatz zwiſchen dem Schopenhaner'chen Weltprincip und dem Gott der 
Theologen und fpecufativen Philoſophen. — Kritit der Schopenhauer’ 
ſchen Idemtification des Lebens mit bem Leiden... ..% 


au 


74 


78 


88 


3” 


X 


Zwanzigfter Brief. 
Seite 
Rückblick. — Programm ber folgenden Briefe. — VBebeutung bes Schopen- 
bauer’fhen Idealismus. — Widerlegung Trenbelenburg’s und 
Jürgen Bona Meyer’s. — Wefentlihe Gleichheit des Schopen- 
hauer'ſcheu Idealismus mit dem Helmhbolg’shen . . -. ».... 100 


Einundzwanzigfter Brief. 


Kritit der Schopenhauer’fhen Lehre von Raum, Zeit, Vielheit unb 
Caufalität als bloßen Borftelungsformen. — Widerlegung berfelben 
aus feiner realiftifchen Lehre von der Erfcheinung heraus „ . . 110 


Zweiundzwanzigfter Brief. 


Ob die Erfheinung bei Schopenhauer als eine ewige aufzufaflen fei? 
— Unphilofophifcher Anthropomorphismus in ber Lehre von der Ber- 
neinung bes Willen . . ..- 2 2220. een. . 117 


Dreinndzwanzigfter Brief. 


Kritit des Schopenhauer’fhen Gegenfages zwifhen Kraft und Urfade. 
— Wahre Bedeutung biefed Gegenfahee . . - 2: 22220. 122 


Bierundzwanzigfter Brief. 


Kritit der Schopenhauer'ſchen Lehre vom Verhältniß bes Objects und 
Subjects zu einander. — Nachweis des urſächlichen Berhältniffes 
Beider in der Vorſtellungg. . 126 


Fünfnndzwanzigfter Brief. 


Schopenhauer's Lehre von der Verflandesthätigkeit. — Unterfchied 
zwifchen der angeborenen und ber dur Uebung vermittelten 
Junction bes Verſtandes. — Bertheidigung Schopenhaucer'8 gegen 
Berthold Suble . 2... om 132 


Schöundzwanzigfter Bricf. 


Uebergang zu den naturphiloſophiſchen Fragen. — Schopenhauer’ 
Stellung zu dem Materialismus. — Sein Begriff ber Ma- 
(2 2 138 


x 
Sichenundzwanzigiter Brief. 


Seine — von dem Hervorgehen der 
THEMEN Sa ehr 


Achtundzwanzigſter Brief. 


Schopenhauer's Stellung zu bem Materialismus. (Schluß) — 
ergebniß. — Bertheibigung Schopenhaner’s gegen Profefjor Eduard 
EL Le Sr 


Neunundzwanzigſter Brief. 


— Stellung zur Teleologie. — Woher die Abneigung ber 
modernen Naturforfher gegen bie Teleslogie entjpringt. — Berthei- 
digung der Schopenhauer ſchen Teleologie gegen ben anonymen Ber- 
faffer der Schrift: „Das Unbewußte vom Standpunkte der Phyfiofogie 
aih Defeenbentzthegtiet 7... 27 nr ee 


Dreifigfter Brief. 
Schopenhaner's Stellung zur Teleologie. (Fortfegung.) — Bertheibi- 


gung Schopenhauer’8 gegen Thilo, — Realismus der Schopen- 
Kamnba tape. Teleslonie" 


Einunddreißigſter Brief. 


Schopenhauer's Stellung zur Teleologie. (Schluß) — Bertbeibigung 
Schopenhauer’s gegen Profejfor Harms. — Rolle ber Intelligenz 
im zwedmäßigen Wirfen der Natur. — Gegenfag zwiſchen der theifti» 
ſchen und atheiftifhen Auffafjung der in der Zwedmäßigleit der 
Natur ſich offenbarenden Intelligeng . 2. 22cm em een 


Zweinnddreifigiter Brief. 


Uebergang zur Aeſthetit Schopenhauer's. — Widerſpruch zwiſchen der 
äftpetifcgen Willensfreipeit uud dem äfthetifchen Wohlgefalten. 
— Kritil der Schopenhauerihen Löſung dieſes Widerſpruchs. — Ur- 
forung ber Objectivität bes äftbetifchen Exrfennens . . ., . . . 


Dreinnddreifigfter Brief. 


Kritil des Schopenhauer'ſchen Gegenſahes zwiſchen der äfthetiihen Be— 
trachtung der Dinge und ihrer Betrachtung nad dem Sa vom 


. | 





187 


4 


Xu 


Seite 
Grunde. — Die Schopenhauer'ſche Ideenlehre und ber Darmwi- 
niomssssss.............. .. . 1% 


| Bierunddreifiigfter Drief. r 


Darſtellung und Kritit der Schopenhauer’fchen Anfiht von ber Ge⸗ 
en 195 


Fünfunddreifigfter Brief. 


Darftelung und Kritit ber Schopenhauer’ihen Anfiht von ber Ge- 
ſchichte. — (Fortfegung.) - > > 222 onen 203 


Sehönuddreifigfter Brief. 
Ernft Dtto Findner’s Kritik ber Scopenhauerjgen Acfthetil .. . . 213 


Siebennnddreifigfter Brief. 


Uebergang zu den ethiſchen Fragen. — Bertheidigung Scopenhauer’s 
gegen Profeſſor Hriedrih Harms. — Schopenhauer’8 Berallge- 
meinerung bes Ethiſchen. — Borgänger und Nachfolger hierin . . 229 


Achtunddreißigſter Brief. 


Ein Bebenten gegen die Schopenhauer’fhe Berallgemeinerung bes 
Ethifhen. — Löſung dieſes Bedenkens. — Berbindung der Freiheit 
mit der Nothwendigkeit bei Schopenhauer. — Conjequenz ber 
AU-Einheitsiehre für die Zurehnungsfrage. — Kritif der Scho- 
penhauer'ſchen Unterfcheidung zwifhen dem empirifhen und in- 
telligibeln Charafter. — Aſeität als alleinige Bedingung der 
Zurechnung........... 236 


Neunnuddreißigſter Brief. 


Ob mit pantheiſtiſcher Metaphyſik überhaupt eine Ethik vereinbar ſei. — 
Gegenſatz der pantheiſtiſchen und individualiſtiſchen Ethik. — 
Welche von beiden bei Jedem thatſächlich über die andere ſiegt. — 
Welche von beiden die Wahrheit für fih bat. — Vereinbarkeit des 
etbifhen Werthurtheils mit pantheiftifcher Nothwendigkeits« 
| (2 2 2 . . ... 244 


XxIII 


Bierzigfter Brief. 
Seite 
Ob mit der Schopenhauer’fhen Lehre von der Unveränderlichleit bes 
Charatters die ethifhe Forderung ber Befjerung und bie ethifchen 
Beſſerungsverſuche zufammen befteben können... . .... - 247 


Einundvierzigfter Brief. 


Schopenhaner’8 verſchiedene Stellung zu Kant im erften und im zweiten 
ber „beiden Grundprobleme ber Ethik“. — Dr. Friedrich Zange's 
gefrönte Preisfchrift zur Vertheidigung Kant's gegen Schopen- 
baner. — Kritik biefer Breisfhrift -. - . > > con 253 


Zweinndvierzigfter Brief. 


Verhältniß der Ethik Schopenhauer’s zu feiner Metaphyſik. — Der 
Realismus feiner Ethil als Gegenbeweis gegen ben Ipealismus 
feiner Metapbufl . . > 2 22 on 263 


Dreinndvierzigfter Brief. 
Der innere Widerftreit bes Willens mit fich felbft als ungelöft ſtehen blei- 
benber Reft in ber Schopenhauer’fhen Bhilofopbie . . . .. . .. 266 
Bierundvierzigfter Brief. 


Urfprung und Charakter des Schopenhauer’fhen Peſſimismus. — 
Gegenüberftellung beflelben gegen den Leibniz’jshen Optimismus 
und Kritit beider . 2: 2 oo on 271 


YFünfnndvierzigfter Brief. 


Urfprung und Charalter des Schopenhauer’ihen Peſſimismus. — 
Gegenüberftellung deſſelben gegen ben Leibniz'ſchen Optimismus 
und Kritik beider. (Kortfebung) -. - 2:2: 2 Eon 282 


Schönndvierzigfter Brief. 


Praktiſche Eonfequenz des Beilimismus. — E. von Hartmann’s 
Berbindung des Optimismus mit bem Peſſimismus. — Kritik ber- 
12 1 12 En 2% 


Erſter Brief. 


Veranlafjung dieſer Briefe. — Gegenſtand derjelben, — Unterſchied vers 
jelben von den 1854 erſchienenen Briefen über vie Schopenhauer'ſche 
Philoſophie. 


Sie wollen, verehrter Freund, aus meinen Schriften entnommen 
haben, daß ich in manchen, und zwar nicht unbedeutenden Punlten, von 
der Schopenhauer'ſchen Philoſophie abweiche, alſo trotz Allem, was 
ich für Bekanntmachung und Verbreitung derſelben gethan, doch leines⸗ 
wegs ein fo unbedingter Anhänger derſelben bin, als Viele glauben, 

Da haben Sie nicht Unrecht. Wenngleich ich nicht in den Ton 
der vulgären Gegner Schopenhauer’s, die fich ein Zerrbild von ihm 
zurechtmachen und dann wacker auf dieſes Losfchlagen, einftimmen 
fan, fo gehöre ich doch gewiſſermaßen auch zu feinen Gegnern, ja 
habe ihm viefes, als ich noch mit ihm, theils münbfich, teils ſchrift⸗ 
lich verfehtte, nie verhegft, wofür meine „Memorabilien” Hinlängliche 
Beweife beibringen. (Vergl. Arthur Schopenhauer, Von ihm, tiber 
ihn. Ein Wort der Bertheidigung von Ernft Otto Findner, und Me- 
morabilien, Briefe ımd Nachlaßſtücke von Julius Franenftädt. Berlin 
1863, Verlag von A. W. Hayn.) Ich habe ihm Häufig mit meinen 
Einwendimgen gegen einzelne feiner Philofopheme das Leben recht 
fauer gemacht, und er war beshalb häufig mit mir unzufrieden; ja 
ſchließlich kam cs, wovon dieſelben „Memorabilien” (S. TIL fg.) 
Meldung thun, zu einem Conflict zwifchen uns, ber bie Folge 
hatte, daß wir beiderfeits den Briefwechfel einftellten. 

Mit dem alfo, was Sie über meine felbftftändige Stellung gegen- 
über der Schopenhauer ſchen Philojophie fagen, hat es yes Richtig. 


BGrauenfädt, Neue Briefe 


2 


feit. Wenn Sie nun aber hieran die Bitte fnüpfen, Ihnen einmal 
ausführlich alle die Punkte anzugeben, in denen ich von der Echopen- 
hauer’schen Philofophie abweiche und zugleich die Gründe meiner Ab- 
weichung darzulegen; jo bin ich zwar um jo weniger abgeneigt, Ihnen 
hierin zu willjahren, als ich ſchon feit längerer Zeit für mich ſelbſt 
das Bedürfniß fühle, mir Rechenjchaft abzulegen über die Einheits- 
und Differenzpunfte zwifchen mir und Schopenhauer. Aber erwarten 
Sie nur nicht, Daß ich auf alle derartigen Punkte eingeben werde. 
Denn das würde diefen Briefwechfel über die Maßen anfchwellen und 
ung Beiden mehr Zeit rauben, ale uns lieb wäre. Ich werde nich 
begnügen — und id) bitte Sie, fi auch damit zu begnügen — Ihnen 
meine Stellung zu den Hauptpunften ver Echopenhaner’fchen Philo⸗ 
fopbie darzulegen. Gelegentlich werden Sie dabei auch meine Stellung 
zu den Gegnern Schopenhauer’s Fennen lernen. 

Seit meinen erften Briefen über die Schopenhauer’iche Philo⸗ 
jophie*) ijt in ter philofophifchen Literatur Manches vorgegangen, 
was ich, wenn ich jegt Rechenfchaft über meine Stellung zu jener ab- 
legen joll, nicht umberüdfichtigt Taffen tarf. Hierher gehören nicht 
bloß die ausbrüdlich auf die Schopenhauer’fche Philofophie, fei e8 im 
Ganzen, oder auf einzelne Theile derjelben, fich beziehenden Schriften; 
jondern auch neue Syſteme, die eine Fortbildung und Verbefjerung 
berfelben fein wollen, wie die Hartmann'ſche „Philoſophie des Un— 
bewußten“, oder Shiteme, die, wie tie Darwin'ſche Entwidelungs- 
theorie, Grundlchren der Schopenhauer’ichen Philoſophie umzuſtoßen 
fcheinen. Sie werben daher, was Ihnen hoffentlich nicht unangenehm 
fein wird, auch diefe von mir bier berührt finden. 

Daß ich jetzt als ein Anderer zur Schopenhauer'ſchen Philo- 
fophie zurüdfehre, al8 der ich 1854 bei der Herausgabe meiner erften 
Briefe über diejelbe war, darüber werden Cie fich nicht wundern, da 
Sie wiſſen, daß die Zeit auf Keinen ohne Einfluß bleibt und am 
wenigften auf den ehrlichen Wahrheitsforfcher. Auch lag mir ja 
bei der Abfafjung meiner erjten Briefe über tie Schopenhauer’iche 
Philofophie noch fein jo reiches Material vor, als gegenwärtig. Die 


* Briefe Über die Schopenhauer’jche Philoſophie. Leipzig, F. A. Brod- 
haus, 1854. 


3 


britte Auflage der „Welt als Wille und Vorſtellung“ und bie zweite 
Auflage der „Parerga und Paralipomena” war damals noch nicht er- 
ichienen, mein Briefwechjel mit Schopenhauer war noch nicht ab- 
gefchloffen, ih war noch nicht im Beſitz feines umfangreichen hand⸗ 
ichriftfichen Nachlaſſes. Meine Kenntniß der Schopenhauer’fchen 
Philoſophie konnte daher damals noch feine jo vollftändige fein, 
als fie es gegenwärtig ift, und ich konnte damals noch nicht fo tief in 
ihren eigentlichen und wahren Sinn eindringen, al® gegenwärtig. Auch 
war es mir ja damals nur hauptjächlich um eine überfichtlihe Dar- 
jtellung der Schopenhauer’jchen Philofophie zu thun; jeßt aber han⸗ 
delt e8 fih um eine Kritif verfelben. 

Sollte Ihnen, verehrter Freund, bei ber einen ober der andern 
meiner Auseinanderfegungen noch) Manches unklar oder zweifelhaft 
bleiben, jo bitte ich, mir e8 offen und unumwunden mitzutheilen. Sch 
werde dann gern bereit fein, Ihre Scrupel zu Iöfen. 


1° 


weiter Brief. 


Allgemeines über die Schwähen großer Philojophen. — Ob Inconſe⸗ 

puenzen und Widerfprühe ein Syſtem wertblos machen. — Richtiges und 

verlehrtes Verhalten zu Spftemen. — Morit Benetianer als Beifpiel 
des Ichtern. 





Ueber die Schwächen im Denken bei großen Philofopben — 
und Seiner derfelben ift von ihnen frei — bat man ähnlich zu ur- 
teilen, wie über die Schwächen im Handeln bei ſonſt tugendhaften 
Charakteren. Der Geift ift willig, aber das Fleifch ift ſcwach. So 
wenig wir einen tugenbhaften Charakter wegen einzelner Sünden 
für ſchlecht und gemein halten, fo wenig dürfen wir einen großen 
Geift wegen einzelner Inconfequenzen und Widerſprüche für Hein und 
unbedeutend anſehen. Es ift eben feinem Menſchen als folcbem gegeben, 
frei von Fehlern und Schwächen zu bleiben. 

Hätten dieſes die Gegner Schopenhauer’8 bedacht, fo hätten fie 
nicht fo ftark die Inconfequenzen und Widerſprüche in feinem Syſtem 
betont, und hätten nicht geglaubt, damit die Wertblofigfeit deffelben 
bewiefen zu haben. Gefeßt auch, vie von ihnen nachgewiefenen Wider⸗ 
fprüche ſteckten wirklich alle in feinem Syſtem, — was jedoch, wie ich 
Ihnen zeigen werde, bei vielen nicht der Fall ift, — fo wäre Doch 
damit nicht die Werthlofigfeit des Syſtems bewiefen; oder man könnte 
mit gleichem Recht auch alle andern bedeutenden Shfteme für wertb- 
[08 erffären. Welche Widerfprüche find nicht 3. B. bei Spinoza, 
und jüngjt ſogar bei Kant nachgewiefen worben! 

Die größten Philoſophen aller Zeiten Haben ſich auffallenve 
Widerfprüche zu Schulden fommen laffen, und doch enthalten ihre 


5 


Syſteme wichtige Wahrheiten, el ’ 
deutend geförbert worben iſt. 

Der Werth; eines Syſtems befteht a meinem, Dafürhalten night 
in feiner formalen Harmonie, fondern in feinem materialen Wahrheits+ 
gehalt. Es ließe ſich fehr wohl ein: wiverfpruchslofes Syſtem benfen, 
das dennoch werthlos wäre, weil es aus lauter Begriffen und Sägen 
bejtände, deuen Feine Realität entjpricht, aus puren Hiengefpinnften; 
während daneben ein anderes mit ſtarken Widerfprüchen ſich denlen 
Täßt, das deunoch großen Werth hat, weil unter den einander wider⸗ 
fprechenden Sägen deſſelben wenigjtens der eine Theil, bedeutende 
Wahrheit enthält. Denn von zwei einander wiberfprechenden Aus-⸗ 
ſagen kann doch wenigftens die eine wahr fein, während, von zwei 
einander nicht widerfprechenden alle beide falſch fein. können, Wie 
manches dogmatifche Syſtem giebt es nicht, daß trotz feiner. innern 
Eonfequenz und Wiverfpruchslofigkeit doch nur ein Luftſchloß ift, wäh⸗ 
reud es anbererjeits au innerlichen Widerſprüchen leidende Syfteme 
giebt, die, als im realen Boden wurzelnd, tiefe Wahrheit enthalten. 

Weit verhängnigvoller, als innerer Widerſpruch, iſt für die Syſteme 
ihr Widerſpruch gegen die Erfahrung, gegen bie Ihatfachen. Nicht 
diejenigen Syfteme find die eigentlich. werthlofen und in Vergefjen- 
heit fallenden, die blos innerlich, in der Zufammenftellung ihrer 
verfchiedenen Säge fehlen und ſich Widerſprüche zu Schulden lom—⸗ 
men laſſen, jondern diejenigen, deren Säge mit der Erfahrung 
unvereinbar find, von den Thatfachen Lügen geftraft werden. 

Sicht man num das Schopenhaner’iche Syſtem von dieſem Geſichts— 
punkte aus an, jo wird man finden, daß es trog aller Widerfprüche, 
die ſich in ihm nachweiſen lafjen, doch werthvoller ift, als alle jene 
a priori conftruivenden lünſtlichen Syfteme, die zwar, innerlich wider⸗ 
ſpruchslos fein mögen, die aber defto ſtärler und greller mit den 
Thatfachen in Widerfpruch ſtehen. 

Der tiefe und nachhaltige Eindruck, den. die Schopenhauer'ſche 
Philoſophie auf jeden Unbefangenen macht, Läßt fid gar nicht anders 
erflären, als aus ihrem bedeutenden Wahrheitsgehalt. Man fühlt bei 
der Lektüre der Schopeuhauer ſchen Werke, daß hier nicht Hivngefpinnfte 
vorliegen, ſondern die Natır der Dinge, in Begriffen, abgeſpiegelt. 

Statt allerlei Widerſprüche in Schopenhauer’s Spftem aufzu⸗ 


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6 


ftöbern, hätten fich die Gegner veffelben ein größeres Verdienſt er- 
worben, wenn fie bie in ihm enthaltene Mahrheit ermittelt umb 
mittelft diefer feinen Irrthum widerlegt, c8 alſo aus und durch 
fich ſelbſt verbeffert hätten. Denn nicht von Außen, fondern nur 
von Innen heraus, durch fich felbit, Tann cin Syſtem gründlich ge- 
reinigt und verbeffert werden, indem man bie Confequenzen aus feinen 
Srundwahrbeiten zieht und alles mit venfelben nicht in Einflang Stehende 
entfernt. 

Ganz verfehrt ift das Verhalten zu einem Syſtem, wenn man, 
den wefentlichen Charakter veifelben verkennend, unweſentliche und ent» 
jtellende Züge, die fich demſelben von Außen her angefeßt haben, für 
fein Weſen ausgiebt und nun, indem man auf fie losfchlügt, meint, 
das Syſtem gefchlagen zu haben. Diefes Fehlers Hat fih Morig 
Benetianer fchuldig gemacht. 

Es geht ja den Philoſophen, wie andern Menfchenkindern auch; 
e8 gelingt ihnen nicht immer, das Wahre und Große, das fie beab- 
fichtigen, rein und frei von allen fremvartigen Beimifchungen zur Aus- 
führung zu bringen. Es feßen fi ten neuen Gedanken felbft ver 
größten Geifter häufig noch alte, überlieferte Irrthümer an, bie zu 
ben neuen Wahrheiten nicht paffen. 

So will ih denn auch nicht in Abrede jtellen, daß, fo fehr durch 
Das, was Schopenhauer über die Aufgabe und Methode der Philo- 
fophie lehrt, ein Fortfchritt über die bisherigen Auffaſſungen hinaus 
gemacht ift, er doch felbft mitunter noch in bie alte Methove, aus ab» 
ftracten Begriffen ftatt aus der Anfchauung und Erfahrung heraus zu 
pbilofophiren, zurücgefallen ift. So ijt z. B. bei Schopenhauer neben 


feiner erfahrungsmäßigen, auf Phyfiologie des Gehirns und ber 
Sinnesorgane gegründeten Auffaffung ver Vorftellung ein Räſonne— 


ment ber die Vorftellung anzutreffen, das lediglich aus den fich 
anf einander beziehenden Begriffen des Subjects und Objects 


: berausgefponnen ijt; woher es kommt, daß, obgleich er die Vorftel: 


(ung des Objects als Product der Thätigfeit des Subjects auf Anlaf 


: der Simmesreize darftellt, indem er zeigt, wie der Verſtand mittelft 


Anwendung des Saufalitätsgefeges aus den Sinnesreizen bie äußere 
Urfache verfelben als Gegenftand (Object) conftruirt, — daß er, fage 
ich, dennoch auch anberwärts wieder von bem Object fpricht, als wäre 





7 


es jofort nit dem Subject gegeben und nicht erſt durch die Ver⸗ 
ftanbesthätigleit des Subjects erfchloffen. (Vergl. meine — 
zur 3. Aufl, der „Bierfachen Wurzel“) 

Will man nun diefes Näfonniren aus — 
Scholaſtieismus ober, deutſch zu reden, „Schulfuchſerei“ nennen; 
fo iſt freilich auch bei Schopenhauer mitunter noch Scholaſticismus 
anzutreffen. Aber welcher Unverſtand gehört nicht dazu, Schopen- 
Hauer wegen biefes gar nicht feine Eigenthümlichleit bildenden, ſondern 
ihm fremdartigen, von Außen angehefteten Zuges zum Scholaftiter 
zu ſteipeln, wie Moritz Benetianer in feiner Schrift: „Schopen- 
hauer als Schofaftifer. Eine Kritit' der Schopenhauer'ſchen Philo- 
ſophie mit Nücficht auf die gefammte Kautiſche Neoſcholaſtik“ (Berlin, 
Earl Duncer's Verlag, 1873) thut. Es iſt, wie wenn man bie eigens 
thümliche Phyfisgnomie eines Menfchen nach einer aus äußerer Eins 
wirkung entftandenen, zufälligen Schmarre beurtheilen wollte, Für das 
Weſen, die Effenz eines Philoſophen wird ein verftändiger Kritiker 
nicht Diejenigen Züge feines Syftems anfehen, die dem Geift beffelben 
fremd, von Vorgängern aufgenommen oder angenommen find, ſondern 
diejenigen, die aus feinem eigenthümfichen, fich fpecififch von den 
Vorgängern unterſcheidenden Geifte hervorgegangen und ihm ad⸗ 
äquat find. 

It etwa ein Dichter, weil in feinen Gedichten Shaleſpeare ſche 
Kraftausdrücle vorfommen, fhon ein Shalejpeare? Nun, ebenfo 
wenig ift ein Philoſoph darum, weil in feinen Shftem ſcholaſtiſche 
Formeln und Spigfindigfeiten vorkommen, ſchon ein Schofaftifer. 

Das Spaßhafteſte aber bei der Sache iſt, daß derſelbe Benes 
tianer, ber Schopenhauer zum Scholaftifer und Kant zum Erzſcho— 
laſtiler ftempelt, weil letzterer der Vater diefer ganzen modernen 
Richtung fei, den Verfaſſer der „Philoſophie des Unbewußten“, Ev. 

artımann, von dem Vorwurf des Scholaſticismus freifpricht, 
ja ihn der ganzen neofchofaftifchen Nichtung der Philofophie ſeit Kant 
wie einen Erföfer, einen Heiland gegenüberftelt, während doch ber Ber- 
faffer der „Philojophie des Unbewuften‘ in feiner „Metaphyſil bes 
Unbenwußten‘, bie auf die neofchelling’fche Potenzenlehre zurückgeht, ber 
tollſte Scholaftifer ift, den es geben Tann, 

Benetianer’s Antipathie gegen Schopenhauer, die ihn verhindert 


| 





8 


bat, ihm gerecht zu werben, ift durch Schopenhauer's Angriffe auf 
das Judenthum verurfaht. Nun mag zwar Schopenhauer aller: 
dings in feinen Urtbeilen über das Judenthum mitunter zu weit ge- 
gangen fein und mag babei fich felbit turh Antipathie haben 
beftimmen laffen. Aber in Einem wird man doch verfucht, ihm Recht zu 
geben, — und bie freche Art, wie Moritz Benetianer von unfern größ- 
ten Geiftern, von einem Kant und Schopenhauer fpricht, denen er „unge: 
ſchlachtes fcholaftifches Treiben, Kauderwelih, Wiſchiwaſchi“ u. f. w. 
borwirft, beftätigt es, nämlich — daß unter den dem Natienalcharalter 
der Juden anbängenden Tehlern „eine wunderſame Abweſenheit alles 
— was das Wort verecundia ausbrüdt, der hervorjtechenpjte” 
ei. (Parerga, II, 280.) 

So entblößt von aller verecundia, wie Benetianer in feinem 
erwähnten Buche auftritt, Tann eben nur ein von feinem National: 
charakter noch nicht durch Bildung frei gewordener Jude auftreten. 
Dabei gereihen den Schmähungen diefes Juden nicht einmal eigene 
große Leiftungen, die er den geſchmähten Geiftern gegenüberzuftellen 
hätte, zur Entſchuldigung; während doch Schopenhauer, wenn er von 
dichte, Schelling und Hegel geringjchäßig fprach, Doch ihnen gegenüber 
etwas Beſſeres, Bedeutenderes aufzuweijen hatte. Venetianer’s „All: 
geift. Grundzüge des Panpſychismus im Anſchluß an die Bhilofophie 
des Unbewußten“ (Berlin, Carl Dunder’s Berlag, 1874), — dieſe, 
bie Philofophie des Unbewußten nur unter anderm Namen wieder— 
gebende und vertheibigende, meijt polemiſche Schrift, ift doch wahr—⸗ 
lich nicht dazu angetban, dem Verfaſſer das Recht zu geben, Kant 
und Schopenhauer in der Weife zu jchmähen, wie er gethan. 


Dritter Brief. 


Schopenhauer's Begriff der Philoſophie. — Methode feiner Philo⸗ 
ſophie. — Zwei Borausjehungen, die feinem Begriff und feiner 
Methode der Philojophie zum Grunde liegen. 


Dichter pflegen fich bei ihrem Schaffen nicht nach den Regeln 
der Poẽtik zu richten, fondern umgekehrt, ihre Poetik richtet fich nach 
ihrem Schaffen, ift nur aus ihrer Art zu probuciren abftrahirt. Die 
Dramaturgie eines Schaufpieldichters z. DB. ift in der Kegel nur ber 
abftracte Begriff feiner eigenen ‘Dramen. 

Aehnlich nun pflegen Philofophen in ihren Shftemen fich nicht nach 
ven Begriff ver PHilofophie zu richten; fondern ihr Begriff ber 
Philofophie richtet fich nach ihrem Syſtem, ift nur aus ihrer Art zu 
pbilofophiren abftrabirt. _ 

Diefes Abftrahiren der Theorie aus ber eigenen Praris fchabet 
aber auch gar nichts, wenn bie Praxis felbft nur auf dem richtigen 
Wege ift, wenn bie Art zu bichten eines Dichters und vie Art zu 
pbilofophiren eines Philofophen dem eigentlichen Zwed bes Dichtens 
und Philofophirens entſpricht. Die aus dieſer Praxis abgezogene 
Theorie kann bann feine irrige fein. 

Bei Schopenhauer nun ift bie Begriffsbeltimmung ter Philo- 
fopbie ebenfall® aus feiner eigenen Art zu pbilofophiren abftraßirt. 
Aber da dieſe feine eigene Art zu philofophiren im Ganzen eine rich⸗ 
tige, zweckentſprechende iſt, fo kann man nicht fagen, daß feine Be⸗ 
griffsbeftimmung ver Philofophie eine falfche ſei. Schopenhauer 
pbilofophirt aus ber Anfchauung heraus, und bemgemäß verlangt 


10 


er auch, daß tem phileſephiſchen Begriñ̃en überall ein Auſchanliches 
zum Grunde liege. 

Schopenhauer jrumt wicht Begriffe aus Begriffen, wie bie Fichte: 
Schelling⸗Hegel ſche Speculatien, ſendern ſchẽpft jeine Begriffe ans 
der Allen vorliegenden anuſchanlichen Erfahrungéwelt, ver äußeren 
und der inneren. Darum iſt er ein Feind alles bleßen Bernünf: 
telus. Cr führt ſelbſt Beiſpiele an, zu welchen Abwegen und Ver⸗ 
irrungen vie Algebra mit bleßen Begriffen, vie durch feine Anſchauung 
controlirt werten, führe, und findet an ter Philoſophie ſeit Plato und 
Ariftoteles, bejonter® aber jeit Der Zchelaitil hauptſächlich den fort- 
gefegten Mißbrauch allgemeiner Begriffe wie Subſtanz, Ur- 
face, Grund, u. |. w. zu rügen.. Sole weite Begriffe würben 
allmählich faſt wie ulgebraifche Zeichen gebraucht und wie diefe Hin- 
und bergewerjen, wodurch das Philoſophiren zu einem bloßen Gombi- 
niren, zu einer Art KRechnerei ausarte. Ja, zuletzt entjtehe hieraus 
ein bloßer Wortfram, wefür das fcheußlichite Beifpiel die Hegelei 
liefere. 

Dieſem fortgeſetzten Mißbrauch weiter, allgemeiner Begriffe gegen: 
über hebt Schepenhauer das Verdienſt Locke's hervor, ber auf Unter: 

—— 

ſuchung des Urſprungs der Begriffe drang, welche Bahn dann 
Kant weiter verfolgte. Schopenhauer ſelbſt hat in ſeiner Schrift „Ueber 
die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“ (1813) 
die vier verſchiedenen Verhältniſſe nachgewieſen, die unter dem Begriff 
des Grundes gedacht werden, und iſt damit dem Begriff des Grundes 
ſelbſt auf den Grund gegangen. Er hat gezeigt, daß es ſo wenig 
einen Grund überhaupt giebt, wie einen Triangel überhaupt. 
Wie jeder Triaugel entweder recht- oder ſpitz- oder ſtumpf⸗winklig iſt, 
ſo müſſe auch jeder Grund entweder Grund des Werdens, oder 
Grund des Erkennens, oder Grund des Seins, oder Grund des 
Handelns ſein. Und eben ſo hat er es mit dem Begriff der 
Nothwendigkeit gehalten. Da Nothwendigleit nur ber Folge zu— 
fommt, wenn ber Grund gegeben ift, fo giebt es gemäß dem vierfachen 
Grund eine vierfache Nothwendigkeit: 1) phyſiſche (nad dem Wer— 
bensgrund); 2) logiſche (nach dem Erkenntnißgrund); 3) mathe— 
matifche (nach dem Seinsgrund); 4) moralifche (nach dem Hans 
delnsgrund). 


11 


Mit diefen Nachweifungen hat fich Schopenhauer das Verdienſt 
erworben, dem abftracten Gerede über Begriffe wie Grund umb 
Nothwendigkeit u. ſa w. ein Ende zu machen. Er hat mit Necht 
am jeden Philoſophen, der in feinen Spechlationen von einem Grunde, 
ober von Nothwendigkeit fpricht, die Forderung geftellt, daß er be> 
Stimme, welche Art von Grund, oder von Nothwendigleit er meine. 

Wie über den Begriff des Grundes und der Nothwendigs 
Teit, jo hat Schopenhauer auch über den Begriff ver Freiheit fein 
abſtractes Gerede geführt, wie andere Philoſophen, federn Fat die 
verfchiebenen Arten der Freiheit nachgewiefen, die verſchiedenen Ver⸗ 
hältniffe, in denen von Freiheit die Rede iſt. Es giebt männlich eine 
dreifache Freiheit: 1) die phyſiſche; 2) bie intelle etuelle; 3) die 
moralifhe. Schopenhauer zeigt Das Gemeinfame in biefen verfchie- 
denen Arten, zeigt aber auch andererfeits innerhalb des Identiſchen 
berfelben wieder ben Unterfchied. 

Durch diefe jeine Methode, im Unterfchiedenen das weſentlich 
Gemeinfame, das Ioentifche, und wiederum im Spentifchen den Unter 
ſchied der Arten, in denen es vorlommt, nachzumweifen, hat Schopenhauer 
Licht und Klarheit in die Begriffe gebracht, Mean weiß bei ihm 
überall, ivoram man ift. Wenn er von Grund, von Nothwendbig- 
feit, von Freiheit, von Erfenntniß, von Wahrheit u. ſ. w. 
fpricht, fo hat man Tein vages, hohles, in bloßen Wortlram ausarten- 
des Gerede, bei dem Einem Hören und Sehen vergeht, wie bei jo 
vielen Andern, vor fich, fondern man hat beftimmte, gegebene reale 
Berhältniffe, die durch jene Begriffe bezeichnet werben, vor ſich und 
erfährt, was das Gemeinfame, das weſentlich Identiſche in ihnen ift, 
erfährt aber auch, wodurch fich die Arten berfelben unterfheiven, So, 
um nur noch ein Beifpiel anzuführen, ergeht ſich Schopenhauer nicht, 
wie fo manche andere neuere und neuefte Philofophen, im hochtva- 
benben und ebenfo unverſtändlichen, als überfchwänglichen Nebensarten 
über das Wahre, Schöne und Gute, fonder geht biefen Be 
griffen auf den Grund, zeigt bie verſchiedenen Arten deſſen, was 
unter jenen allgemeinen Begriffen gedacht wird, weift das Identiſche in 
ihnen nad und innerhalb des Identiſchen wiederum ben Unterfchieb, 
Gergl. in meinem Schopenhauer-Lezifon die Artilel, Grund, ——— 
wendigkeit, Freiheit, Wahrheit un ſ. w.) 


i2 


In Uebereinftimmung hiermit hat Schopenhauer die Hegel zur 
Methode alles Philoſophirens, ja alles Wiſſens überhaupt, aufgeftelit, 
ba man ebenfo dem Gefeke der Homogeneität, ale dem ber Spe- 
cification Genäge leifte, d. h. im linterfchievenen das Homegene, 
Ipentifche der Gattung, zu ber es gehört, und ebenjo wieberum in 
biefer ben fpecifiichen Unterichied per Arten, in bie fie anseinanter- 
geht, nachweile. (Bergl. Schopenhauer-Yeriton: Methode.) 

Man mag an feinen Eintheilungen Manches ansjujeken haben; 
aber feine Methode ift jedenfalls vie richtige, ächt wiſſenſchaftliche, iſt 
wiffenfchaftlicher, als die Methode der die Welt a priori nach eimem 
vorausbeftinnten Schema confiruirenden Philoſophen, etwa nach dem 
Hegel'ſchen Schema des Auſich⸗, Anders und Fürſichſeins, ever 
einem fonftigen, drei⸗ eder viergliedberigen Schema. Dieſes Unter 
bringen aller Tiinge tes Himmels unb ber Erden unter ein a priori 
aufgeitellted Schema thut ven Dingen Gewalt an, zwängt fie in eim 
Protcuſtesbeit und fülfcht fie, mährene tie Schopenharer ſche Methede 
die Dinge felbit zu Werte femmen läft, ihre eigene natürliche 
Hicderumg und Bewegung darſtellt. Deun Schepenhaner hatte richtig 
ertannt: allgemeine Begriffe fellen zwar der Steiff fein, im welchen 
Nie Phileſephie ihre Erieantmif abjegt und nieteriegt, jedech nicht bie 
Quelle. and ter jie dieſelbe jbäpft: terminus ad quem. nidht a quo. 
Die Philoſophie ſoll nicht jein eine Winſenſchaft aus Begriffen, ſon⸗ 
dern in Weyrüfen Begriffe ſind freilich dae Material rer RPhile 
ſephie. aler nur mie der Marmer nd MWareriol des Bildhaners iſt; 
ſie je wicht and ibn, ſondern im jie artviia, nat ichere Neiul- 
are in idnen mirterlegen, mid alır rem there al# tum Eegebenen 
antaeden. 

Nude Peſerdie lüft Ih mad Sienendezit zidı berume 
num aut Nofen, aliinnten urn, katvız zuzt gesnime jeim 
au cine wat Crfaltuar, Team izure, alt Ist Anh 
aux ud Comtimiweituriai me Nyrir I rer Bee Riders, 
Saxuina Tomtid art it cm Andi ır re Üüsierter zeleifet 
wire, aa ar Sehren ver Fucieddet And cum: ons INT ame 
TR mar zahcht weil KT mE mer ce Sue aiuelrri uzr, fo 
wu ac ACER WAR WORT. WR a BRNEN anal. du ame 
kim Zuge wartc felgen Damm, at und CT Kae RÜNE SICHBE: zateme 


13 


hängt dann Alles von der Nichtigkeit eines Sabes ab, mb durch 
einen einzigen Fehler in der Ableitung wäre die Wahrheit des Ganzen 
gefährdet. (Vergl. Schopenhauer-Perifon, unter Philofophie: Me- 
chode der Philojophie). 

Ich glaube, daß ſich gegen dieſe ans Schopenhauer's eigener Art 
zu philofophiven abgezogenen Beſtimmungen über die Methode ber 
Philoſophie nichts Gegründetes wird einwenben laſſen. Fraglicher Bin- 
gegen lönnte feheinen, ob Das richtig ift, was Schopenhauer über den 
Gegenjtand der ie lehrt. Schopenhauer ſtimmt zwar mit 
andern Philofopgen darin überein, daß der Gegenftand der Philoſophie 
die Welt fei und nennt die Philoſophie darım, im Gegenfag zur 
Theologie, Weltweisheit; aber er weicht von andern Philofophen 
darin ab, daß er nicht das Woher und Wozu ber Welt (nicht ihre 
causa effieiens und causa finalis), ſondern Lediglich ihr Was, d. h. 
ie Wefen an fi, ihre Eſſenz zum Gegenftande ver Philofophie 
macht. Die Philofophie foll nach Schopenhauer eine Ausfage in ab- 
stracto vom Wefen der gejammten Welt und ihrer Gliederung fein, 
eine vollftändige Wiederholung, gleichfam Abfpiegelung der Welt in 
abjtracten Begriffen. Jeder ift nach ihm noch himmelweit von einer 
philoſophiſchen Erlenntniß der Welt entfernt, der vermeint, das Weſen 
derſelben Hiftorifch faſſen zu können; welches aber der Fall ift, for 
bald in feiner Anficht des Wefens an ſich der Welt irgend ein Wer- 
dem, ober Geworbenfein oder. Werbenwerben ſich vorfindet. Solches 
hiſtoriſche Philoſophiren Tiefere in ben meiften Fällen eine Kos— 
mogonie, Es leide an dem Fehler, die Zeit für eine’ Beſtimmung 
ber, Dinge am fich zw nehmen, und daher bei der Erſche inung 
ftehen zu bleiben. Die ächte philoſophiſche Betrachtungsweife der 
Welt, d. h. diejenige, welche uns ihr inneres Weſen erlennen lehrt 
and jo über die Erſcheinung hinausführt, ſei gerade bie, welche nicht 
=> dem Woher und Wohin und Warum, fondern immer und 

überall nur nach dem Was der Welt frägt, d. h. welche die Dinge 
nicht nach irgend einer Relation, nicht nach Grund und Folge betrach⸗ 
tet; ſondern umgelehrt Das, was nach Ausſonderung dieſer ganzen 
Betrachtungsweiſe übrig bleibt, das in allen, Relationen erjeheinenbe, 
ſelbſt aber ihnen nicht unterworfene, immer fich gleiche Weſen ber Welt 
zum Gegenftanbe hat. 


14 


Demgemäß verlangt Schopenhauer von ter Philoſephie, daß fie 
immanent bleibe, d. b. nicht transfcentent werde, fich nicht zu 
überweltlihen Dingen verjteige, ſondern fich tarauf beichränfe, tie 
gegebene Belt von Grund aus zu verftehen. Die Philejophie fei nur 
darum jo lange vergeblich verfucht worden, weil man das Warum, 
dae Ferne fuchte, ftatt Das Was, Daß überall Nahe zu ergreifen. (Vergl. 
Schopenhauer⸗Lexikon, unter Philejopbie: Aufgabe ver Phileſophie.) 

An tiefen Beſtimmungen zeiat jib, daß ter Begriff ber Phi— 
fejepbie, ven ein Syſtem aufitellt, nicht unabbüngig ven den eigenen 
Vorausſetzungen tiefes Syſtems ijt, und taß man ihn taber nur 
tunn annehmen kann, wenn man vie ihm zu Grunte liegenden Beraus- 
jegungen amımmt. 

Tem Schopenhauer ſchen Begrifj ter Philoſephie als Wiſſen— 
ſchaft ed Was, nicht des Woher und Wozu ter Welt, liegen meb- 
tere Berausfekungen ſeines Syſtems zum Grunde. Gritens die, daR 
der Satz vom Grunt, demzufolge wir überhaupt nach dem eher 
und Weozu fragen, ſich nur auf Erjcheinungen bezieht, micht auf das 
Weſen an fib ver Tine Da ter Sub vom Grmie in allen 
jeinen Sejtalten aprierijcd iſt, alie in unferm Intellect wurzelt; je 
darf er nach Schepenbaner nicht auf das Ganze aller tujeienten Dinge, 
die Belt, ungewendet werden. Denn eine jeldhe, dermöge aprıcrijcher 
Formen ſich daſtellende Welt it eben desbalb bleße Erideinung; 
was daher nur in Felge eben dieſer Fermen ven idr gilt, findet feine 
Ammertung anf fie ſelbſt. d. h. amf das im ibr ſich darſtelende Ting 
am ji. Daher lam man micht jagen: Die Welt mar alle Dinge 
ur ibr eriftiren vermäge eines Anteru“: welcher Zug der fodclezikbe 
Beweis des Daſeins Gettes it Veral. Scherendauer dexiten. umter 
Grund: Gediet ver Bültigfeit des Sazes tem Önmte) Der Be 
aim der Karſalität if ven den Kdileſerden, zum Vertbdeil ibrer 
degmatiſchen Ahitibene, ihend Biel; weit zeſate werten, wedurch 
bamilze, wu zur unbe darin biegt, ; B. ver Sup: „Ale, mas 
tt. dat ſeine Urjache“: mihenme der allein richtige Auedruck für das 
Fre der Kauſalität dieſer iR: wie Terizteruug bat thre Ur 
Face im einer andern, ihr wunmtiteldzr verberzängigen. 
Neun enmad geihieht. TA cur armer Suflamı euiritz, d. d. etwae 
Rd Perimtert: ſe un len werden ſich era Anderes verändert 


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haben; vor biefem wieber etwas Anderes, und jo aufwärts in's Un— 
endliche; dem eine erfte Urſache ift fo unmöglich zu denfen, wie ein 
Aufang der Zeit, oder eine Grenze bes Raums. Mehr, als das An— 
gegebene beſagt das Geſetz der Kaufalität nicht; alfo treten feine 
Anfprücde erjt bei Veränderungen ein, So lange fi nichts ver— 
ändert, ift nad) feiner Urfache zu fragen, (Vergl. Schopenhauer 
Ferifon unter Grund: Sat vom Grunde des Werdens.) 

Nehmen Sie hierzu noch, was Schopenhauer vom Entjtehen 
md Vergehen lehrt, daß es nämlich nicht an bie Wurzel der Dinge 
greife, ſondern nur ein oberflächliches Phänomen fei, von welchen das 
eigentliche, ſich unferm Blid entzichende und durchweg geheinmipvolle 
innere Wefen jedes Dinges nicht mitgetroffen wird; daß das Entjtehen 
und Vergehen feine abjolute Realität habe, aljo dem in ber Er- 
ſcheinung ſich darjtelfenden Weſen an ſich nicht zufommen könne, und 
hieraus ſich der, wahre Sinn der paradoren Lehre der Eleaten, daß 
es gar fein Entftehen und Vergehen giebt, ſich ergebe (vergl, Schopen- 
hauer⸗ Lexilon: Entftehen und Vergehen); jo Haben Sie hier die Grund- 
vorausſetzung, die Schopenhauer beftimmt, bie Frage nad) der Urſache 
ber Welt zu verwerfen und die Philojophie auf die bloße Erforſchung 
des Was der Welt zu bejchränfen. Die Frage nad) der Urſache ver 
Welt wäre nur dann berechtigt, wenn bewiejen wäre, daß das Dafein 
der Welt überhaupt eutſtanden ſei. Sp lange dies nicht bewieſen 
ift, umb es wird fich ſchwerlich beweifen laffen, wird wohl Schopen- 
hauer Necht behalten, daß die Phifofphie nicht nad dem Woher der 
Welt zu fragen habe. Hat fie aber nicht nah dem Woher ber Welt 
zu fragen, fo bat fie eo ipso auch nicht nad dem Wozu berfelben 
zu fragen; denn das Wozu ijt nur eine Art bes Woher. Wenn wir 
nach dem Wozu einer Sache fragen, jo fragen wir nach ihrer Zwed- 
urſache, alfo doch wieder nad) einer Urſache, wenngleich nad) einer 
andern Art von Urſache, als die causa efficiens ift. Um zu ber 
Frage nach dem Wozu der Welt berechtigt zu fein, müßten wir bes 
meifen, daß ein ihr Dafein beabfichtigender Zwed, zu deſſen Rea- 
Üfirung fie aus dem Nichtfein ins Dafein gerufen worden, die Urs 
ſache ihres Entftehens war, was wiederum ſich ſchwerlich beweifen 
laſſen wird, 

Kurz, um Schopenhauer's Ausſchließung ber Fragen nach dem 


?; 


} 


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Woher und Wozu der Welt aus ber Phifofophie zu wiberlegen, 
müßte man bie Lehre feines Syftems, Daß ver Cat vom Grunde im 
Allgemeinen fih nur auf Erfoheinungen, und das Kauſalitätsgeſetz 
im Befonvern fib nur auf Beränterungen beziche und mur im Ge- 
biete diefer Gültigkeit habe, die Philofophie aber es nicht mit bloßen 
Erſcheinungen und Veränderungen, jondern mit dem ewigen, uwer⸗ 
änberlihen Wefen ber Dinge zu thun babe, widerlegen. 

Sch gebe nım zu einer zweiten Norausfeßung über, Die ber 
Schopenhauer'ſchen Beſchraͤnkung der Philoſophie auf die Erforſchung 
des Was der Welt zum Grunde Tiegt. Es ift diefe, daß das Was, 
d. b. das Wefen der Welt, in ihrer Erſcheinung gegemmärtig, in ihr 
anzutreffen, ihr immanent, alfo nicht jenfeit® derfelben zu fuchen, 
fondern in ihr zu ergreifen fei, daß aber auch der menfchliche Intel: 
fect fähig fei, in der Erfcheinung das Wefen zu ergreifen, ober bie 
Erſcheinung aus dem Wefen, tefien Erſcheimmg fie ift, zu begreifen, 
welcher Annahme wierer die Rorausfekung zum Grunde liegt, daß 
Üefen und Erſcheinung ſich decken, daß die lektere dem erjtern ent 
ſpricht; denn fonjt würde ja aus ihr das Weſen nicht zu erfennen 
fein. Schepenhauer'8 Begriff ven ver Philefophie als ter Wiſſen⸗ 
ſchaft Des Was ter Welt kann alje ſchon zum Beweiſe tafür dienen, 
daß fein Syſtem, als ven Dualismus zwiſchen Weſen an ſich ( Ding 
an fi) und Erfcheinung aufbebend, fein abjefut idealiſtiſches, die 
Erſcheinung für bloßen jubjectieen Schein erklärendes iſt, ſondern ein 
realiftifebes, die Erideimmg als „Objectivatien“, t. b. reale 
Verwirklichung Des Weſens an ſich betrachtendes. 

Ich komme ſpäter auf die Bedenutung ter Erſcheinung bei 
Schopenhauer ausführlicher zu ſprechen. Hier wellte ih Ihnen mr 
zeigen, welche Vorauseſetzungen in ter Schopenbauer'ſchen Begriffe- 
keftimmung der Vbilefepbie liegen, namlich eritens die Vorausſetzung, 
daß die Welt unentitanden jei, und zweitens tie Serausjekung, daß 
ihr Weſen an ſich in der Erſcheinma gegenwärtig und aus ibr 
erkennbar jei. 

Ch ader Zihepenbaurr jeinem Begriñ ter Übileierbie und ten 
in ibm liegenden Qerawsjetungen überall in ten Ausrührungen jeines 
Spjtems men gedlieden. Dirt iſt jreilich eine audere trage, über bie 
ich mich ein ande mal autlaſſen werde. 


Dierter Brief. 


Schopenhauer's dualiſtiſcher Gegenfap zwiſchen Phyſit und Metaphy— 

ſit. — Berichtigung deſſelben aus ſeinem Monismus heraus. — Ber 

ſtimmung des wahren Verhältniſſes der Philoſophie zu ven Wiſſen- 
ſchaften. 


Sie finden, verehrter Fremd, daß der Gegenſatz, den Schopen- 
hauer zwifchen der Metaphyſik und der Phyſit, überhaupt der 
Gegenjag, den er zwifchen der Philofophie ımd den Wiffen- 
ſchaften macht, mit feiner Lehre von der Immanenz bes Wejens 
im der Erſcheinung und der Erfennbarfeit des Weſens aus ber Er» 
ſcheinung nicht zufammenftimmt. Das Wefen ver Welt fei nach 
Schopenhauer aus ihrer Erſcheinung zu entziffern, die Phyſil im wei⸗ 
teften Sinne, d. h. die Naturwiſſenſchaft, fehre uns doch nım aber die 
Erſcheinung und ihren Zufammenhang immer genauer, immer richtiger, 
immer vollſtändiger kennen; wie dürfe da Schopenhaner einen folchen 
Gegenfatz zwifchen PHpfil und Metapfyfil machen, daß er behauptet: 
„Die Höhe, zu welcher in umfern Zeiten die Naturwiſſenſchaften ge 
ftiegen find, ftellt alle früheren Jahrhunderte im tiefen Schatten und 
ift ein Gipfel, den die Menfchheit zum erſten Mal erreicht. Allein, 
wie große Fortſchritte auch die Phyfit (im weiteften Sinne der Alten 
verftanden) je machen möge; jo wird damit noch nicht der MHeinfte 
Schritt zum Metaphyfit geſchehen fein; fo wenig, wie eine Fläche, 
durch noch jo weit fortgejegte Anspehnung, je Kubilinhalt gewinnt. 
Denn ſolche Fortſchritte werben immer mm die Erfenntniß ber Er- 
ſcheinung vervolfftändigen; während die Metaphyſil über die Er- 


ſcheinung ſelbſt hinausftrebt, zum Erſcheinenden. Und * ſogar die 
Brauenftädt, Neue Briefe. 


18 


gänzlich vollendete Erfahrung hinzukäme, fo würde dadurch in ber 
Hauptfache nicht8 gebeffert fein. Ja, wenn felbft Einer alle Planeten 
jämmtficher Firfterne durchwanderte; fo hätte er damit noch feinen 
Schritt in der Metaphyſik gethan.” („Welt als Wille und Vor⸗ 
ſtellung“, II, 197.) 

Diefer Dualismus zwifhen Phyſik und Metaphyſik, fagen 
Sie, ftimmt nicht zu der von Schopenhauer gelehrten Cinheit von 
Weſen und Erfbeinung und Erfennbarfeit bes Weſens aus ver 
Erſcheinung. Diefer entfprechenp müßte Cchopenhauer vielmehr ven 
Fortfchritten in der Phyſik das größte Gewicht für die Fortjchritte in 
der Metaphyſik beilegen, ftatt zu fagen, daß mit allen Tortfchritten 
in der Phyſik noch nicht ver Feinfte Schritt in der Metaphyſik ge: 
macht fei. 

Ih kann nun allerdings nicht beftreiten, daß das von Schopen- 
bauer in der angeführten Stelle behauptete Unberührtbleiben der Me- 
taphyſik von alfen Fortfchritten der Phyſik ſtark dualiftiich Mingt, und 
daß auch mir aus dem Verhältniß, in welches Schopenhauer das 
Weſen der Welt zu ihrer Erfcheinung feßt, d. h. aus der Inımanenz 
befjelben in dieſer zu folgen fcheint, daß mit ber fortfchreitenden Er- 
fenntniß ber Erfcheinung durch bie Phyſik auch die Erfenntniß des 
Weſens in der Metaphyſik fortichreiten müffe Schopenhauer bat 
diefes fogar felbft und zwar an berjelben Stelle („Welt ale Wille 
und Vorftellung“, IL, 197 fg.) zugegeben. Schopenhauer geftebt näm— 
lich zu, daß „vie berichtigte, erweiterte und grünblichere Kenntniß der 
Natur einerfeit die bis dabin geltenden metaphyſiſchen Annahmen 
immer untergräbt und enblich umftößt, andererfeit aber das Problem 
ber Metaphyſik ſelbſt deutlicher, richtiger und vollftändiger vorlegt“; 
deshalb folle fich auch Keiner an die Metaphufif wagen, „ohne zuvor 
eine, wenn auch nur allgemeine, doch gründliche, Hare und zufanımen- 
hängende Kenntniß aller Zweige der Naturwiffenfchaft ſich erworben 
zu haben“. ft damit nicht den Fortfchritten in der Phyſik das Ge— 
wicht wieder zurüdgegeben, das ihnen vorher genommen worden war, 
mb ift micht Schopenhauer’s eigene, anf die Naturwiffenfchaft ſich 
jtüßende, aus der Aftronomie, Geologie, Chemie, Botanik, Zoologie Die 
empirifchen Belege für die Wahrheit ihrer Pehren hernehmende Mie- 
taphyſik der ſchlagendſte Beweis non dem wichtigen Einfluß der Phyſik 


auf Die Metapbiil? Zeigt wicht das weite Buch der „Wet als Mile 
und Vorſtellung“ und die Schrift „Ueber den Willen in der Natur‘ 
überall die Spuren des mächtigen Einflufjes, den Die natunpiffenfchaft- 
liche Erlenntniß von der Erjcheinung auf. bie Erlenntniß ihres 
Weſens bei Schopenhauer gehabt hat? 

Wenn Schopenhauer dabei dennoch bie Phyfit der Melaphyſit 
dualiſtiſch entgegenſetzte, ſo kam dies nur daher, daß er überhaupt die 
Wiſſenſchaſten in ein dualiſuſches Verhältmiß zur Philoſophie ſette, 
und dieſes lam wieder von feiner dualiſtiſchen Entgegenſetzung der Er- 
ſcheinung gegen das Ding an ſich, die freilich zu ſeinem ſonſtigen 
Monismus nicht ſtimmt. Die Wiſſenſchaften Haben es nad) Schopen- 
haner nämlich mr mit den nach dem Sag vom Grunde verfnüpften 
Erſcheinungen zu thun, Kunft und Phifofophie hingegen mit bem bon 
allen Relationen, die der Sag vom Grunde ausbrüdt, freien Weſen 
oder Was ber Erſcheinungen. Zwiſchen der wifjenfchaftlichen Betrach⸗ 
tungsweife, gemäß bem Sat, vom Grunde, und der genialen bes Kinft- 
lers und Philoſophen, unabhängig von demſelben, ift nach Schopen- 
bauer eine Muft. So wie der Gegenftand Beider verſchieden ift, 
jo auch dns Organ, vermittelft deſſen er erfannt wird. Dort 
herrſcht die discurfive, hier die intuitive Erfenntniß. Jene gebt in 
die Breite, diefe in die Tiefe. Charafteriftiih für diefe Auffaffung 
find befonders die Stellen in „Welt als Wille ımd Vorſtellung“, 
in denen das Ungenügende aller Wiffenfchaft und dagegen das Ge- 
nügende der Kunſt und der mit ihr verwandten Philojophie dargelegt 
wird. Alle Wiſſenſchaft im eigentlichen Sim, d. h. nach Schopen- 
hauer die foftematifche Erlenntniß am Leitfaden des Satzes vom Grumbe, 
lann ‚nie ein letztes Ziel erreichen, noch eine völlig genügende Erklä- 
tung geben, weil fie das innerfte Wefen der Welt mie trifft, wie über 
die Vorftellung hinauslann, vielmehr im Grunde nichts weiter, als das 
Verhãltniß einer Vorftellung zur andern lennen lehrt. (S. Schopen- 
hauer / Lexilon unter Wiſſenſchaft: das Ungenügende der Wiffenfchaft.) 
„Während die Wiſſenſchaft, dem raft- und beftanblofen Strom vier- 
fach geftalteter Gründe und Folgen nachgehend, bei jedem erzeichten 
Biel immer wieber weiter gewiefen wird und mie ein letztes Ziel, noch 
völlige Befriedigung finden famı, fo wenig als man durch Laufen den 
Punft erreicht, wo die Wolten ben Horizont berühren; fo ift Dagegen 

qr 


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die Kunſt (und die mit ihr verwandte Phifefophie) überall am Ziel. 
Dem fie reift das Object ihrer Kontemplatien heraus ans dem Strome 
des Weltlaufs und bat es ifolirt vor fich: und dieſes Einzelne, was in 
jenem Strom ein verjchwindend Tleiner Theil war, wirb ihr ein Re— 
präjentant des Ganzen, cin Aequivalent des m Raum und Zeit ımenp- 
lich Bielen: fie bleibt daher bei dieſem Einzelnen ftehen: das Rad ver 
Zeit hält fie an: vie Relationen verjchwinten ihr: nur das Wefent- 
liche, tie Soce, ijt ihr Object. — Wir können fie daher geradezu be- 
zeichnen al8 die Betradhtungsart ver Dinge unabhängig vom 
Cape des Grundes, im Gegenfaß der gerade dieſem nachgehenden 
Betrachtung, welche der Weg der Erfahrung und Wiffenfchaft ift. 
Diefe letztere Art der Betrachtung ijt einer unendlichen, horizontal lau⸗ 
fenden Linie zu vergleichen; die erjtere aber ter fie in jedem befiebigen 
Punkte fchneidenden fenfrechten. Tie dem Cat vom Grunde nad 
gehende ift die vernünftige Betrachtungsart, welche im praftifchen 
Leben, wie in ber Wiffenfchaft, allein gift und Hilft: vie vom Inhalt 
jenes Satzes wegjehende ift Die geniale Betrachtungsart, welche in ver 
Kunft allein gilt und Hilft. Die erjtere ijt die Betrachtungsart des 
Ariftoteles; die zweite ift im Ganzen bie des Platon. Die erftere 
gleicht dem gewaltigen Sturm, ber ohne Anfang und Ziel dahinfährt, 
Alfes beugt, bewegt, mit jich fortreigt; die zweite dem ruhigen Sonnen: 
jtrahl, ver den Weg dieſes Sturmes durchſchneidet, ven ihm ganz 
unbewegt. Die erftere gleicht den unzähligen, gewaltjam bewegten 
Tropfen des Wafferfalle, die, ſtets wechjelnd, feinen Augenblid raften: 
die zweite dem auf diefem tobenden Gewühl jtilfe ruhenden Regen— 
bogen.” („Welt als Wille und Berjtellung“, I, 217 fg.) 

An einer andern Stelle fagt Schopenhauer: „Wir dürfen uns 
nicht verbehfen, daß das, was die Wiffenfchaften an den Dingen be: 
trachten, im Weſentlichen nichts Anderes ift, als ihre Relationen, die 
Berhältnifje der Zeit, des Raumes, die Urjachen natürlicher Verände- 
rungen, die Vergleichung ver Gejtalten, Motive der Begebenheiten, 
alfo lauter Relationen. Was jie von der gemeinen Erkenntniß ımter: 
ſcheidet, ijt blos ihre Form, Das Syſtematiſche, die Erleichterung ver 
Erkenntniß durch Zufanmenfaffung alles Ginzelnen, mitteljt Unterord— 
nung der Begriffe, ins Allgemeine, und dadurch erlangte Volljtändig- 
teit derſelben.“ („Welt ald Wille und Vorſtellung“, I, 208.) 


| 


21 


Dieſer Entgegenfegung ber. Wiffenfchaften gegen, KR 
Poitofophie, welche beibe Teteren ſich nicht in ber —— 

art, ſondern nur im Umfang und in der Ausbrudsweife —— 
unterſcheiden (vergl, Schopenhauer-Lexikon unter Kunft: 
fchaft der Kunft mit der Philofophie und Unterfchieb beiber), wi 
die Wiffenfchaften Beiden durch die Betrahtungsart ‚entgegengefekt, 
find, Laun ich mich nücht a anſchließen. Weber Haben es die Wiſſen⸗ 
ſchaften blos mit den Relationen ber Dinge gemäß dem Satz dom 
Grunde zu, thun, noch jehen Kunft und Philofophie von allen Rela⸗ 
tionen ab, wie Schopenhauer annimmt; ſondern der Gegenſat iſt ein 
anderer. 

Von der Kunſt werde ich bei Beſprechung der äſthetiſchen 
Lehren Schopenhauer's zeigen, daß die künſtleriſche Betrachtuugsart 
ber Dinge biefelben Teineswegs von ‚allen Relationen, fonbern nur 
von. einer gewiffen Art von Relationen abfieht. Was aber bie 
Wiſſenſchaften betrifft, fo braucht man fich ja nur ‚daran zu erinnern, 
daß, fie, wenngleich es eine jede nur mit einer bejtummten Gruppe don 
Erfcheinungen zu thun hat, doch nicht die bloßen äuferfichen, nach 
Ort, Zeit und Umftänden wechſelnden Relationen, ſondern das be— 
harrlide innere Wefen derfelben und ihre conftanten Geſetze 
zum Gegenftand der Unterfuchung Haben, um den Gegenfak, den Schopen- 
hauer zwifchen der wiſſenſchaftlichen und ber philoſophiſchen Betrach⸗ 
‚tungsart macht, als unhaltbar zu erlennen. 

Nach meiner Auficht TE Ber Gegenſatz ber Philoſophie zu ben 


n 


| Speciafwiffenfchaften nur der Gegenfag ber allgemeinften Wiffen- 


ſchaft zu den befondern Wiffenfchaften. Mit dem Was, bem con- 
ftanten Wefen der Dinge over den Ideen berfelben haben es Beide 
zu thun. Aber während die befondern Wiffenfchaften fich auf die Er- 
gründung bes. Wa 8 beſtimmter Claffen von Erfcheinungen befchränfen; 
fo geht vie Philofophie darauf aus, das Was oder Weſen ber ge> 
fommten Erfeheinungswelt zu erlennen. 

Da nun aber das Allgenteine dem Beſondern immanent ift und 
ſich für die Erleuntniß nur durch Zufammenfaffung alles Befondern 
und durch Abftraction aus diefem gewinnen Lift, fo bleibt die Philos 
fophie abhängig von den Einzelwiffenfchaften und lann nur mit biefen 
zufammen fortſchreiten. Jede Berichtigung und Vervollſtändigung der 





22 


Phyſik (im weiteften Sinne) muß auch eine Berichtigung und Ber: 
polfftändigung der Metaphyſik zur Folge haben, wofern man unter 
Metaphyſik die Wiffenfchaft des allem Beſondern immanenten AI: 
gemeinen verftebt. 

Berftcht man hingegen unter dem Metapbpfifchen ein jenfeits aller 
Erſcheinung Liegendes, toto genere von ihr Verſchiedenes, ein dua⸗ 
Liftifch der Welt Entgegengefeßtes, kann freilich Hilft aller Fortfchritt 
in ter Phyſik nichts zur Metaphyſik und Schopenhauer bat alsdann 
Recht, daß, wie große Fortfchritte auch die Phyſik machen möge, da⸗ 
mit doch nicht der Heinfte Schritt in der Metaphyſil gemacht fein wirt, 
fo wie diejenigen Theologen, welche den Abfall ver Welt von Gott 
lehren, auch confequenter Weife die Unerkennbarkeit Gottes aus ber 
Welt behaupten müſſen. 

Aber Schopenhauer lehrt keinen Abfall ver Erſcheinung vom 
Weſen, fondern die Objectiration, d. h. die Sichtbarwerbung des We: 
ſens in der Crfcheinung; vie Welt jpiegelt ihr inneres Wefen, ven 
Willen ab, wie ber Yeib den ihn erganijirenten jpeciellen Yebenswillen. 
Folglich ift man berechtigt, feine bualiftifche Entgegenjekung der Wiffen- 
haften zur Philoſophie im Sinne feiner eigenen moniftifchen Weltauf⸗ 
faffung zu corrigiren und tas Berhültnig ver Wiffenfchuften zur Philo⸗ 

Z fophie dahin zu beflimmen, daß jene ung tus Weſen beſonderer 
$ Erfcpeinungsgruppen fenmen lehren, dieſe hingegen das allgemeine 
Y Wejen der gejammten Erſcheinungewelt. 


and u vu ak any nal — 
I mal mr 


Fünfter Brief. 


Ob beider Schopenhauer ſchen Veariffebehinmung der Philojophie noch von 
Metaphyſit die Rede jein könne. — Gegenfag der veralteten und ber 
neuen Metaphyſit. 





Sie erwidern, verehrter Freund, auf mein Voriges, baf, wenn 
die Philofophie weiter nichts fein ſoll, als eine abſtracte Ansfage vom 
Weſen der geſammten Welt, eine, wie Schopenhauer fagt, „vollftändige 
Wiederholung, gleichſam Abfpiegelung der Welt in abftracten Begriffen“, 
alsdann eigentlich von Metaphyfüt nicht mehr die Rede fein könne: 
Denn eine ſolche, die Welt nach ihrem immanenten. Wefen oder Was 
begrifflich abfpiegelnde Philoſophie ſage eigentlich blos: Seht her, fo 
iſt das innere Wefen der Welt befchaffen, und darum ift die Exfchei> 
nung ſo, wie fie iſt; aber fie erkläre uns nicht, wie es zu biefer Bes 
ſchaffenheit des Weltweſens fomme, Sie ſielle alſo eigentlich dns 
Welträthſel nur hin, löſe es aber nicht. Kurz, fie befriedige ar! 
metaphyſiſche Bedürfniß. 

Da haben Sie, wenn Sie unter dem metaphyſiſchen Bebürfnif 
das Verlangen verftehen, die wefentliche Bejchaffenheit ver Welt zu 
erflären, d. h. einen Grund anzugeben, warum die Welt wefentlich 
fo und nicht anders beſchaffen ift, freilich Recht. Aber bedeuten 
Sie doch nur, wie weit überhaupt das Erklären gehen lann. Jede 
Erllärung endigt ſchließlich bei einem Umerkflärlichen; jeve Begrün⸗ 
dung hat ihre Grenze am Grundlofen, jede Ableitung ihr Ziel an 
einem Unableitbaren. (Vergl. — — — be 
Aetiologie,) ' 

Wie man, wenn das innere Weſen⸗ die ffenz — 


J 


24 


wie ihre Eriftenz, keinen Grund bat, weil fie felbft ver lekte Grund 
von Allem ift — und bies lehrt ja Schopenhauer —; ift e8 ba noch 
möglich, fie zu erllären? Berlangt Ihr metaphyſiſches Bedürfniß 
nicht etwas Lnmögliches, wenn es die Erklärung eines an fi Uner: 
Härlichen verlangt? 

Indem Sie eine Erflärung ter Eſſenz der Welt verlangen, 
ſetzen Sie ja voraus, daß dieſe Effenz leine urſprüngliche, unentftan- 
bene ift. Dies wäre doch aber erft zu beweifen. 

Effenz und Eriftenz find untrennbar, wie Schopenhauer ge- 
zeigt bat. Jede Existentia fegt eine Essentia voraus, d. h. jedes 
Selende muß chen auch Etwas fein, ein bejtimmtes Wefen haben. 
Es Tan nicht daſein und dabei doch nichts fein; ſoendern jo wenig 
eine Iissentian ohne Existentia eine Realität liefert, eben jo wenig 
vermag dies eine Existentia ohne Essentia. (Vergl. Schopenhauer: 
Verifon: Essentia und Existentia.) 

Veiten wir nun die Eriftenz ber Welt nicht theologiich von 
einem überweltlichen Wefen, einem Gott, ab; fo bürfen wir and 
ihre Eſſenz nicht aus einem ſolchen ableiten. Halten wir bie 
Eriftenz der Welt für cine unentftantene, fo müſſen wir, wollen 
wir anders confequent denfen, auch ihre Eſſenz jür einc unentftandene 
balten. 

Wenngleich nun aber Metaphyſik in tem transicenden- 
ten, über tie Welt binautgehenten und tie Welt ihrer Crijten; und 
Eſſenz nach aus einem überweltlichen Grunde abfeitenren Sinne nicht 
mehr beiteben funn, fe wird darum tech nicht alle Metaphyſik anfe 
bören, ſondern an die Stelle jener veralteten tramäfcententen wirb bie 
neue, immanente, beſcheidenere Metaphyſik treten, welche blos be- 
ſtrebt iſt, aus der Erſcheinung das Weſen der Well zu erlennen. 
Die Metaphvſil, wenn man ũberhaupt noch dieſen Ramen beibehalten 
will, wirt ſich in Zuhunft mit dem Erreichbaren begnũgen; alle um- 
\ö6buren-rugen aber, jei c®, daß jte umelösber jint, weil ſie anf 
jalſchen Vorautſetzungen beruhen, eder weil tie menichidhe Erkenut⸗ 
nißtraft zu ihrer Yöfung wajübig üt, wirt fie aufgehen Sie wirb 
üb alſo auf Tue beichränten, weranf Scherenbamer jie beichränft 
wien will, anf Auslegung ter Welt. d. d. auf Darlegung des ber 
geſammten Erjcheinung immanenter Grundweſent. 


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Sechster Grief * 


Schopenhauer's Ausgangspunkt für die Erlenntniß des Weſens an ſich der 
Dinge. — Sein Antbropomorpbismus. — Gegenſatz zwiſchen dem 
wiſſenſchaftlichen und unwiſſenſchaftlichen Anthropomorphismus. — 
Vertheidigung Schopenhauer’s gegen Trendelenburg, Haym und Harms, 





Mit dev von Schepenhauer behaupteten Erlennbarleit des Weſens 
am fich ber Dinge aus der Erfcheinung ift, verehrten Freund, noch 
nicht gefagt, wo wir anzufegen, bei welcher ber vielen und verfchieden- 
artigen Erfcheinungen der Welt wir den Anfang zu machen haben, mm 
zum Wefen an fich zu gelangen. Diefe Frage bedarf einer befondern 
Beantwortung, und Schopenhaner hat fie beantwortet. Nach ihm ift 
der Anfang mit derjenigen Erſcheiuung zu machen, die ung am in- 
timften belanut ift, in der ſich das Ding an ſich am unmittelbarften, 
folglich am dentlichften Tund giebt. Das ift unſer eigenes Innere, 
Biden wir in diefes, fo finden wir als das Wefen, dem Kern unferer 
ganzen Erfceimmg den Willen. Die Wahrnehmung, in der wir bie 
Negungen und Acte des eigenen Willens erlennen, iſt eine bei Weiten 
unmittelbarere, als jede andere; fie ift der Punlt, wo das Ding an 
ſich am ummittelbarften in bie Erſcheinung tritt und in gröfter Nähe 
von erfennenden Subject beleuchtet wird; daher eben. der alſo intim 
erkannte Vorgang der Ausleger jedes andern zu werben einzig und 
allein geeignet ift: Bon uns müſſen wir daher ausgehen, um bas 
Wefen der Natur zu begreifen. Nicht Fönnen wir uns aus der Natur, 
fondern die Natur nur aus und verftehen, Nur dadurch fan man 
zum Dinge at fid gelangen, daß man bie unmittelbare Erlenntniß, 
welche Jeder vom innern Wefen feiner eigenen Teiblichen Erſcheinung 


# 


26 


bat, auf bie übrigen, lediglich in der objectiven Anfchauung gegebenen 
Erfoheinungen analogiſch überträgt und fo bie Selbfterfenntniß als 
Schlüffel zur Erkenntniß des innern Wefens der Dinge, d. h. der 
Dinge an fich felbft benugt. Zu biefer alfo fann man nur gelangen 
auf einem don ber rein objectiven Erfenntniß ganz verfchievenen Wege, 
indem man das Selbjtbewußtfein zum Ausleger des Bewußt— 
feins anderer Dinge macht. Dies ift der allein rechte Weg, bie 
enge Pforte zur Wahrheit. (S. Schopenhauer-Lerifon, unter Ding 
an fi: Auf welchem Wege allein zur Erfenntniß des Dinges an fih 
zu gelangen ift.) 

Diefes analogifche Liebertragen des im Selbſtbewußtſein erkannten 
Weſens unferer eigenen leiblichen Erfcheinung auf bie Erfcheinungen 
außer ung haben num aber die Gegner Schopenhauer’s als Anthropo- 
morphismus verworfen. Sch aber habe fchon in meiner Einlei⸗ 
tung zu der Gefammtausgabe der Werfe Schopenhauer’8 gezeigt, wie 
unverftändig dieſes iſt. (Vergl. Schopenbauer’s fämmtlihe Werke, 
I, XXXVI fg.) 

Es giebt nämlich zweierlei Antbropemorphismus, einen umwiſſen⸗ 
fchaftlichen und einen wiffenfchaftlihen. Der gläubige Anthropomer: 
phismus dichtet der Gottheit menschliche Individualität, nebſt menfch- 
lichen Affecten und Leidenfchaften, böfer oder guter Art, wie Eiferfucht, 
Zorn, Rache, Barmherzigkeit, Liebe, Verföhnlichkeit u. |. w. an. Der 
pbilofophifche Anthropomorphismus hingegen ift ganz anderer Art. Er 
denkt fich nicht da8 Wefen der Welt nach dem Bilde des Menſchen in ber 
Weife, wie der Gläubige feinen Gott; fondern ven Mifrofosmos 
mit dem Makrokos mos für dem Wefen nach identifch haltend, über: 
trägt er das im Selbftbewußtjein erfannte innere Wejen des Mikro- 
fosmo8 auf die dem Bewußtſein allein gegebenen Ericheinungen des 
Makrokosmos. Da nım Schopenhauer im Willen das innere Wefen 
des Mikrokosmos erkennt, jo glaubt er ſich auch von ber pantheifti- 
chen Vorausfegung der Einheit des Wejens aller Dinge aus berech— 
tigt, ven Willen für das innere Weſen der Welt zu erklären. (Vergl. in 
meinem Schopenhauer-Lerifon Milrofosmos und Makrokosmos.) 

Derartiger Anthropomorphismus findet fi ja auch bei andern 
Bhilofophen. Hegel 3. B. erflärt die Vernunft für das Wefen ber 
Welt. Die Vernimft Tennen wir aber auch zunächſt nur aus ung, 


mus verwerflich, wert bie Uebertragtng des menfchlichen Wefens auf 
die Dinge aufer uns in der Weife gefchähe, daß über der Ibentität 
des Weſens der fpecififche Unterſchied der Erfcheinungs- und Aeuße- 
rungsweiſe biefes all-einen Wefens auf den verſchiedenen Stufen der 
Welt überfehen würde, wenn alfo Hegel unter der Weltvernumnft die 
fpecififch menfchliche, überlegende und ſchließende Vernunft, und Schopen⸗ 
hauer unter dent Willen den ſpecifiſch menfchlichen, durch bawufte 
Zwede geleiteten, wählenden und beſchließenden Willen verftanden hätte, 

Schopenhauer, mit dem ich es hier allein zu thun habe, hat ſich 
dieſes Fehlers nicht ſchuldig gemacht. Denn er hat über der Ientität 
des Weltwillens feinestwegs die fpecififchen Artunterſchiede der Aeuße- 
rungeweiſen biefes einen Willens auf den verſchiedenen Stufen der 
Natur überfehen, fi hat fie ausdrücllich hervorgehoben. Deshalb 
ift auch der Vorwurf, den Haym und Trendelendurg der Schopen⸗ 
hauer’fchen Philoſophie wegen ihrer Verallgemeinerung des Willens 
machen, völfig ungerecht. Haym (Arthur Schopenhauer, Berfin 1864, 
©. 24) findet das rpöroy Geddoe der Schopenhaner’fchen Philoſophie 
in ber BVeralfgemeinerung des Willens, im der Erhebung des Willens 
zur Gattung, von der die Naturkräfte und der menschliche Wille nur 
Arten bilden. „Wir follen“, jagt Hahm, „von bem Specifiſchen unjers 
Willens abftrahiren, damit es Feine Schwierigkeiten habe, die Ioentität 
deſſelben mit alfer und jeber Naturfraft anzuerkennen, und ſofort und 
gleichzeitig doch ſollen wir dies Allgemeine nicht Kraft, fondern Willen 
nennen, damit nach Belieben nm wieder im die Natınkräfte alles Mög ⸗ 
liche hineingedichtet werben Fönne, was in Wahrheit nicht fie, fonbern 
bei menfchfichen Willen charakterifict.“ 

Den Beweis aber dafür, daß Schopenhauer in die Naturlräfte 
den menſchlichen Willen hineindichtet, iſt Hahm ſchuldig geblieben. Hat 
Schopenhauer eiton den Sternen am Himmel und den Steinen, Pflau⸗ 
zen und Thieren auf der Erde ſpecifiſch meuſchlichen, d. H. durch 
abftraete Motive beftimniten, Willen beigelegt? — Hat er j 
die Artunterſchiebe des allgemeinen Willens ſcharf hervorgehoben, 





28 


er gezeigt, wie verfchieben bie Aeußerungs weiſen bes einen identiſchen 
Weltwillens auf den verſchiedenen Stufen ber Natur find, wie bie 


morganifchen Körper durch phyſikaliſche und chemijche Urſachen, bie 
Pflanzen durch Reize, vie Thiere und Menfchen durch Motive, und 
zwar jene lediglich durch anfchauliche, bieje überdies noch burch ab- 
ftracte Motive in Bewegung geſetzt werden? (S. Schopenhauer-Lerifon 
unter Urjache: die rei Formen ber Urfüchlichkeit, und unter Menſch: 
Unterjchieb zwifchen Thier und Menſch.) 

Trendelenburg's Einwurf gegen die Schopenhauer’fche Ber: 
allgemeinerung des Willens ijt folgender („Logiſche Unterfuchungen“, 
2. Aufl, U, 110): Schopenhauer babe nirgends gezeigt, „welcher aribil: 
dende Unterjchieb zu den Begriff des Willen Hinzutritt, um ben Begriff 
ver Kraft aus dem allgemeinen des Willens zu erzeugen.” Jede Zuräd: 
führung führe zu einem Allgemeinceren; „aber Schopenhauer hat nirgends 
gejagt, wie der Begriff des Willens ver allgemeinere if. Die ver: 
meintliche Zurüdführung ijt nur eine Analogie, aber tie Analogie 
muß trügen, weil ſie das fallen läßt, was das Weſen unjers Willens 
ausmacht; fie nimmt ten Willen nicht ſpecifiſch, und daher nicht mebr 
als Willen, aber in der Amventung auf die Welt ter Kräfte ſchiebt 
jie ſtillſchweigend ein Analogon unſers Willens, tes Willens in der 
jpecifiihen Bedentung, des aus Grund un Zwed beitimmbaren Willens 
unter, wie z. 9. bei der Erflürung ber Teleolegie in ver Natur. Wir han- 
tiven, wenn wir Schopenhauer leſen, von jelbjt mit dem Willen, wie wir 
ihn lennen, jellen ihn aber nur nehmen, wie wir ihn nicht Tennen.“ 

Ties iſt nun zwar ſchen durch tus eben gegen Haym Gejagte 
widerlegt. Ich füge aber noch Folgendes hinzu Schepenhauer Bat 
austrüdib TuS Weſen red Willen ven jeinen Erſcheinungs— 
formen, den verjebierenen Arten cter Ztufen des Willens unter: 
ſchieden. Wir baden nad ihm Tas, wur nidt tem Willen ſelbſt, 
ſondern ſchon feiner. viele Grade babenten Erſcheinung angebört, von 
ibm jelbit zu unterſcheiden: dergleichen üt ; B. das Begleitetjein ven Er⸗ 
fenntnik und dad dadurch dedingte Beſtimmtwerden turd Motive. 
Dieſes gedört nich ven Weſen rei Willene, ſondern bles ſeiner 
deutlichen Erſcheinung als Tdier und Menſch an .Wenn ich daher 
jagen werde: Die Kraft, welche ten Stein zur Erde reibt, iſt ihrem 
Weſen wach, an ſich und außer aller Verſtelung. Wille: ic wird men 


2 


diefem Sat nicht die tolle Meinung unterlegen, daß der Stein ſich 
nach einen erfannten Motive beivegt, weil Im Menfchen ver Wille 
alſo erjcheint.” („Welt als Wille und Vorſtellung“, I, 126.) „Er: 
tenntniß des Identiſchen in verſchiedenen Erſcheinungen und des Ver ⸗ 
ſchiedenen in ähnlichen iſt eben, wie Platon fo oft bemerlt, Bedingung 
zur Philoſophie. Man hatte aber bis jegt die Identität des Wefens 
jeber irgend ftrebenden und wirkenden Kraft in der Natım mit dem 
Willen nicht erkannt, und daher die mannigjaltigen Erſcheinungen, 
welche nur verſchiedene Species deſſelben Genus find, nicht dafür an- 
gejehen, fonbern als Heterogen betrachtet: deswegen Fonnte auch fein 
Wort zur Bezeichnung bes Begriffs diefes Genus vorhanden fein. 
Ich benenne daher das Genus nad) der vorzüglichften Species, deren 
uns näherliegende, unmittelbare Erfenntnig zur mittelbaren Erlenntniß 
aller andern führt. Daher aber würde in einem immerwährenden 
DMifverftändnif befangen bleiben, wer nicht fühig wäre, die hier ge— 
forderte Erweiterung des Begriffs zu vollziehen, fondern bei dem 
Worte Wille immer nur noch die bisher allein damit bezeichnete eine 
Species, den vom Erfennen geleiteten und ausſchließlich nad Motiven, 
ja wohl gar nur nach abjtracten Motiven, alſo ımter Peitung der 
Vernunft ſich Äußernden Willen verſtehen wollte, welcher, wie gejagt, 
nur die deutlichſte Erſcheinung des Willens iſt. Das uns unmittel- 
bar befannte innerfte Wefen eben dieſer Erfcheinung müſſen wir in 
Gedanfen rein ausjondern, es dann auf alle ſchwächern, undeutlicheren 
Erſcheinungen deſſelben Weſens übertragen, wodurch wir die erlangte 
Erweiterung des Begrifjs Wille vollziehen.” („Welt als Wille und 
Borftelfung“, I, 132.) 

Es iſt gegenüber biefer ausdrücllichen Warnung vor Verwechelung 
des allgemeinen Wejens des Willens mit einer feiner befondern Er- 
ſcheinungsformen ein höchft ungerechter Vorwurf, wenn man Schopen- | 
hauer noch immer, wie Hahm und Trendelenburg, vorwirft, daß er 
der Natur den menſchlichen Willen unterſchiebe, — gerade jo un- 
gerecht, tie wenn man Einem, der ben Begriff ver Sprache verall- 
gemeinert, aljo nicht blos dem Menſchen, fondern auch den Thieren 
Sprache zufchreibt, weil er unter Sprache überhaupt die Mittheilung 
durd Zeichen, jeien biefe nun bloße Gebärden, ober unarticulirte 


Kai 


23 


er gezeigt, wie verſchieden bie Aeußerungsweiſen des einen identiſchen 
Weltwillens auf ven verſchiedenen Stufen ber Natur find, wie bie 
unorganifchen Körper durch phyſikaliſche und chemische Urfachen, vie 
Pflanzen durch Reize, die Thiere und Menfchen durch Motive, und 
zwar jene lediglich durch anfchauliche, dieſe überdies noch durch ab- 
ftracte Motive in Bewegung gefeht werden? (S. Schopenhauer-Lerifon 
unter Urfache: die drei Formen ber Urfächlichfeit, und unter Menſch: 
Unterfchieb zwiſchen Thier und Menſch.) 

Trendelenburg's Einwurf gegen die Schopenhauer'ſche Ver⸗ 
allgemeinerung des Willens iſt folgender („Logiſche Unterſuchungen“, 
2. Aufl., U, 110): Schopenhauer habe nirgends gezeigt, „welcher artbil- 
dende Unterjchied zu den Begriff des Willen Hinzutritt, um ben Begriff 
der Kraft aus dem allgemeinern des Willens zu erzeugen.” Jede Zurüd: 
führung führe zu einem Allgemeineren; „aber Schopenhauer hat nirgends 
gefagt, wie der Begriff des Willens der allgemeinere ift. Die ver- 
meintlihe Zurüdführung ift nur eine Analogie, aber die Analogie 
muß trügen, weil fie das fallen läßt, was das Weſen unfers Willens 
ausmacht; fie nimmt den Willen nicht ſpecifiſch, und daher nicht mehr 
als Willen, aber in der Anwendung auf die Welt ver Kräfte fchiebt 
fie jtilljchweigend ein Analogon unjers Willens, des Willens in der 
fpecififchen Bedentung, des aus Grund und Zweck bejtimmbaren Willens 
unter, wie 3. 3. bei der Erflärung der Teleologie in der Natur. Wir han— 
tiven, wenn wir Schopenhauer lefen, von jelbjt mit dem Willen, wie wir 
ihn fennen, follen ihn aber nur nehmen, wie wir ihn nicht kennen.“ 

Dies ift nun zwar fchon durch das oben gegen Haym Geſagte 
widerlegt. Ich füge aber noch Folgendes hinzu. Schopenhauer hat 
ausbrüdlih das Wefen des Willens von feinen Erſcheinungs— 
formen, den verfchiedenen Arten ober Stufen des Willens unter: 
fhieden. Wir haben nad) ihm Das, was nicht dem Willen jelbit, 
fondern ſchon feiner, viele Grade habenden Erſcheinung angehört, von 
ihm felbft zu unterfcheiden ; dergleichen iſt 3. B. das Begleitetfein von Er⸗ 
fenntniß und das dadurch bebingte Beſtimmtwerden durch Motive. 
Dieſes gehört nicht ben Wefen des Willens, jondern blos feiner 
deutlichen Erſcheinung als Thier und Menſch an. „Wenn ich daher 
jagen werbe: Die Kraft, welche ven Stein zur Erde treibt, ift ihrem 
Wefen nad, an fih und außer aller Vorftellung, Wille; jo wird man 


\ (neben der Schwere) bie jo Hare 
— —— 


äufernde Streben, nach Selbſterhaltung für das allgemeine Weſen 
des Willens auf allen Stufen feiner Erſcheinung ober für. die Grund⸗ 
beftrebung des Willens. Wollte man aud hierin noch Anthropo— 
morphismus finden, mm, fo müßte man ja auch die Naturwiſſen- 
ſchaft, indem fie den Körpern Anziehung und Abſtoßung und. den 
chemiſchen Stoffen Wahl ver wandtſchaft beilegt, des — 
phismus beſchuldigen. 

Bill, man abſolut feinen. Authropomorphismus, will man abfofut 
nichts dem menfchlichen Weſen Aehnliches den Anfendingen beigelegt 
wiffen, nun fo muß. man überhaupt auf alles Begreifen derſelben ver— 
zichten. Denn man muß annehmen, daß zwijchen dem menfchlichen 
Weſen und dem der Außendinge eine unüberfteigliche Kluft ift, daß 
beide toto genere verſchieden find, ganz heterogenen Welten ange- 
hören. Wie follte man da aber noch fähig fein, die Bewegungen, und 
Zuftände der Außendinge zu begreifen? Und wie ließe ſich noch die 
unfeugbare Beziehung des Menfchen zur Außenwelt, feine Einwir⸗ 
tung auf fie und ihre Einwirlung auf ihn erllären? Beweiſt biefe 
gegenfeitige Einwirkung nicht ihre innere Verwandtſchaft? Iſt folglich 
der philoſophiſche Anthropomerphismus nicht ein. berechtigter? 

Auftatt aus ber Erweiterung des Begriffs des Willens Schopen- 
hauer ‚einen Vorwurf zu machen, wird der Einfichtsvolle fie ihm viel⸗ 
mehr, zum, Verbienfte aurechnen. Ja, die ‚größten und. gläuzendſten 
Sortfchritte dev Wiſſenſchaften beruhen auf ſolchen Begriffserweiterungen 
oder Berallgemeinerungen, ‚auf der Entpedung, daß eine Eigenſchaft, 
eine Wirlungsweiſe, ‚ein Geſetz, das man, ‚bisher, nur, ‚auf, eine enge 
Gruppe, von Erſcheinungen befchränft ‚glaubte, ‚weit allgemeiner und 
umfaſſender ift. Eine folche Erweiterung erfuhr, z. B. der Begriff 
der Schwere, als man ihn von ben — auf. die himmlischen 
Körper übertrug. 


J 


32 


Hieraus fünnen Sie beilinfiz entuehmen, was teren zu haften 
ft, wenn ein DBerfiner Prefeffor ter Phileſephie, Prefeffer Harms, 
m emem „Tertrıg über Zcherenbumer's Pbileſephie“ (Berl 1374, 
Berlig von RB. Kerk) fügt, ver Zchepeubuuer'jce Autbrepolegieunt, 
ter tie Anthropologie zur Kosmelegie macht, ftebe „mit allen Wiffen⸗ 
fchaften im Kireriprud“. „Tie Naturwiſſenſchaften“, jagt Harms, 
„vollen ten Menſchen ans ver Zelt nach jener Stellung im ihr be- 
greifen Die Theologie will tie Welt aus Gert verfichen. Die 
geidichtlichen umb tie ethiſchen Wifſenſchaften, fie beſchäftigen fich webl 
mit dem Veben des Menſchen, aber, ta fie tufjelbe begreifen wollen, 
nehmen fie an, daß über ties Veben eine Geſetzmäßigkeit wie eine 
höhere Macht berriche, der es unterwerjen und verpflichtet if. Den 
Menfchen wollen alle Wiſſenſchaften begreifen ame etwas Hẽheren als 
ter Menſch ift. Gr felbft ijt nur eine Thatſache, mb nur ter Sen 
fualiemns macht bloße Tihatfachen des Bewuktjeins, worin fich Beides 
sorfintet, daß ich will une vorftelle, zu Grlfürmgeprincipien ter 
Belt. Der Anthropologiemne, das Unternehmen von Arthur chepen: 
bauer, ift eme Umlehrung in ten Principien ber Wiſſenſcheafte⸗ 
bildung.” (S. 14.) 

Wem ter Kerr Profefior, jtatt zu ſagen, tab alle Wiſſen 
fchaften die bejondern Erſcheimmgen oder Thatſachen aus etwas 
„Höherem” zu erflüren ſuchen, gejagt bütte: aus etwas „Allge— 
meinerem“, dam hätte er Recht gehabt. Aber tie Erklärung des 
Befondern aus dem Allgemeinen jchliegt gar nicht aus, daß dieſes 
Alfgemeine jelbft erft turch denkende Betrachtung des Beſondern ge- 
funden wird. Ya, e8 giebt gar feinen andern Weg für uns, zur Er- 
fenntniß des Allgemeinen zu gelangen, al8 durch denkende, vergleichente 
Betrachtung des Beſondern. Diefes Abſtrahiren des Allgemeinen aus 
dem Befonvern ijt darum noch fein Erflären des Allgemeinen aus 
dem Befonvern, ſondern nachdem das Allgemeine durch denkende Be— 
trachtung des Befondern gefunden morben ift, wird umgekehrt das 
Allgemeine zum Erllärungsprincip bes Beſondern gemacht. 

Nım, Schopenhauer hat ja auch nicht die Welt aus dem Men- 
fchen erklärt, Hat nicht den Menfchen zum Urheber der Welt ge- 
macht, fondern hat nur durch denkende Betrachtung des Menfchen und 
Bergleichung des menjchlichen Wefens mit den Wefen ter andern Er- 


33 


ſcheinungen das allgemeine Wefen der Welt, aus welchen ber Menſch 
jo gut, wie alle andern Erfcheinungen zu begreifen find, gefunden. 
Bom Befondern ausgehend, ift er zum Allgemeinen gelangt, aus wel- 
chem alles Beſondere zu erklären if. Mit welchem Rechte wirft ihm 
aljo Harms „eine Umkehrung in den Principien aller Wiffenfchafte- 
bildung” vor? 


Srauenfäbt, Neue Briefe. 8 


m nem * 


! 


Siebenter Brief. 


Gonfequenz des Grundgedankens der Schopenhauer’ihen Metaphyſik. — 
Die unbewußte Borftellung bei Schopenhauer und von Hartmann. 


Ich habe Ihnen, verehrter Freund, in meinem vorigen Briefe dei 
Grund angegeben, aus welchem ich Schopenhauer’8 Anthropomorphismut 
für einen berechtigten halte. Weit entfernt, ihm mit den Profefforer 
einen Vorwurf aus demfelben zu machen, möchte ich ihm vielmehr ven 
Borwurf. machen, daß er darin nicht weit genug gegangen ift, weil a 
blos den Begriff des Willens veralfgemeinert hat und nicht zugleid 
auch den der Vorftellung Die Vorftellung läßt Schopenhauer be 


kanntlich erft auf der Stufe der Thierheit eintreten; während Doch aut 


dem Grundgedanken feiner Metaphyſik folgt, daß alle Wefen einer: 
feits wollend und andererfeits vorftellend find. 

Schopenhauer fagt zwar, „daß biefe Welt, in der wir leben unb 
find, ihrem ganzen Wefen nach, durch und durh Wille und zugleich 
durch und durch VBorftellung ift”. („Welt als Wille und Vorftellung“, 
1, 193.) Da er aber gleich binzufügt, daß die VBorftellung ſchon ala 
jofhe eine Form vorausfegt, nämlich die Form des Bewußtſeins, 
und er dieſe Form erft im Gehirn des Thieres eintreten läßt (vergl. 
in meinem Schopenhauer -Lerifon die Artikel Vorftellung und Be- 
wußtfein); jo ift Har, daß er die Vorftellung nicht in demfelben 


, Sinne generalifirt hat, wie ven Willen. Er fagt zwar, daß bie 
Welt Borftellung, d. h. Object für das erfennende Subject ift, 


aber nicht, daß alle Wefen vorftellend, erfennende Subjecte find, 
daß folglich das Vorftellen eben fo allen Wefen zufommt, wie 
das Wollen. 


der feinen Monaden ebenfo — — ee 

im Anſchluß an Leibnitz Hat es neuerdings auh Maximilian 
Droßbach gelehrt, der biefen Gedanken befonders in feiner Schrift 
„Meber die verfehiedenen Grade der Intelligenz und der Sittlichfeit in 
ber Natur“ (Berlin, 1873, Verlag von F. Henſchel) ausgeführt hat. 

Aber, daß aud die Schopenhauer’fche Philofophie conjequenter- 
weife dazu dräuge, nicht blos das Wollen, fondern auch das Vor— 
ſtellen als eine allgemeine Cigenfchaft zu betrachten, das will ich 
Ihnen jet zeigen. 

Der gewöhnlichen Anficht der Dinge gegenüber, welche zwei grund 
verſchiedene Principien der Bewegung annimmt, indem fie die Bewver 
gung der Körper entweder von Innen, d. i. vom Willen ausgehen, 
oder von Außen, d. i. durch Urſachen Hervorgebracht fein läßt, — 
dieſer alten, noch jegt verbreiteten Anficht gegenüber lehrt Schopenhauer, 
daß es feinem jolhen Dualismus der Principien der Bewegung gebe, fon 
dern daß vielmehr jede Bewegung ſowohl von Inmen ans ven Willen, 
als von Außen, aus wirkenden Urfachen, hervorgehe. Denn bie ein- 
geftändlich aus dem Willen hervorgehenden Bewegungen der anima- 
lichen Weſen jegen immer auch eine Urfache voraus, die hier eine 
als Motiv wirkende Borftellung ift, und anbererfeits bie eingeftänd- 
lich durch äußere Urfachen bewirlten Bewegungen der Körper feien an 
ſich doch Aeußerungen ihres Willens, welcher durch die äufern Ur— 
ſachen blos hervorgerufen wird. „Es giebt demnach nur ein einziges, 
einförmiges, burchgängiges und ausnahmsloſes Princip aller Bewegung: 
ihre innere Bedingung ift Wille, ihr äußerer Aulaß Urſache.“ 
(‚Meber den Willen in der Natın“, ©. 84 fg.) 

Nun theilt aber ferner Schopenhauer die willenbewegenden Ur- 
ſachen in drei Claſſen. Die erfte Claſſe bilden die im unorganiſchen 
Gebiete herrſchenden Urfachen, die Schopenhauer Urſachen im engften 
Sinne nennt; die zweite bilden die im vegetativen Gebiete herrichenden 
Urfachen, d. i. die Reize; die dritte die im animalifchen Gebiete 
herrſchenden, d. i. die Motive. (Vergl. Schopenhauer-Lerifon unter 
Urfade: Die drei Formen der Urfächlichkeit.) 

Diefe drei Formen von Urfachen wirken zwar, wie Schopenhauer 


Siebenter Brief. 


Goniequenz ve? Grindgedanlens ter Ecdorenbauer'iden BMetapbrit. — 
Tie unbewußte Rorftellung bei Ecdhopenbauer un? von Gartmaum. 


— — — 


Ich Habe Ihnen, verehrter Freund, in meinem vorigen Briefe ten 
Grund angegeben, aus welchem ih Schepenhauer'® Antbrepemerpbitumt 
für einen berechtigten halte. Weit entjernt, ibm mit den Frefeijeoren 
einen Vorwurf aus temjelben zu machen, möchte ich ihm vielmehr ven 
Vorwurf machen, daß er darin nicht weit genug gegangen ift, weil « 
blos ven Begriff des Willens veraffgemeinert hat und nicht zugleich 


“and ven ter Borjtellung. Die Zeritellung läßt Schepenhaner be 
kanntlich erft auf der Stufe ter Thierbeit eintreten: wührene doch ame 


tem Gruntgebanfen feiner Metaphyſik folgt, daß alle Weſen einer: 
ſeits wollend und antererjeitö veritellent ſind. 

Schopenhauer fagt zwar, „daß tiefe Welt, in ver wir leben umb 
jind, ihrem ganzen Weſen nad, durch unt turd Wille und ;ugleich 
durch und durch Borftellung it”. („Welt ale Wille un? Verſtellung“, 
1, 193.) Da er aber gleich binzufügt, tab tie Vorſtellung ichen als 
ſolche eine Form verausjekt, nämlich tie form tes Bewußtſeins, 
und er tieje Form erft im Gehirn res Thieres eintreten läßt ınergl. 
in meinem Schopenhauer -Yerilen tie Artikel Torftellung mt Be⸗ 


wußtſein); je ijt Har, daß er vie Terjtellung nicht in demjelben 


Sinne generaliſirt hat, wie ven Killen Cr jagt ;war, daß tie 


Welt Vorſtellung, d. h. Ibject für das erfennente Subject ift. 
aber nicht, daß alle Weſen vorftellend, erkennende Zubjecte finz, 
daß folglich das Borftellen eben ſo allen Weſen ;ufemmt, wie 
das Wollen. 


35 


Daß alle Weſen einerſeits vorſtellend, andererſeits wollend 
find, Hat bereits ein früherer Philoſoph gelehrt, nämlich Leibnitz, 
der feinen Monaden ebenfo perceptio wie appetitus zufchreibt. Und 
im Anſchluß an Leibnitz hat es neuerdings auch Maximiliau 
Droßbach gelehrt, der dieſen Gedanken beſonders in feiner Schrift 
‚Meber bie verfchiedenen Grabe der Intelligenz und der Sittlichfeit in 
der Natur“ (Berlin, 1873, Verlag von F. Henfchel) ausgeführt hat. 

Aber, daß auch bie Schopenhauer'fche Philoſophie conjequenter- 
weife dazu dränge, nicht blos das Wollen, fondern auch das Vor— 
ftellen als eine allgemeine Eigenſchaft zu betrachten, das will ich 
Ihnen jeßt zeigen. 

Der gewöhnlichen Anficht der Dinge gegenüber, welche zwei grund⸗ 
verfehiedene Prineipien der Bewegung amninumt, indem fie bie Bewe⸗ 
gung ber Körper entweder von Innen, d.i. vom Willen ausgehen, 
oder von Außen, d. i. durch Urfachen hervorgebracht fein läßt, — 
diefer alten, noch jegt verbreiteten Anficht gegenüber lehrt Schopenhauer, 
daß es feinen jolchen Dualismus der Prineipien der Beivegung gebe, ſon⸗ 
dern daß vielmehr jede Bewegung fowohl von Innen aus dem Willen, 
als von Auen, aus wirfenden Urfachen, hervorgehe. Denn die ein- 
geftändlich aus dem Willen hervorgehenden Bewegungen der anima- 
liſchen Weſen fegen immer auch eine Urſache voraus, die Hier eine 
als Motiv wirkende Vorftellung ift, und andererſeits die eingeſtänd⸗ 
lich durch äußere Urfachen bewirlten Bewegungen der Körper feien an 
fich doch Aeußerungen ihres Willens, welcher durch die äußern Urs 
ſachen blos Kervorgerufen wird. „Es giebt demnach nur ein einziges, 
einförmiges, durchgängiges und ausnahmslofes Princip aller Bewegung: 
ihre innere Bedingung ift Wille, »ihr äußerer Aulaß Urfache.“ 
(‚„Meber ben Willen in der Natur‘, ©. 84 fg.) 

Num teilt aber ferner Schopenhauer die twillenbewegenden Ur- 
jachen in drei Claſſen. Die erfte Claſſe bilden die im unorganifchen 
Gebiete herrſchenden Urfachen, die Schopenhauer Urſachen im engften 
Sinne nennt; bie zweite bilden die im vegetativen Gebiete herrfchenden 
Urfachen, d. i. bie Neize; bie britte die im animaliſchen Gebiete 
herrſchenden, d. i. bie Motive. (Vergl. Schopenhauer-Lerifon unter 
Urfache: Die drei Formen der Urfächlichkeit.) 

Diefe drei Formen von Urfachen wirfen zwar, wie Schopenhauer 

3* 


36 


zeigt, nach verſchiedenen Geſetzen; aber das Identiſche in allem breien 
ift, daß fie willenbeivegente Urſachen fin. Ein Motiv wirft nad 
Schopenhauer mit eben fo ftrenger Rothwentigleit, wie vie banbfeftejte 
Urfade. Sie erinnern fib ja wohl an jenen Ausſpruch, bag ein 
Motiv eben jo mächtig jei, bie Leute zum Kaufe hinanszumerfen, wie 
pie bandfeftefte mechanifche Urfache. (‚Die beiden Grimbprobleme ber 
Ethik“, S. 44 fo.) Ä 

Schopenhauer lehrt folglich nicht blos vie Ipentität des Willens 
auf allen Stufen ver Natur, jonbern auch bie Itentität der Gaufa- 
lität. Wir erkennen, lehrt er, durch Bereinigung ter äußern wit ber 
innern Erkenntniß, trotz aller accitentellen Verſchiedenheiten wei 
Identitäten, nämlib tie ver Caujalität auf allen Stufen um die 
des Willene auf allen. So wie tie Naturfrüfte außer und und ber 
Wille in une an jich identiſch find, jo find auch tie auf die Natur- 
früfte wirkenden Urſachen und bie auf unſern Willen wirfenten Ur- 
ſachen (Motive, d. i. Vorjtellungen) an ficb inentiib, d. 5. gehören 
zu derjelben Kategorie. 

Wie wichtig nach Schepenhaner tie Crfemtniß tiefer beides 
großen Arentitäten ift, mögen Sie daraus entuehmen, daß er fie für 
das Nuntument der wahren Phileſephie erflürt: „und wenn es rviefes 
Jahrhundert nicht einfieht, jo werten es viele felgende. Wie wir 
einerjeits das Weſen ver Camjalitüt, welches jeime größte Teutlichkeit 
nur anf den mietrigiten Stufen ter Natur but, wietererfennen 
auf allen Stufen, auch ven döchſten: ſe erfennen wir auch am- 
dererjeits das Weſen des Willens wieder auf allen Stufen, and 
den tiefſten, obyleub wir wur auf ber ullerbäciten dieſe Erfenntnik 
uummttelbar erhalten. Der ultee Irrtbum just: me Zlte ift, ift feine 
Cantalitie mebr, und we Suntalität, fein Wille. Wir uber jagen: 
überall, we Canſalitãt iſt, it Wille: und fein Wille agirt ebne Gan- 
jalität.“ „leder ven Willen m der Ratur“. S. 91 — 93.1 

Entiprechend dieſer Anficht, Die er für en Grudndftein jeiner 
Metaphyſik erflürt („Ueber die vierfache Wurzel des Sazes vom zu— 
reichenden Örunde“ S. 43), findet Schependauer jegur in der Analegie 
des Willens mit Der Zangentigllraft und der Motive mit der Centri 
pedaltraft mehr ala ein bleßee GOteichniß. Man klamm, lehrt er, das 
VDandeln tes Menſchen als das nothwendige Preduct des Charakters 


37 


und ber auf ihn wirkenden Motive fich veranfchanlichen an dem Lauf 
eines Planeten, als welcher das Nefultat ber biefem beigegebenen Tan 
gentialfraft und der von feiner Sonne aus wirlenden Gentripetalfraft 
ift, wobei bie erſtere Kraft den Charakter (ven Willen), die Iektere den 
Einfluß der Motive darſtellt. „Das ift faft mehr, als ein bloßes 
Gleichniß, ſofern nämlich die Tangentialtraft, von. welcher. eigentlich 
die Bewegung ausgeht, während fie von der Gravitation beſchränkt 
wird, metaphhfifch genommen, der in einem ſolchen Körper fich bar- 
ſtellende Wille ift.“ („Parerga“, II, 247.) 

Da nun Schopenhauer don den beiden großen Ipentitäten, bie er 
lehrt, die eine, die des innern Factors aller Bewegung, nach ihrer 
höchſten Stufe Wille benannt hat, jo jehe ich nicht ein, warum wir 
nicht berechtigt fein follten, auch die andere, die des äußern Factors, 
nach ihrer höchften Stufe Vorftellung zu nennen. Die Billard» 
fugel, die auf einen empfangenen Stoß in Bewegung geräth, ftellt 
freilich den ſtoßenden Körper nicht vor, aber den Stoß felbft muß fie 
doch irgendwie inne werben, jpüren, percipiven, umb biefes iſt ja 
ſchon ein, wenn auch der wiebrigfte und dumpffte Grab des Borftel- 
lens. Die Pflanzen fehen zwar eigentlich Licht und Sonne nicht; aber 
fie fpüren doch die Gegenwart derſelben, da fie fich zu ihr hinneigen 
und wenden. (Vergl. „Ueber ven Willen in der Natur“ in bem Eas 
pitel: Pflanzenphhfiologie.) 

Schopenhauer felbft Hat die Empfänglichteit der Pflanzen fir 
Neize als einen ſchwäͤcheren Grab beffen, was in den Thieren bie in 
tellectuelle Empfänglichfeit für Motive ift, angefehen, indem er jagt: 
„Der Intelleet ift in ung Das, was in der Pflanze die bloße Empfäng- 
lichfeit für äußere Einflüffe; nur daß in uns biefe Empfänglichkeit jo 
überaus hoch geftiegen ift, daß, vermöge ihrer, bie ganze objective 
Welt, die Welt als Vorſtellung, fich darſtellt, folglich folchermaafen 
ihren Urfprung als Object nimmt. Um ſich dies zu veranfchaulichen, 
stelle man fich die Welt vor ohne alle animaliſchen Weſen. Da ift 
fie ohne Wahrnehmung, alſo eigentlich gar nicht objectiv vorhanden; 
indefjen fei es fo angenommen. Det denfe man ſich eine Anzahl 
Pflanzen dicht neben einander aus dem Boden emporgeſchoſſen. Auf 
diefe wirft nun mancherlei ein, wie Luft, Wind, Stoß einer Pflanze 
gegen die andere, Näffe, Kälte, Licht, Wärme, eleltriſche Spannung 


38 


u. f. w. Jetzt fteigere man, in Getanfen, mehr und mehr, bie 
Empfänglichkeit diefer Pflanzen für vergleichen Einwirkungen: dba wird 
fie endlich zur Empfindung, begleitet von der Fähigkeit, diefe auf ihre 
Urfache zu beziehen, und jo am Ende zur Wahrnehmung; alsbald aber 
fteht die Welt da, in Raum, Zeit und Caufalität fich parjtellend; bleibt 
aber dennoch ein bloßes Refultat der äußern Einflüffe auf die Empfäng- 
lichkeit ver Pflanzen.” („Parerga“, II, $ 33.) 

Aus allem Angeführten können Sie erjehen, daß Schopenhauer - 
das Borjtellen eben fo generalifirt hat, wie das Wollen, blos 
daß er fich zur Bezeichnung der allen Wefen inwohnenden Empfäng- 
lichkeit für äußere Eindrüde nicht eben jo des Wortes Vorftellen 
bebient hat, wie zur Bezeichnung des allen Wefen inwohnenden Stre⸗ 
bens des Wortes Wille. 

SU man nun das Borftellen auf den niebrigern Stufen ber 
Natur, ® ifo das bloße Innewerden, Spüren, Bercipiren äußerer Ein- 
drüde ohne Beziehen berfelben auf einen als ihre Urſache ange» 
ſchauten, aljo bewußten Gegenftand, ein unbewußtes nennen, fo 
findet fih die unbemwußte Vorftellung nicht erſt bei E. vo Darts 
mann, fondern ſchon bei Schopenhauer. Nur freilich hat Schopen- 
bauer nicht ben Fehler begangen, den E. von Hartmann begeht, die 
Vorſtellung als gleichberechtigtes metaphyſiſches Princip dem 
Willen zu coordiniren, und zweitens nicht den Fehler, von einer 
abjolut unbewußten Vorftellung zu reden. E. von Hartmann jagt 
nämlih: „Schopenhauer kennt als metaphyſiſches Princip nur den 
Willen, während ihm die Vorftellung in materialiftiichem Sinne Hirn- 
probuct iſt ..... Der Wille, das einzige metaphyſiſche Princip 
Schopenhauer’s, ift hiernach jelbftverjtändlich ein unbewußter Wille, 
bie Vorftellung Hingegen, die ihm nur das Phänomen eines Meta- 
phyſiſchen und. daher als Vorftellung nicht jelbjt etwas Metaphyſiſches 
ift, Tann auch da, wo fie unbewußt wird, niemals mit der unbewußten 
Vorſtellung Schelling’s vergleichbar fein, welche ih als gleichberecdh- 
tigtes metaphyſiſches Princip dem des unbewußten Willens co⸗ 
orbinire. Aber auch abgefehen von dieſem Unterjchieve des Meta- 
phnfifchen und des Phänomenalen bezieht fich die «unbewußte Rumi- 
nation», auf welche Schopenhauer in zwei übereinftimmenden Apercüs 
zu fprechen kommt, und welche er ins Innere des Gehirns verlegt 





(«Welt als Wille und Vorfteltung», II, 148 und «Parerga⸗ I, ©. 59), 
doch nur auf die dunklen und undeutlichen Vorftellungen bes 
Leibniz und Kant, welche vom Lichte bes Bewußtſeins zu ſchwach 
bejchienen find, um Har herborzutreten, welche alfo blos unterhalb 
der Schwelle des deutlichen Bewußtfeins gelegen find, und fich von 
den deutlich bewußten Vorftellungen nur graduell (nicht wefentlich) 
uunterſcheiden. Schopenhauer erreicht alfo den wahren Begriff ber 
abfolut unbewußten Vorftellung in diefen beiden, übrigens für 
feine Philofophie ganz einflußlofen Apercüs eben fo wenig, wie in 
einer andern Stelle, wo er von dem gejonderten Bewußtfein unter 
georbneter Nervencentra im Organismus fpricht («Welt als Wille 
und Borftellung», II, 291).” («Philofophie des Unbewußten», 
3. Aufl, ©. 23 fg.) 

Daß Schopenhauer den Begriff ver abfolut unbewußten Vor⸗ 
ftellung nicht erreicht hat, ift richtig. Aber ihm einen Vorwurf daraus 
machen, heißt ihm vorwerfen, baf er einen Widerfinn, eine contra- 
dietio in adjecto, nicht erreicht hat, Wenn überhaupt mit ver „une 
bewußten Vorſtellung“ ein Sinn verbunden werben, wenn biefe Wort- 
zufammenftelfung nicht baarer Unfinn fein fol, fo lann nur bie 

elativ unbewußte Vorftellung gemeint fein, die es allerdings giebt, 
er ob die abſolut unbewußte, die gar nicht denkbar iſt. Denn 
was heißt Borftellung? Es heißt Object für ein Subject. 
Ohne ein vorftellendes Subject ift eine Vorftellung eben fo unmöglich, 
wie ohne ein Etwas, das vorgeftellt wird, beftehe nun das Vorſtellen 
im bloßen Spüren, Percipiven, over im Anfchauen, und fei Das, was 
vorgeftellt wird, eine blos mechanifche Einwirkung, oder ein Reiz, ober 
ein anſchaulicher Gegenftand. R 

Dem jebesmaligen Subject num, das ein Einwirfenbes fpürt, per- 
cipiet, ober anfchant, ift doch biefes eben baburch bewußt. Aber 
daſſelbe Einwirfende fann einem andern für biefe Art von Einwirkung 
nicht empfänglichen Subject ober einer andern für fie nicht empfäng« 
lichen Function deſſelben Subjects unbewußt bleiben. Diefes Unbe⸗ 
wußtbfeiben ift jedoch eben beshalb nur ein relatives; deun dem⸗ 
jenigen Subjecte ober berjenigen Function des Subjects, welche das 
Einwirlende pereipirt, wird es ja dadurch bewußt. 





ee ie Be 


40 


Folglich iſt es unlogiſch, von abſolut unbewußter VBorftelfung 
zu reden, und E. von Hartmann ift um dieſe, über Schopenhauer 
hinausgehende Erfindung keineswegs zu beneiden. Aber eben fo wenig 
um bie andere, bie Coorbination von Wille und Borftellung als 
zweier gleihberechtigter metaphyfifcher Principien. Doch hier⸗ 
über Näheres in meinem folgenden Briefe. 


Achter Brief. 


Verhältniß zwiſchen Wille und Vorftellung bei Schopenhauer und 
von Hartmann. — Bahn ſen's Kritit der von Hartmann’hen Lehre, 





Die Berallgemeinerung des Vorſtellens, welche, wie ich Ihnen 
gezeigt habe, bei Schopenhauer der Verallgehteinerung bes Willens 
entjpricht, iſt keineswegs als eine Coordination biefer beiden großen 
„Odentitäten“ aufzufaffen. Schopenhauer coorbinirt nicht, wie €. 
don Hartmann, Wille und Vorftellung, fondern juborbinirt — und darin 
wird er wohl der „Philofophie des Unbewewußten“ gegenüber Recht 
behalten — dem Willen die Vorftellung. Der Wille ift ihm das 
Primäre, die Vorftellung ift, obgleich auch ihm das BVorftellen im 
Weſentlichen eine allgemeine Function ift, wie das Wollen, doch ſe⸗ 
cunbär. Denn erftlih daß die Wefen überhaupt vorftellen, iſt be 
dingt durch die Beziehung ihres Willens zu einem Andern, Aeufern, 
und zweitens was und wie fie vorftellen, ift bebingt durch die Stufe 
ihres Willens. Die Stufen des Vorftellens find alfo bedingt durch 
die Stufen des Willens. 

Diefe durchgängige Abhängigkeit des Vorftellens vom Wollen 
hat Schopenhauer, obgleich er fi des Wortes BVorftellen nur für 
die höchfte Stufe defjelben, für das thierifche Vorftellen bedient, befon- 
ders im „Willen in der Natur“ dargelegt, wo er, von der Thierwelt an- 
fangend, zu den Pflanzen und den unorganifchen Körpern hinabſteigt. 

Erinnern wir ung, fagt er, daß bei ben Thieren das Erlenntuiß ⸗ 
vermögen, wie jedes andere Organ, nur zum Behuf ihrer Erhaltung 
eingetreten ift und daher in genauem und unzählige Stufen zulafjendem 
Berhältniß zu den Bebürfniffen jeder Thierart fteht; dann werben wir 


\ 


42 


begreifen, baß bie Pflanze, da fie fo fehr viel weniger Bebärfaife 
Dat, als das Thier, endlich gar feiner Erkenntniß mehr bebarf. Diefer- 
halb eben ijt das Erkennen, wegen der dadurch bebingten WBewegum 
auf Motive, ver wahre und die weſentliche Gränze bezeichnende Che 
ralter der Thierheit. Wo dieſe aufhört, verſchwindet Die eigentfice 
Erkenntniß, deren Weſen uns aus eigener Erfahrung jo wehl befamt 
ijt, und wir können uns, von diefem Punft an, das den Einfluß ber 
Außenwelt auf die Bewegungen der Wefen Bermittelnde mir noch bard 
Analogie faßlic machen. Hingegen bleibt ver Wille, den wir als be 
Baſis und den Kern jedes Weſens erfannt haben, fieis_umnb_ ühesefl 
einer unb-berfefbe. Auf ber niedrigeren Stufe der Pflanzemvelt, we 
auch des vegetativen Lebens im thierifchen Organismus, vertritt mum, 
ale Beftimmungemittel ver einzelnen Aeußerungen dieſes überall ver- 
handenen Willens und ale das Vermittelnde zwifchen ber Außemech 
mb ben Beränberungen eined folchen Wejend, Reiz und zuletzt im 
Unorganifchen phufifche Einwirkung überhaupt, die Stelle der Ertemb 
miß, umd ftellt fi, wenn bie Betrachtung, wie bier, von eben bereb 
fchreitet, al8 ein Emrogat der Erkeuntniß, mithin als ein ihr bie 
Analoges dar. Wir können nicht fagen, daß vie Pflanzen Licht uub 
Sonne eigentlich wahrnehmen; allein wir jehen, daß fie Die Gegen 
wart ober Abweſenheit berfelben verjchieventlih jpüren, daß fie ſich 
nach ihnen neigen und wenten, und wenn freilich meiſtentheils dieſe 
Bewegung mit der ihres Wachsthums zufammenfällt, wie die Rotation 
des Mondes mit feinem Umlauf; fo ift fie darum doch nicht weniger, 
als eben dieſe, vorhanden, und bie Richtung jenes Wuchfens wird 
durch das Licht eben fo, wie eine Handlung durch ein Motiv, beftinmt 
mb planmäßig mobifizirt, desgleichen bei ven rankenden, fich anklam⸗ 
mernden Pflanzen durch die vorgefundene Stüße, deren Ort und Ges 
ftalt. Weil alfo bie Pflanze doch überhaupt VBerürfniffe hat, wem 
gleich nicht folche, die den Aufwand eine® Senſoriums und Intellects 
erforderten, jo muß etwas Analoges un die Stelle treten, um ben 
Willen in den Stand zu fegen, wenigftens vie fi ihm darbietenbe 
Befriedigung zu ergreifen, wenn aud nicht fie aufzuſuchen. Dieſes 
num ift die Empfünglichleit für Reiz, deren Unterſchied von der Er⸗ 
kenntniß fich fo beftimmen läßt, daß bei der Erkenntniß das ale 
Borftellung fich tarftellende Motiv und der darauf erfolgende Willens- 


act deutlich von einander gefondert bleiben, und zwar um fo 
deutlicher, je vollfommener der Intelfect ift; — bei der bloßen Em- 
pfängichfeit für Reiz hingegen das Empfinden des Retzes won bem 
dadurch veranlaßten Wollen nicht mehr zu unterſcheiden ift und beide 
in Eins verfehmelzen. Endlich in der unorganiſchen Natur Hört auch 
die Empfänglichkeit für Reiz auf, deren Analogie mit der Erkenntniß 
nicht zu verlennen ift; es bleibt jedoch werfchievenartige Reaction jedes 
Körpers auf verfchiebenartige Einwirkung; dieſe ftellt fich nun, für 
den von oben Herabfchreitenden Gang ber Betrachtung, auch hier 
noch als Surrogat der Erfenntnif dar, Reagirt der Körper ver- 
ſchieden; fo muß auch die Einwirkung verfchieden fein und eine ver- 
ſchiedene Affetion in ihm hervorrufen, bie, in alfer ihrer Dumpfheit, 
doch noch entfernte Analogie mit der Erkenntniß hat. Wenn alfo 
3 B. eingefchloffenes Waffer endlich einen Durchbruch findet, den es 
begierig benutzt, tumultuariſch dahin fich dräugend; fo erkennt es ihn 
alferdings nicht, fo wenig als die Säure das hinzugetretene Alkali, für 
welches fie das Metall fahren läßt, wahrnimmt, oder die Papierflode 
den geriebenen Beruftein, zu welchen fie fpringt; aber dennoch müffen 
wir eingeftchen, daß Das, was in allen diefen Körpern fo plögliche 
Veränderungen veranlaft, noch immer eine gewiffe Aehnlichkeit Haben 
muß mit Dem, was in und vorgeht, wenn ein umerwartetes Motiv 
eintritt. „Früher. haben Betrachtungen diefer Art mir gebient, ven 
Willen in allen Dingen nachzuweiſen: jetzt aber ftelle ich fie an, um 
zu zeigen, als zu welcher Sphäre gehörig die Erfenntniß ſich dar- 
ftelft, wenn man fie nicht, wie gewöhnlich, von Innen aus, fondern 
realiſtiſch, von einem außer ihr ſelbſt gelegenen Stanppunft, als ein 
Fremdes betrachtet, aljo den objectiven Gefichtspunft für fie gewinnt, 
der zur Ergänzung des fubjectiven von höchſter Wichtigkeit ift.“ („Ueber 
den Willen in der Natur“, ©. 69 fg.) 

Aus diefer Stelle Lönnen Sie erſehen, wie nach Schopenhauer in 
ber ganzen Natur das Erfennen, d. h. das Vorftellen, von dem nie» 
drigſten, bumpfften Grade im den unorganifchen Körpern an bis hinauf 
zu dem höchften und deutlichſten im menſchlichen Gehirn, fich ftufenweife 
mit dem in der Natur fich objectivivenden Willen erhebt und dieſe 
Erhebung des Vorftellens eben bedingt ift durch das ſtufenweiſe 
Auffteigen des Willens, das Vorſtellen alfo trotz feiner Allgemeinheit 


44 


boch immer eine fecundäre, dem Willen als dem Brimären fub- 
ordinirte Function bleibt. 

Wie Schopenhauer in der angeführten Stelle die Abhängigfeit 
des Borftellens vom Willen im Allgemeinen nachgewiejen bat, jo bat 
er fie im Beſondern, in Bezug auf die Xhiere und ben Menfchen, an 
einer andern Stelle nachgewiefen. In dem Gapitel „Vergleichende 
Anatomie” in der Schrift, „Ueber den Willen in der Natur” zeigt er, 
wie der Grab ber Intelligenz bei ben Thieren überall bevingt ift durch 
den Grab ihrer Bebürfniffe, ihrer Triebe, ihres Lebenswillens. 
(Bergl. „Ueber den Willen in der Natur“, ©. 48—51.) 

Speciell in Bezug auf den Menſchen hat Schopenhauer, ge: 
ftüßt auf Thatſachen des innern Lebens des Menfchen, die Ab» 
bängigfeit des Vorftellens vom Willen in dem Capitel vom „Primat 
des Willens im Selbftbewußtfein‘ („Welt als Wille und Vorftellung“, 
DO, Cap. 19) nachgewieſen. 

Allen diefen Nachweifungen gegenüber kann ich in E. von Hart- 
mann’s Coordination von Wille und Vorftellung Temen Fort- 
fchritt und feine Verbefjerung der Schopenhauer’ichen Philoſophie finden, 
fondern nur einen Rückſchritt und eine Verfchlechterung. Uebrigens 
hat auch ſchon Julius Bahnen, der Verfaſſer ver „Charaf: 
terologie“, in feiner Schrift: „Zum Verhältniß zwifchen Wille 
und Motiv. Kine metaphyſiſche Vorunterfuhung zur Charaftero- 
logie” (Stolp und Lauenburg i. P. bei Ejchenhagen, 1870) bie 
Hartmann’fche Coordination von Wille und Vorftellung treffend Fritifirt. 
Ueber das Verhältniß von Wille und Motiv hat ſich Schopenhauer 
ſehr klar ausgefprochen. Nach ihm bejtimmen die Motive nie mehr 
als das, was ich zu diefer Zeit, an biefem Orte, unter dieſen Um— 
jtänden will; nicht aber, daß ich überhaupt will, noch was ich über- 
baupt will, d. b. die Maxime, welche mein gefammtes Wollen charaf- 
terifirt. Daber ift mein Wollen nicht feinem ganzen Wefen nach aus 
den Motiven zu erklären, ſondern diefe bejtimmen blos feine Aeuße- 
rung im gegebenen Zeitpunkt, find blos der Anlaß, bei dem ſich mein 
Wille zeigt, dieſer felbft Hingegen liegt außerhalb des Gebietes des 
Gefeßes der Motivation. Wie jede Aeußerung einer Naturfraft eine 
Urſache hat, die Naturfraft felbit aber feine; fo hat jeder einzelne 
Willensact ein Motiv, der Wille überhaupt aber keins. („Welt als 


45 


Wille und Vorſtellung“, I, 127, 194; II, 407 fg.) Das Motiv 
wirft nad) Schopenhauer nur unter ber Borausfegung, daß es über- 
haupt ein Beftimmumgsgrund des zu erregenden Willens fei, fowie 
auch die phyfifalifcen und chemuiſchen Urfachen, besgleichen die Neize 
ebenfalls nur wirlen, fofern der zu afficivende Körper für fie empfäng- 
Mich iſt. Der Wille ift das, was eigentlich dem Motiv die Kraft zu 
wirken ertheilt, die geheime Sprungfeder der durch dafjelbe hervor⸗ 
gerufenen Bewegung. („Die beiden Grunbprobleme der Ethit“, 33.) 
Das Motiv wirft nur unter Vorausfegung eines innern Triebes, d. h. 
einer bejtimmten Bejchaffenheit des Willens, welche ven Charakter deſſel⸗ 
ben bildet; biefem giebt das jevesmalige Motiv nur eine entfchievene Rich⸗ 
tung, indivibualifivt ihn für den concreten Fall, („Welt als Wille und 
Vorſtellung“, I, 391; „Die beiden Grundprobleme ver Ethik‘, 92.) 

Nah Schopenhauer bringt alfo der Wille feinen Inhalt zu den 
Motiven ſchon mit,, empfängt ihn micht erjt aus biefen. Der Wille 
ift nicht am ſich Teer umd bekommt exft durch Vorſtellungen (Motive) 
einen Inhalt, fondern nur auf einen an fich ſchon beftimmten Willen 
fönnen Vorftellungen als Motive wirfen. Daffelbe num lehrt, Hart- 
mann gegenüber, auch Bahnfen, und die Bahnſen'ſche Abhandlung ift 
dadurch eine treffende Kritif der Hartmanm'ſchen „Philofophie des Un- 
bewufiten“ geworden. Bahnfen fucht, der „Philoſophie des Unbewuß- 
ten‘ gegenüber, barzuthun, baf nicht ein urſprünglich leerer Wille an 
dem „Logiſchen“ feine Erfüllung erft „an fich reißt“, ſondern daß bie 
nachträgliche Beleuchtung feines Inhalts durch die Vernunft erſt die 
Vernunftwibrigkeit feines Inhalts darthut und es rathſam macht, 
diefen Inhalt mit feinem veinen Gegentheil, mit ver Selbtnegation, 
zu vertaufchen; — aljo müſſe der Wille bereits vor aller Vernunft 
und Logik vermöge feines eigenen Wefens einen Inhalt an fich gehabt 
haben, und die Streitfrage formulire ſich nunmehr dahin, ob diefer 
Inhalt noch als „Vorftellung‘ dürfe bezeichnet werben. 

Der Hartmann'fchen Betonung des Satzes gegenüber, daß ohne 
Vorftellung ein wirkliches Wollen nicht möglich ſei, macht Bahufen 
geltend, daß durch das Motiv nichts in den Willen hineinlomme, was 
nicht bereits, nur in anderer, nämlh noch nicht vorgeftellter — man 
möchte am liebſten jagen: in unvorgeſtellter — Form vorher in ihm 
felber vorhanden gewejen. 


46 


Bahnfen wirft gewiffen Partien des von Hartmann’ichen Werts 
eine gegen bie fonftige Klarheit und Beftimmtheit feiner Darlegungen 
aufs unvortheilhaftefte abftechende „verſchwommene Nebelhaftigkeit” 
vor. Er fei insbejondere nicht zu einer burchfichtigen Unterfcheidung 
zwifchen Inhalt und Dbject des Willens gelangt, ohne welche doch die 
Frage gar nicht zum Austrag gebracht werben könne, ob die Qualität 
„Borftellung fein” dem Willensinhalt als ſolchem oder nur in feiner 
Beräußerlichung als Motiv beizulegen fei. 

Bahnfen macht e8 Hartmann zum Vorwurf, daß er die Ausdrücke 
„Ziel, Object und Inhalt“ des Willens confundire. 

„Was aber das Motiv eigentlich fei — nämlich das in die Vor- 
ftellungswelt projicirte Correlat des unabhängig von dieſer Projection 
vorhandenen Willensinhalts, das wilfen wir nicht durch diefes Hin- 
und Herichwanfen zwijchen halb, ganz oder gar nicht fononymen Be— 
griffen, fondern aus eigenem Beſinnen über bie vis essendi ale 
bie Bedingung für irgendwelche potentia existendi. Weil e8 uns 
ein Sat von apriorifcher Gewißheit ift, daß alles wahrhaft Seienbe 
Was und Daß zumal, untreunbare Einheit von Eſſenz und Erijtenz 
ift, ein in fich ſelbſt Beſtimmtes, nur fich felbft Gleiches, da es ja 
fein Sein in ſich, nicht von einem andern, al8 bloße Crfcheinung, zu 
Lehen bat, weil feine Beftimmtbeit die des ein für allemal durch fich 
felber Beſtimmtſeins ift: deshalb ift e8 uns unmöglich, uns einen 
Willen zu denken, der, in total bejtimmungslofer Indifferenz, Durch 
einen Erregungsgrund von jedesmal ganz bejtimmter Bejchaffenbeit 
fich follte erregen Laffen, ohne in fich felber als unveräußerliche Eſſentia 
eine Erregbarfeit von correfpondirender Beftimmtheit zu bejiten.‘‘ 

Nur die unfritifche Betrachtungsweiſe verwechjelt nah Bahnfen 
fortwährend den wahren Inhalt des Willens mit den Objecten, in 
deren Vorftellung diefer Inhalt fich, den Umſtänden nachgeben, kleidet. 
Das unfritifche Urtheil vergeffe, daß für das wahrhaft Seiende das 
Borgeftelltwerden etiwa® ganz Unmefentliches ift. „Ausgangspunkt, 
Straße und Ziel bleiben dieſelben auch im Dunkeln, wenn nachts Feine 
am Wege aufgeftellte und angezünbete Laternen fie beleuchten.‘ 

Das Motiv ift nach Bahnfen nur das Erregende, das aus dem 
Schlummer ber Ratenz Herporrufende, „Ichöpferifch nur wie der Einer, 
mit welchem man aus dem Brunnen Waffer Ichöpft, aber nicht wie ein 


| * 


creator omnipotens, welcher etwas hineinbringt, das nicht ſchon von 

| felber, ſpontan und vermöge feiner Afeität da war“. 

| Das Motiv Tode den Willensinhalt in die Außenwelt, vermöge 

dies aber nur fraft der eigenen nach außen gerichteten Tendenz des 
Willens felber. “ 

Ich ſtimme biefer Kritik in ihrem Grundgedanken, daß die Wirf- 
jamfeit der Motive auf den Willen durch den eigenthümlichen Inhalt 
ober die Tendenz des Willens bedingt ſei, daß alſo nicht, wie bei €. 
don Hartmann, einem leeren Willen eine inhaltgebende Vorftellung gegen- 
überftehe, völlig bei, dehne aber diejes Verhältniß von Wille und Vor— 
ſtellung auf alle Stufen der Vorftellung aus, halte alfo auch da, wo 
die VBorftellung nicht die Form des Motivs, jondern mm die des perci- 
pirten Reizes hat, wie im vegetativen, oder auch nur bie ber inne- 
gewordenen mechanifchen Eimvirkung, wie im unorganifchen Gebiete, ihre 
Wirfamkeit ebenfalls für bedingt durch die Tendenz des daſelbſt herr- 
ſchenden Willens. So wie ich den Begriff der. Vorftellung im 
Schopenhauer'ſchen Sinne generalifire, fo generalifire ich natürlich 
auch das Verhältniß von Wille und Vorftellung und finde alſo 
nicht blos die Wirkjamfeit des Motivs, jondern auch die der beiden 
andern Claſſen von Urfachen bedingt durch die Tendenz des Willens 
der Körper, auf die fie wirken, Warum kann ein Stein nicht durch 
Motive bewegt werben, wie ein Thier, wohl aber durch Stoß? Weil 
der Wille des Steines ein anderer ift, als der thierifche Wille. Man 
gebe dem Stein einen thierifchen Willen und man wird ihn eben da⸗ 
durch auch für Motive empfänglich machen. 

Die Schopenhauerſche Philofophie ift durch die Suborpination 
der Vorftellung unter den Willen weit moniftifcher, als die Hart- 
mann’fche, die durch die Cootdination Beier in einen Dualismus 
zurüdfällt. Diefen Dualismus hat übrigens auch ein anderer Kritiker 
der „Philoſophie des Unbewußten“, Johannes Volfelt, obwohl von 
einem falſchen moniftifchen Standpunkt aus, nämlich vom Hegel'ſchen, 
ſcharf befämpft. (Vergl. „Das Unbewußte und der, Peſſimismus 
Studien zur modernen Geiftesbewegung von Dr. Johannes Vollelt“, 
Berlin 1873, Verlag von F. Henfchel.) Der zweite Theil diefer Schrift 
enthält eine ausführliche Kritik der Hartmann’ichen Metaphpfit und 
ihres Dualismus von Willen und Vorftellung. 


Slennter Brief. 


Bedeutung des willensfreien und des mwillenverneinenden Erken— 
nen® bei Schopenhauer. — Biderlegung Thilo's. 


Sie geben, verehrter Freund, zwar zu, daß die Schopenhauer’fche 
Suborbination der BVorftellung unter den Willen, welche überali 
durch die Erfahrung beftätigt werde, der Hartmann’fchen Coordination 
Beider vorzuziehen fei. Aber, ift e8 denn, fragen Sie, confequent, daß 
Schopenhauer, nachdem er im zweiten Buche der „Welt als Wille und 
Vorftellung” ausführlid vom Primat des Willens über die Vor- 
ftellung geſprochen und ben Intelleet überall al8 den ‘Diener bes 
Willens dargeftellt Hat, — daß er im dritten und vierten Buche, in 
der Aeſthetik und Etbif, der Vorftellung auf einmal eine Superio- 
rität über ven Willen beilegt, berzufolge fie nicht blos fich völlig 
abhängig vom Willen macht, ſondern denfelben fogar verneint? Wie 
fann, fragen Sie, die ihrer Natur nach zum Dienſte des Willens 
gefchaffene Vorftellung zu folder Herrſchaft gelangen? Hebt viefe 
nicht wieder die früher behauptete Suborbination auf und fehrt Das 
Berhältniß um? 

Ih will nun nicht leugnen, daß das willensfreie Erfennen des 
Genies, von dem Schopenhauer im dritten Buche bei Betrachtung 
der Kunſt fpricht, und das willenüberwindende Erfennen des Heiligen, 
von dem er im vierten Buche bei Betrachtung der Verneinung des 
Willens fpricht, feiner Lehre vom Primat des Willens zu wider- 
iprechen feheint. Ich Tann aber auch nur zugeben, daß es ihr zu 
widerfprechen ſcheint, nicht aber, daß es ihr wirflich wiberfpricht. 

Was zunächt das willensfreie Erkennen des Genies in der äſthe— 


49 


tiſchen Contemplation betrifft, fo habe ich ſchon anderwärts gezeigt, 
daß das äfthetifche Erkennen nur relativ willensfrei ift, nicht abfo- 
Int; da es auch noch einen Willen zur Voransfegung hat, wenngleich 
einen höhern, als der gemeine, umäfthetifche Wille ift. Der Herbar- 
tianer Thilo hatte nämlich gegen das a Erlkennen ein 
gewendet: 

„Wie foll es denn das erkennende Subjeet machen, fich von 
— Willen loszureißen? Es iſt ja weiter nichts, als ein auf befon- 
dere Weife geformter Wille! Alle Vorgänge in ihm können ihren 
Grund nur in diefem befondern Wolfen haben, alles Vorſtellen kann 
nur im Dienfte diefes Wollens ftchen, d. h. nur ein Werkzeug des 
ſelben, alſo auch weiter nichts fein, als ein auf befonbere Weife ge— 
formtes Wollen. Ein reines, von feinem Wollen losgeriſſenes Subject 
des Erlennens ift nach Schopenhauer’s Principien eine baare Unmög- 
lichleit.“ (ergl. Zeitfchrift für eracte Philofophie VIIL, 4, 353 — 
355.) Hiergegen nun fagte ich: 

„da, wenn man nicht in den Geift der Schopenhauer'ſchen Lehre 
einbringt, ſondern am Buchftaben Heben bleibt, fo ift das von Wollen 
losgeriſſene Erkennen allerdings eine baare Unmöglichkeit. Der Wille 
ift ja Alles in Allem nach Schopenhauer, wie follte es alfo etwas 
geben können, was ihm entwiſcht? Diefer Einwand Tiegt ja zu fehr 
auf der Hand, als daß er nicht Jedem fofort einfallen follte. Aber 
eben, weil er fo auf der Hand liegt, darum ift ihm micht zu trauen. 
Sieht man näher zu, fo findet man, daf bie Losreißung des Exfen- 
nens vom Wolfen in ber äfthetifchen, auf bie Ideen gerichteten Contem ⸗ 
plation nach Schopenhauer feine abfolute, fondern nur eine relative ift, 
nur eine Losreißung von den Zwecken des individuellen Willens, nicht 
aber von dem Willen zum Leben überhaupt; denn auch das Afthetifch 
contemplivende Subject bejaht noch den Willen zum Leben, ba es ja 
Freude findet am Anfchauen der Ideen ober Stufen diefes Willens. 
Freunde ift ja, wie überhaupt Gefühl nach Schopenhauer, ohne Willen 
nicht möglich. Aber der Wille, welcher der äfthetifchen Freude zu 
Grunde Tiegt, iſt nicht mehr der enge, auf bie individuellen Zwecke 
ber unter, beftimmten räumlich-zeitlichen Verhältniſſen lebenden Perfon, 
fonbern ber erweiterte, auf bie Ideen gerichtete Wille, welcher will, 
daß bie einzelnen Dinge ihren eigenen Ideen adäquat —* und der 

Srauenſtadt, Reue Briefe. 





50 


daher an dem Anblide abäquater Abbilder ver Ideen, fei e8 in ber 
Natur oder in ver Kunſt, feine Freude findet. Dem objectiven Er» 
fennen in ber äfthetifchen Sontemplation Liegt alfo ein objectiver Wille 
zum Grunde, umb folglich ift die von Schopenhauer behauptete Los⸗ 
reißung des Erfennens vom Wollen feine abfolute, fondern nur eine 
relative. In der äfthetifchen Contemplation entwijcht das Erfennen 
dem Wollen nicht fchlechthin, fondern es entwifcht nur dem Dienjte des 
perfönlichen Willens und tritt dafür in den Dienft des die Ideen be- 
jahenden Willens.‘ 

Daß diefes der Sinn des willensfreien Erfennens bei Schopen- 
bauer fei, dafür will ich Sie noch bejonders auf eine Stelle aufmerf- 
fam machen, aus ber deutlich genug hervorgeht, daß Schopenhauer 
auch dem willensfreien Erkennen noch einen Willen zum Grunde legt, 
nur einen Willen höherer Art als den, wovon er es für frei erklärt. 
Schopenhauer leugnet nämlich, daß der Künftler, um eine ſchöne menfch- 
liche Geftalt zu bilden, bie an viele Menfchen einzeln vertheilten ſchönen 
Theile empirifch zufammenjuche und zufammenfege. Cr erklärt dies 
für eine befinnungslofe Meinung; denn es frage fich, woran der Künft- 
fer erfennen joll, daß gerade diefe Formen die ſchönen find und jene 
nicht? Rein a posteriori fei überhaupt feine Erkenntniß des Schönen 
möglich. Welches ift denn nun aber die apriorifche Duelle derfelben? 
Schopenhauer antwortet: „Daß wir Alle die menfchlihe Schönheit 
erfennen, wenn wir fie fehen, im Ächten Künftler aber dies mit folcher 
Klarheit gefchieht, daß er fie zeigt, wie er fie nie gefehen hat, und die 
Natur in feiner Darftellung übertrifft; dies ift nur dadurch möglich, 
daß der Wille, deſſen adäquate Objectivation auf ihrer höchften Stufe 
bier beurtbeilt und gefunden werden joll, ja wir felbft find. Dadurch 
allein haben wir in der That eine Anticipation deffen, was die Natur 
(die ja eben der Wille ift, der unfer eigenes Wefen ausmacht) dar— 
zuftellen fich bemüht; welche Anticipation im ächten Genius von bein 
Grade der Befonnenheit begleitet ift, daß er, indem er im einzelnen 
Dinge deſſen Idee erfennt, gleichſam die Natur auf halben Worte 
verfteht und num rein ausfpricht, was fie nur ſtammelt, ihr gleichfam 
zurufend: «Das war es, was du fagen wollteft!» «Ja das war es!» 
ballt e8 aus dem Kenner wieber.... Die Möglichfeit folcher Antici- 
Pation des Schönen a priori im Künftler, wie feiner Anerfennung a. 


51 
eg ee —— 
fi der Natur, der ſich objectivirende Wille | Me ee Bi 
vom Gleichen, wie Empeboffes fagte, wird F Gleiche erfannt nur 
Natur wird fich ſelbſt ergründen: aber auch nur vom Geift wird der 
Geiſt vernommen.“ (Vergl. „Welt als Wille und Vorftellung“, I, 
261— 263.) 

Aus diefer Stelle geht deutlich hervor, daß Schopenhauer das 
wilfensfreie äfthetifche Erlennen jo wenig für ein abjofut willenloſes 
hält, daß er es fogar aus dem mit dem Naturwillen ibentifchen Willen 
des Minftlers und Kenners ableitet. Alſo hat die Willensfreiheit des 
äfthetifchen Erlennens nur eine velative Bedeutung. (Vergl. Einfei- 
tung zur Gefammtausgabe der Werke Schopenhauer’s, S. LXXVI— 
LXXVI.) 

Aber eben fo wenig, als das äfthetifche, ift das ethiſche Er⸗ 
kennen, das Durchſchauen des prineipii individuationis, welches zu- 
nächft zur Tugend und weiterhin zur gänzlichen Verneinung bes 
Willens zum Leben führt, ein abfolut, fondern ebenfalls nur ein 
relativ wilfenfofes. Denn der Tugendhafte und der Heilige wollen 
etwas; nur iſt Das, was fie wollen, das Entgegengejegte von Dem, 
was der Egoift und Yebensluftige will. Ohne biefen entgegengefegten, 
antiegoiftifchen und antüveltfichen Willen käme es gar nicht zu jenem 
Erkennen, welches den Egoismus und den Weltfinn überwindet, Das 
ethiſche Erkennen hat alfo den ethifchen Willen zur Vorausfegung, 
und alſo auch bier findet daſſelbe Verhältniß des Erfennens zum 
Wolfen, dieſelbe Subordination der Vorftellung unter den Willen ftatt, 
wie auf allen übrigen Stufen der Welt. Wie das Motiv mur auf, 
einen für es empfänglichen Willen wirkt, alfo diefen zur Vorausſetzung 
hat (vergl. Schopenhauer-Leriton: Motiv); ebenfo lann auch jene 
Erfenntniß, die Schopenhauer im Gegenfag zum Motiv Quietiv 
nennt, nur unter Vorausfegung eines Willens, ber für fie empfäng- 
lich iſt, wirlen. (Vergl. Schopenhauer-Leriton: Quietiv.) Das Quie⸗ 
tiv Hat eben fo wenig eine zwingende Macht über ven Willen, als 
das Motiv. Deshalb fpricht Schopenhauer von dem innern Kampfe, 
ben cup bie Heiflaeninog immer zu beftehen haben, von der Willens- 
, um bie ihnen aufgegangene Ertenntniß + 
er jagt: „Indeſſen dürfen wir doch nicht 


ar 







52 
meinen, daß, nachdem durch die zum Quietiv gewordene Erfenntniß 
die Verneinung des Willens zum Leben einmal eingetreten ift, fie num 
nicht mehr wanfe, und man auf ihr raften könne, wie auf einem er: 
worbenen Eigentbum. Vielmehr muß fie durch fteten Kampf immer 
aufs Neue errungen werben...... Daber finden wir im Leben bei- 
liger Menfchen jene gejchilderte Ruhe und Seeligfeit nur als die Blüte, 
welche hervorgeht aus ber teten Ueberwindung des Willens, und fehen, 
al8 den Boden, welchem fie entjprießt, ven beftändigen Kampf mit 
dem Willen zum Leben: denn dauernde Ruhe kann auf Erben Keiner 
haben.“ („Welt als Wille und Vorſtellung“, I, 462 fg.), 

Alſo auch die Heiligkeit, die in der Verneinung des Willens zum 
Leben befteht, ift nach Schopenhauer nichts abſolut willenlofes, ſondern 
ift Product der Ueberwindung des weltbejahenden Willens durch ven 
weltverneinenden Willen, wobei jene Erfenntniß, welche als Quietiv 
wirft, nur Dienjte leiftet. 

Folglich behauptet auch bier ver Wille den Primat über ven 
Intellect, und der Intellect teht auch Hier nur im Dienfte des Willens. 
Sei der Wille ein weltbejahenver, oder ein weltverneinenber, immer 
kann ihm ber Intellect nur die Wege zeigen, die amı beiten und ficher- 
ften zu feinem Ziele führen; aber über das Ziel felbft entfcheidet nur 
ber Wille. Es bleibt aljo bei Dem, was Schopenhauer fagt: „Ueber 
das Wollen felbft, über bie Hauptrichtung, oder die Grundmarime 
beffelben bat ver Intelfect feine Macht. Zu glauben, daß vie Er- 
fenntniß wirklich und von Grund aus den Willen beftinme, ift wie 
glauben, daß die Laterne, die Einer bei Nacht trägt, da primum 
mobile feiner Schritte fei.” („Welt als Wille und Vorftellung“, 
u, 251.) 





54 


Titel Hegemonikon vem Willen gebüren: jercch jcheint derſelbe wie- 
derum dem Intellect zuzulommen, jofern tiefer ber VYeiter und Führer 
ift, wie der Yohnbediente, ver vor tem Fremden bergeht. In Wahrheit 
aber ift das treffendefte Gleichniß für das Verhältniß Beider der ftarte 
Blinde, der den fehenden Gelähmten auf den Schultern trägt.” (Dafelbit 
©. 233.) — Gegen dieje Darftellung des Verhältniſſes des Intellecte 
zum Willen fagt Profefjor Jürgen Bona Meyer in Bonn: „Alle 
biefe Bilder verdeden nur den wahren Sachverhalt und laffen fich zum 
Theil felbft gegen Schopenhauer fehren. In einer fremten Stapt 
mag der Herr das Ziel beftimmen, wohin er will, aber ver Yohn- 
bediente, ver ihn führt, bejtimmt die einzufchlagenden Wege, um zum 
Ziele zu fommen, und der Herr folgt.” („Arthur Schopenhauer ale 
Menſch und Denker”, Heft 145 der Sammlung gemeinverftändlicher 
Vorträge, herausgegeben von Virchow und v. Holgendorff, S. 35.) 
Ein anderer Gegner Schopenhauer’$, Dr. E. M. Frieprid 
Zange, polemifirt gegen die Schopenhauer’ihe „Macht: und Willen: 
lofigfeit des Intellects“ in folgender Weife: „Nach Schopenhauer’s 
Anficht hat fich wohl.ver Wille «zur Erreichung feiner Zwecke», 
aum feine Bedürfniſſe zu befriedigen», «fich ſelbſt als In— 
dividuum zu erhalten» u. f. w. ben Intellect gefchaffen, aber dieſer 
felbft ift durchaus willenlos, feine Erfcheinung des Willens, 
..... Wie kommt Schopenhauer dazu, das Gehirn nicht als unmittel— 
bar zum Organismus gehörig zu betrachten? Nur eine ganz äußer- 
liche, materialiftifch-naturwiffenfchaftliche Betrachtung, in welcher 
Alles nur auf Erhaltung und Wohlbefinden des Individuums und der 
Gattung ankommt, konnte ihn dazu verführen, nicht eine folche Be— 
trachtung, welche den Menſchen auch als Organ zur Erreihung höherer 
Zwede auffaßt. Und doch Hätte fi Schopenhauer fagen müffen, daß 
der Wille gerade da, wo er fich die leichteften, feinſten und beweglich. 
ften Organe gejchaffen, im Gehirn, in jenen «Gehirnfräften», ſich am 
allerdeutlichſten offenbaren müffe, weil er da am wenigften Durch eine 
erft fehwer zu überwindende Materie gehemmt und verbunfelt wird; 
daß alſo gerade in jenen ewigen Gejeten des Denkens, Urtheilens und 
fittlichen Wollens der das Ding an fich verdedende Schleier am meiſten 
gelüftet fe. Daraus würde dann freilich gerade eine Macht des 
Intellects über den Villen, als natürliches Begehren, 


— 


nicht nur erflärlich in — nothwendig — 
ganze Weltanſchauung wirbe ins Gegentheil umſchlagen, erlenuend, 

daß gerade ber Geift dinchaus nicht dazu da fei, dan Willen, bem 
Begehren, der Erhaltung des Individuums zu dienen, fondern daß 
ex vielmehr berufen fei, über den Willen zu herrſchen, daß ex hohe 
‚Ziele und Ideale vorzeichne und fie anzuftreben fordere, fo daß dann 
alfo umgelehrt das Individuum und fein Organismus nur dazu 
ba wäre, um biefen Geift fowohl, als das Streben nad) feinen Idea⸗ 
fen möglich zu machen,“ Weiter fagt Dr. Zange: „Eben jo wenig 
wie prineipielf lann Schopenhauer feinen Sat von ber Macht- umb 
Willenlofigkeit des Intellects gegenüber den Thatfachen des Le— 
bens aufrecht erhalten. Er muß zugeben, daß «Hoffen und Fürd- 
ten Affectionen find, welche nur der Menſch eben in Folge 
feines in die Ferne ſchauenden Intellects fennt», und doch 
find fie nichts als «Affectionen des Willens». Sie ſetzen alfo 
minbeftens einen jehr ſtarken Einfluß des Intellects auf den Willen 
voraus,“ („Ueber das Fundament der Ethif. Eine kritiſche Unter⸗ 
fuhung über Kants und Schopenhauer’s Movalprincip von Dr. €. 
M. Friedrich Zange, Gefrönte Preisſchrift.“ Leipzig 1872, Verlag 
von Breitfopf und Härte. Seite 191—19.) 

Diefe ganze Polemit des Gehrönten Halte ich für verfehlt. 
Erſtens iſt es nicht wahr, daß nach Schopenhauer der Intellect „durch - 
aus willenlos, feine Erſcheinung des Willens“ ſei. Denn der 
Antellect als Gehienfunction ift nach Schopenhauer ein Organ des 
Leibes, der ganze Yeib aber ift Erfcheinung des Willens, folglich iſt 
der Intellect fo gut wie Hand und Fuß, Lunge und Magen, u. |. w., 
eine Willenserjceinung; in ihm objectivirt ſich nämlich der Wille zu 
erkennen, wie in ber Hand der Wille zu greifen, im Fuß der Wille 
zu gehen u. ſ. w. Schopenhauer jagt ausprüdlich, daß das Gehirn 
und bejjen Function, das Erkennen, alſo ver Jutellect, mittelbar und 
fecunbär zur. Erfcheinumg des Willens gehöre. „Auch in ihm 
objectivirt fich der Wille und zwar als Wille zur Wahrnehmung ber 
Außenwelt, alfo als ein Erlfennenwollen. So groß und funda⸗ 
mental daher auch ber Unterfchied bes Wollens von Erkennen in une 
i das letzte Subftrat Beider das felbe, nämlich der 
an ſich der ganzen Erſcheinung: das Erlennen 







56 


aber, ver Intellect, welcher im Selbſtbewußtſein ſich durchaus als das 
Secundäre darſtellt, ift nicht nur als fein Accivenz, fondern auch als 
fein Werk anzufehen und alfo durch einen Unmeg, doch wieder auf 
ihn zurüczuführen. Wie der Intellect phyfiologifch fich ergiebt als bie 
Function eines Organs des Leibes; fo ift er metaphufifch anzufehen 
als ein Werk des Willens, deffen Objectivation, oder Sichtbarkeit, der 
ganze Leib ift. Alfo der Wille zu erfennen, objectiv angefchaut, ift 
das Gehirn; wie der Wille zu gehen, objectiv angefchaut, der Fuß 
ift; der Wille zu greifen, die Hand; der Wille zu verbauen, ver 
Magen; zu zeugen, die Genitalien u. ſ. f.“ („Welt als Wille und 
Vorſtellung“, IL, 293.) 

Der Imtellect ift alfo nah Schopenhauer zwar nicht Erfcheinung 
des ganzen Willens, fo wenig als Hand, Fuß, Magen und Genita— 
lien; aber er ift doch Erjcheinung einer bejondern Beftrebung des 
Willens, fo gut wie Hand, Fuß, Magen, Genitalien. Und deshalb 
ift e8 falfch, wenn der gefrönte Preisfchriftfteller Schopenhauern vor- 
wirft, bei ihm fei der Intellect „durchaus willenlos, feine Erjcheinung 
des Willens‘. 

Eben fo falfch ift aber zweitens der Vorwurf ber „Machtlofig- 
feit des Intellects über den Willen‘ bei Schopenhauer. Der Intellect 
ift ja nach ihm das Mebium der Motive, die Motive aber fin 
willenbewegende Urfachen, ja fogar troß ihrer Geijtigkeit (Ideali— 
tät) nicht minder ftark wirkende Urfachen, als die plumpften ınate- 
riellen Urfachen, da „ein Motiv eben fo mächtig ift, die Yeute zum 
Haufe hinaus zu werfen, wie die handfeftefte mechanijche Urfache“. 
(„Die beiden Grundprobleme der Ethif”, ©. 44 fg.) „Der Unter- 
Ichied zwifchen Urfache, Reiz und Motiv ift offenbar blos die Folge 
bes Grades ber Empfünglichfeit der Wefen: je größer dieſe, deſto 
leichterer Art fan die Einwirkung fein: der Stein muß geftoßen wer: 
ben; der Meenfch gehorcht einem Blick. Beide aber werden durch eine 
zureichende Urfache, alfo mit gleicher Nothwendigfeit, bewegt. Denn 
die Motivation ift blos die durch das Erkennen hindurchgehende Kau— 
falität: der Intellect ift das Medium der Motive, weil er die höchite 
Steigerung der Empfänglichfeit if. Allein hierdurch verliert das 
Geſetz der Kaufalität fchlechterdings nichts an feiner Sicherheit und 
Strenge. Das Motiv ift eine Urfache und wirft mit der Nothivendig- 


57 


feit, die alle Urfachen herbeiführen. Beim Thier, deſſen gutellect ei 
einfacher, daher nur bie Erkeuntniß der Gegenwart liefernder ift, fällt 
jene Nothwenbigfeit Leicht in die Augen. Der Intellect des Menſchen 
ift doppelt: er hat, zur anfchaulichen, auch noch die abftracte Erfennt- 
niß, welche nicht an bie Gegenwart gebunden ift: d. b. er hat Vernunft. 
Daher hat er eine Wahlentfcpeibung, mit deutlichem Bervuftfein: nam— 
lich ex kann bie einander ausſchließenden Motive als ſolche gegen 
einauder abwägen, d. h. fie ihre Macht auf feinen Willen verfuchen 
laffen; wonach ſodann das ftärfere ihn beſtimmt und fein Thun mit 
eben der Nothwendigleit erfolgt, wie das Rollen der geſtoßenen Kugel.“ 
Aeber bie vierfache Wurzel bes Satzes vom zureichenden Grunde”, 
©. 48.) 

Diefer Darftellung gegenüber nimmt fi der Vorwurf, daß bei 
Schopenhauer der Jutellect machtlos fei, ſonderbar aus. Die Mo: 
tive, die ber Intelfect liefert, find ja nach Schopenhauer nicht blos, 
gleich den mechanifchen Urfachen und den Reizen, auf den Willen wir 
fende Urfachen, bie fein Thum mit Nothwendigkeit beſtimmen; fon 
bern fie bilden auch innerhalb ihrer felbft eine Raugorduung, in der 
bie vernünftigen Motive größere Macht über den Willen Haben, als 
die finnlichen, da die Vernunft nach Schopenhauer im Stande ift, 
mittelft der von ihr gelieferten begrifflichen, an bie Gegemvart 
nicht gebundenen Vorftelfungen die finnlichen oder anfehaufichen Distioe, 
denen das Thier noch unterliegt, zu beſiegen. 

Diefen Vorzug des Menfchen, mittelft ver Vernunft der thieri- 
ſchen Triebe Herr zu werden, hat Schopenhauer wieberholt und fehr 
ſcharf hervorgehoben. Er Hat deutlicher, als irgend Einer, gezeigt, 
worin die eigentlich praftifche Macht der Vermmft befteht. Der 
ganze Unterfchied des Thuns und Wandelns des Menfchen von dem 
der Tiere beruht nad) ihm auf den abftracten Begriffen der Ber- 
muft. „Der Einfluß biefer auf umfer ganzes Daſein ift jo burdhe 
greifend und bedeutend, daß er ums zu den Thieren gewiſſermaaßen in 
das Verhältniß ſetzt, welches die fehenden Thiere zu den augenlofen 
(gewviffen Larven, Würmern, Zoophyten) haben: Tetere erfennen durch 
das Getaft allein das ihnen im Raum unmittelbar Gegenwärtige, fie 
Berührende; bie fehenben dagegen einen weiten Kreis von Nahen 
und Fernem. Ebenfo num beſchräntt die Abweſenheit ber Vernunft 





58 


die Thiere auf die ihnen in der Zeit unmittelbar gegenwärtigen an- 
ſchaulichen Borftellungen, d. i. realen Objecte: wir hingegen, vermöge 
ber Erfenntniß in abstracto, umfaffen, neben der engen wirklichen 
Gegenwart, noch die ganze Vergangenheit und Zukunft, nebſt dem 
weiten Reiche der Möglichkeit: wir überfehen das Leben frei nach allen 
Ceiten, weit hinaus über die Gegenwart und Wirklichkeit... ...... Die 
allfeitige Ueberficht des Lebens im Ganzen, welche ber Menfch durch 
die Vernunft vor dem Thier voraus hat, ift auch zu vergleichen mit 
einem geometrifchen, farblofen, abftracten, werfleinerten Grundriß feines 
Lebensweges. Er verhält ſich damit zum Thiere, wie der Schiffer, 
welcher mittelft Seelarte, Kompaß und Quadrant feine Fahrt und 
jevesmalige Stelle auf dem Meer genau weiß, zum unkundigen Schiffs- 
volf, das nur die Wellen und den Himmel fieht. Daher ift es be 
trachtungswerth, ja wunderbar, wie der Menſch, neben feinem Leben 
in concreto, immer noch ein zweites in abstracto führt. Im erften 
ift er allen Stürmen der Wirklichkeit und dem Einfluß der Gegenwart 
Preis gegeben, muß ftreben, leiden, fterbeu, wie das Thier. Sein 
Leben in abstracto aber, wie e8 vor feinem vernünftigen Beſinnen 
fteht, ift die jtille Abfpiegelung des erften und ber Welt, worin er 
lebt, ijt jener eben erwähnte verkleinerte Griumdriß. Hier im Gebiet 
der ruhigen Ueberlegung erjcheint ihm kalt, farblos und für den Augen- 
blik fremd, was ihn dort ganz befitt und heftig bewegt...... Aus 
biefem boppelten Leben geht jene von der thierifchen Gedankenloſigkeit 
fich fo ſehr unterfcheidende menfchliche Selaffenheit hervor, mit welcher 
Einer, nach vorhergegangener Ueberlegung, gefaßtem Entfchluß oder er: 
fannter Nothwendigfeit, das für ihm Wichtigfte, oft Schredlichite kalt— 
blütig über fich ergehen läßt, oder vollzieht: Selbjtinord, Hinrichtung, 
Zweikampf, lebensgefährliche Wagftücke jeder Art und überhaupt Dinge, 
gegen welche feine ganze thieriiche Natur fih empört. Da ficht 
man dann, in welhem Maaße die Vernunft der thierifchen 
Natur Herr wird. Hier, kann man wirklich fagen, äußert 
fih die Vernunft praktiſch.“ („Welt als Wille und Vorſtellung“, 
I, 100— 102.) 

Die volllommenfte Entwidelung dev praftijchen Vernunft, im 
wahren und ächten Sinne des Worts, der höchfte Gipfel, zu dem der 
Menſch durch den bloßen Gebrauch feiner Bernunft gelangen Tann, 


59 


und auf welem fein Unterfhied vom Thiere fi), am. beutfichften 
zeigt, iſt nach Schopenhauer als Ideal dargeftellt im Stoiſchen 
Weiſen. (Dajelbft S. 103 fg.) 

An einer andern Stelle jagt Schopenhauer: „Bas fr ein uns 
bänbiges Roß Zügel und Gebiß ift, das ift fir den Willen im Men 
ſchen der Intellect: an diefem Zügel muß er gelenlt werden, mittelft 
Belehrung, Ermahnung, Bildung u. f. w.; da er am ſich ſelbſt ein 
fo wilder, ungeſtümer Drang ift, wie vie Kraft, bie im herabſtürzen⸗ 
den Wafferfall erfcheint, — ja, wie wir wiſſen, im tiefften Grunde 
identifch mit diefer.” („Welt als Wille und Vorſtellung“, II, 238,) 
Schopenhauer ſchreibt alfo doch dem Intellect bie Macht zu, den wilden, 
ungeftümen Willen zu bändigen, zu zügeln, zu Ienfen. Mit welchem 
Rechte daher macht ihm der oben erwähnte Preisgefrönte ben Vor— 
wurf, daß er fich durch die behauptete Machtlofigleit des Intellects 
mit den Thatjachen des Lebens in Wiverfpruch geſetzt habe? — Der 
Preisgehrönte führt ja fogar feldft Stellen aus Schopenhauer's Werken 
an, bie feinen Vorwurf wiberlegen, indem er jagt: „Sa Schopenhauer 
erlennt dem Intellect noch eine viel größere Macht über den Willen 
zu, wenn er Haupt. I, ©. 334, jagt: «Die Vernunft könne bie 
widrigen Einbrüce des Todes, bie Todesfurcht überwinden, indem fie 
uns auf einen höhern Standpunkt ſtelle, wo wir ftatt des Einzelnen 
nunmehr bas Ganze im Auge haben.» Und im II. Bande, S. 530 
fagt er fogar, nachdem er ©. 524 erflärt hat, die Tobesfurdht ſei 
von alfer Erlenntniß unabhängig, weil fie die Kehrſeite unfers Willens 
zum Veben fei: «wir feiern daher, wenn die Todesfurcht befiegt wird, 
den Triumph der Erfenntniß über den blinden Willen zum 
Leben, ber doch der Kern unfers eigenen Wefens if.» — So viel 
vermag aljo ver Intellect über den Willen! — Ja, er vermag noch 
mehr. Durch ihn allein ift ja «die Berneinung des Willens 
zum Leben» möglich (I, $. 69), «der Wille kann durch Nichts 
aufgehoben werben, als durch Erkenutniß. Die Natur führt 
den Willen zum Lichte, weil er mur am Lichte feine Erlöſung finden 
tan.» Der Intelfect ift — «das erlöfende Princip in der San- 
hara des Irrthums und der Sünde, welches zum Durchbruch Lomunen 
und das Ganze befreien kanı»!!“ (S. 194 der gehönten Preis 
ſchrift Zange'e.) 


u 





60 


Bon Machtloſigkeit des Intellects über den Willen bei Schopen- 
bauer kann aljo nicht mehr die Rede fein. Aber eine andere Frage 
freilich ift e8, ob nicht Schopenhauer durch die Anerkennung der Macht 
des Intellect8 über ven Willen fich in Wiverfpruch gefegt Habe gegen 
bie von ihm behauptete fecundäre Natur des Intellects, derzufolge 
die Stellung beffelben zum Willen eine dienende und ber eigentliche 
Herr der Wille ift. Die Gegner Schopenhauer’8 halten dieſes alfer- 
dings für einen Widerfpruch, ich aber nicht. Profeffor Jürgen 
Bona Meyer 5. B. in der oben angeführten Stelle wendet das Bei— 
fpiel vom „Lohnbedienten“ gegen Schopenhauer an, inden er fagt: 
„In einer fremden Stadt mag der Herr das Ziel beftinmen, wohin 
er will, aber der Xohnbebiente, der ihn führt, beftimmt die einzufchla- 
genden Wege, um zum Ziele zu fommen, und ber Herr folgt.” Als 
ob damit der von Schopenhauer behauptete Primat des Willens über 
den Intellect widerlegt wäre. Als ob dadurch, daß ber Herr dem 
Diener folgt, das Verhältniß beider fich umfehrte und der Diener zum 
Herrn würbe! So hat Schopenhauer nicht gefolgert, dieſe Folgerung 
hat er vielmehr feinen ſich fcharffinnig bünfenden Gegnern überlaffen. 
Er wußte, daß der Herr, der Wille, obgleich er feinem Diener, dem 
Intellect, folgt, doch ver Herr bleibt, weil er es ift, der das Ziel 
beftimmt, wohin ihn der Diener führen foll, und weil nicht Der, 
welcher die Wege zum Ziele weift, der Herr ift, fondern Der, welcher 
das Ziel vorfchreibt. 

Auf allen Stufen des Willens in der Welt haben die ihn bewe- 
genden und fein Thun beftimmenden Urfachen zwar Macht über ihn, 
aber diefe Macht ift überall eine fecundäre, vom Willen felbft ent: 
fehnte, weil fie nur auf einen für fie empfänglichen Willen wirken, 
einem umenpfänglichen gegenüber Hingegen machtlos find. Die willen 
bewegenden Urfachen fegen ja überall den Willen, auf den fie wirfen 
folfen, ſchon voraus, ſchaffen ihn aber nicht; ihre Macht kann alfo 
nur fo weit gehen, einen fchon vorhandenen, feiner Qualität nach ihnen 
entfprechenden Willen zur Action zu beftimmen, aber nicht fo weit, einen 
ihnen entjprechenden Willen, wo er fehlt, ins Dafein zu rufen. Der 
Intellect mit feinen Motiven ift daher, je nach ven Umſtänden, bald 
ohnmächtig, bald fehr mächtig. Einem Stein, einer Pflanze, einem 
Thier gegenüber ift die Vernunft mit ihren begrifflichen Motiven ohne 


61 


mächtig, auf einen Menfchen hat fie große Macht. Warum? Weil 
jene feinen für Vernunftmotive empfänglicen Willen baben, dieſer 
aber ja. Auch im Menfchen ift die Macht des Intellects eine be- 
fchränfte. Auf die rein vegetativen Functionen feines Yeibes üben in- 
telfectuelle Diotive feine Macht aus. Die Wirkfamtfeit jeder Claſſe von 
Urfachen ift überhaupt nicht blos durch ihre eigene Beſchaffenheit be- 
bingt, fondern auch durch die Befchaffenheit deffen, worauf fie wirken. 
Und die Motive des Intellects, als eine beſondere Claffe von Urjachen, 
machen von dieſem Gefete feine Ausnahme. in blinder Wille, wie 
der des fallenden Steines, kann durch vernünftige Borftellungen nicht 
in feinem Fall aufgehalten werden; eben fo wenig aber ein Menfch, 
ber, von blinder Leidenfchaft Fortgeriffen, fich in einem Zuſtande befin- 
det, in welchen er für vernünftige Motive gar nicht empfänglich iſt. 

Die Schopenhbauer’fche Lehre vom Primat des Willens bleibt 
alfo bejtehen, trotzdem daß zuzugeben ift und von Schopenhauer felbft 
zugegeben wird, daß der Intellect da, wo er mit feinen Motiven auf 
einen für diefelben empfänglichen Willen trifft, große Macht über dieſen 
bat. Die Macht des Intellects über den Willen fteht mit feiner fe= 
cundären Natur durchaus nicht in Widerfpruch, denn fie ift felbft nur 
eine fecundäre, durch den Willen bedingte Macht. 


. Elfier Brief. 


Auflöfung de Gegenfabes zwifhen Wille und Sntellect. — (Grweite 
rung de Begriff vom „Willen zum Leben”. — Erhebung des 
menſchlichen Willens über den thierifhen Willen. 


Der Gegenfaß, den Schopenhauer zwiichen Wille und Intellct 
macht, daß jener nämlich das Primäre, Herrfchenve, diefer das Secum⸗ 
bäre, Dienenbe fei, Löft fih, im Grunde genommen, in einen Gegenfat 
innerhalb des Willens auf, in den Gegenja nämlich des primären, 
herrichenden und bes ſecundären bienenden Willens. Denn obgleich 
der Intellect nach Schopenhauer als Function des Organismus zur 
Erſcheinung gebört, fo ift er doch, wie der ganze Organismus, Er- 
fcheinung‘ des Dinges an fih, d. i. des Willens; auch in ihm ob- 
jectivirt fich der Wille, und zwar als Wille zur Wahrnehmung, ale 
“ ein Erfennenwollen. „So groß und fundamental daher auch ver 
Unterfchied des Wollens vom Erfennen ift, jo bleibt dennoch das Teßte 
Subftrat Beider das Selbe, nämlich der Wille, als das Wefen an 
fi der ganzen Erfcheinung.” Phyſiologiſch angefehen, ift der In⸗ 
telfect eine Function eines Organs bes Leibes, des Gehirns, meta- 
phyſiſch angefehen Hingegen ift er Objectivation des Willens und 
zwar des Willens zu erfennen. (Vergl. Schopenhauer-Kerifon: Er: 
fenntniß.) 

Das Verhältniß des Intellects zum Willen ift alfo, im Grunde 
genommen, nur das Verhältniß eines befondern Willens des Orga- 
nismus, nämlich des Erfenntnißwillens, zum allgemeinen Willen des⸗ 
felben. Welches ift nun aber dieſer letztere? Schopenhauer hat ihn 
als Rebenswillen oder Wille zum Leben beftimmt. Folglich iſt 


| 4 


indem er den Intellect, die Erkenntnißfumction, für den Diener 
Willens erklärt, damit weiter nichts gefagt, als dafı der tuiß⸗ 
wrille im Dienfte des Lebenswillens ſteht, daß es mithin zweier 
Willen giebt: primären ımb fecnndären, herrfchenden und die⸗ 
nenden Willen. 

Jedes beſondere Wollen des Organismus ift ein dienendes, der 
Geſanuntwille deffelben hingegen ift das Herrſchende. Der Wille zu 
gehen, zu greifen, zu erfennen, u. ſ. ww., fie alfe ftehen nur im Dienfte 
des Lebenswillens. ‚ 

Aber ift nicht eben Diejes beftreitbar, daß der herrſchende Wille, 
wie Schopenhauer behauptet, „Wille zum Leben“ fei? Cchopen- 
hauer mag fich zwar wohl mit Necht rühmen, daß Wille zum Leben 
feine bloße Hhpoftafe, fein leeres Wort, fein leerer Wortſchall, wie 
das Abſolutum, das Unendliche, u. |. w., fondern ein Reales fei; 
aber hat er auch Recht zu behaupten, daß Wille zum Leben „das in- 
nerſte Weſen der Welt, das Allerrealfte, was wir kennen, ja, der 

" Kern der Realität ſelbſt“ fei? („Welt als Wille und Vorſtellung“, IT, 
400 fg.) Wird biefe Behauptung wicht durch jene Thatfachen wider- 
legt, in denen der Menfch das Leben fiir Höhere, für geiftige umd fitt- 
liche Zwede aufopfert und dadurch beweift, daß ihm bas Leben Teines- 
wege der Güter Höchtes, keineswegs das „Allerrealſte“ ift? Gicht es 
nicht Unzählige, denen Ehre, Tugend, Recht Höher fteht, als das Leben, 
die für das Wohl der Familie oder des Vaterlandes bereit find, ihr 
Leben zum Opfer zu bringen? Befiegt nicht fogar ſchon bei den Thle— 
ven die aufopfernde Sorge für die Brut und die tapfere Vertheidigung 
der Heerde den individuellen Lebenstrieb? 

Im Hinbfit auf diefe Thatfachen fcheint mir die Bezeichnung des 
den Kern der Welt Bildenden Willens als „Wille zum Leben“ 

allerdings anfechtbar, wenn man unter eben mır das animalifche 

und mar das individuelle Leben verfteht. Wohl aber lann ber Aus- - 
druck ftehen bleiben, wenn man ihm in weiterem Sinne ninmmt und 
pe er 





64 









und Vorſtellung, II, 400); man wird aber auch fich deſſen erimm 
was Schopenhauer biefen Worten gleich Hinzufügt: „und danad z 
möglichften Steigerung deſſelben.“ Diefe Steigerung bat zur Folz 
daß, ob zwar Alles zum Dajein und zum Leben drängt, tod ık 
Alles anf viefelbe Weife dafein und leben will, fondern bie Vär 
höherer Stufen auf eine höhere Weife, als die der niedern. Anker 
will die Pflanze dafein, als der Stein, anders will Das Thier Ieka, 
als vie Pflanze, und wierer anders ter Menſch als das Thier. In 
Pflanze genügt das ernährungs- und fortpflanzungslofe Daſein de 
Steines nicht, dem Thiere das blos vegetative Yeben Der Pflanze nic, 
dem Menſchen das bloße animalifche Yeben des Thieres nicht. De 
Menfch will über dem animalifchen ein humanes, d. i. ein u 
nünftiges und gefittetes YPeben führen. Der Menſch Hat nicht bie 
wie Schopenhauer hervorhebt, einen zweifachen Intellect, einen a: 
ſchauenden und einen veflectivenven, ſondern dem entjprechend auch eins 
zweifachen Willen, einen thierifcehen und einen vernünftigen, und w 
ber reflectivende Intellect mit feinem Blid über das Ganze Des Pcheni, 
über Vergangenheit, Gegenwart und Zufunft, ben anfchanenven, au 
das jedesmal Gegenwärtige beſchränkten Intellect überfteigt, fo am 
ber vernünftige, humane Wille den thierifchen. 

Schopenhauer bat deu Fehler begangen, zwar die höhere Stk 
bes Intellects anzuerkennen und hervorzuheben, durch die ber Charalte 
bes Menfchen fich von dem des Thieres jo ſcharf unterfcheidet, : aba 
dabei doch von dem Willen des Menſchen fo zu fprechen, als win 
er von bem des Thieres nicht ſpecifiſch verfchieden, wäre auch mm, 
wie biefer, auf Befriedigung des Nahrungs- und Gejchlechtstriches ge 
richtet; während doch in Wahrheit dem menjchlichen, über ven thieri 
fchen hinausgehenden Intellect ein menfchlicher, über den thierifchen 
hinausgehenver Wille entfpricht, da ja fonft der vernünftige Intelled 
ganz zwedlos wäre. Würde ber Menſch blos, wie das Thier, vom 
augenbliclihen phyſiſchen Bedürfniß getrieben, was nüßte ibm da bie 
Vernunft und woher hätte er die Fähigkeit, ven phyſiſchen Vebenstrieb 
durch Aufopferung des phyſiſchen Lebens zu befiegen? Beweiſt nicht 
feine Empfänglichkeit für Vernunftmotive, daß er über dem thierifchen 
einen vernünftigen Willen hat? 

Schopenhauer nennt die Steigerung vom bumpfften thierifchen 


6 r 


VBexußtſein bis zu dem des Menfchen eine fortjchreitende „Ablöfung 
des Intellects vom Willen“, welde volltommen, wiewohl nur 
ausnahmsweife, im Genie eintvete; daher fönme man biefes als den 
höchften Grad der Objectiwität des Erfennens definiren. („Welt 
als Wille und Vorftellung“, II, 331.) Aber was Schopenhauer Son- 
derung oder Ablöfung des Intellect® vom Willen nennt (vergl. auch 
‚„Meber den Willen in der Natın“, S. T4—78) — das iſt nur mög- 
lich durch eine Erhebung des menjchlichen Willens über ben thieri- 
chen. Der Objectivität des Erfennens beim Genie entfpricht, wie 
ich (im dem 9, Briefe über das willensfreie Erkennen) nachgewieſen, 
eine gleiche Objectivität des Willens, und daſſelbe gilt von der ethi- 
ſchen Objectivität des Gerechten und Tugendhaften; fie ift feine bloße 
Objectivität des Erfennens, fondern auch eine des Wollens. Die 
Ablöfung des Intelfects vom Willen ift aljo feine abfolute, fondern 
nur eine relative; fie bedeutet mr Ablöſung vom thierifchen, auf blos 
egoiſtiſche Befriebigung gerichteten Willen. 

Uebrigens habe ich die hier berührte ſchwache Seite der Schopen- 
hauer ſchen Philofephie, einen fpeeififchen Unterfepieb bes menfchlicpen 
vom thierifchen Intellect, bei Gleichheit des Willens Beider, anzuneh- 
men, ſchon in dem Werke „Arthur Schopenhauer, von ihm, über ihn, 
Memorabilien, Briefe und Nachlafftüce”, Berlin, 1863, ©. 352 fg. 
aufgevedt und widerlegt. Schon das metaphyfifche Bedürfniß, 
das Schopenhauer dem Menfchen im Unterfchiede vom Thiere beilegt 
und wegen deſſen er ihn ein animal metaphysicum nennt, beweift 
zur Genüge, daß ber menfchliche Wille über ven thierifchen hinaus- 
geht. Wie käme der Menfch, wenn fein Wille „genau denfelben Zwed, 
wie der Wille im Thier: ſich nähren und Kinder zeugen“ hätte, wie 
Schopenhauer in einer von mir im bem obigen Memorabilienwerk 
(S. 352) mitgetheilten Stelle jeines Nachlaffes jagt, — wie füme er 
dazu, ſich zur Befriebigung des metaphhfifchen Bebürfniffes veligiöfe 
und philoſophiſche Syfteme zu bilven, ver Vertheibigung und Ausbreis 
tung berfelben alfe feine Kräfte zu widmen, fe ſowohl indie 





—— Reue 


66 


Allem Gefagten zufolge ift ver Sat Schopenhauer’s, daß ie 
Wefentliche und Hauptfächliche im Thier und im Menſchen das Sck 
ift, und daß, was Beide unterfcheibet, nicht im Primären, im Princik. 
im innerften Wefen und Kern beider Erſcheinungen Tiegt, ale weile 
in der einen wie in der andern ber Wille ift, fondern allein im Sr 
cunvären, im Intellect, im Grade der Erfenntnißfraft (vergl. „Er 
beiden Grundprobleme ber Ethik“, ©. 240 fg.) — diefer Sat ifl, fer 
ich, dahin zu corrigiven, daß ber Unterfchied ziwifchen Menſch wm 
Thier im Secundären (Intellect) eine Folge des Unterfchiedes Be 
der im Brimären (Wille) fei. Denn, wenngleich den Crfcheinunga 
Beider Wille zum Grunde liegt, fo folgt doch daraus noch nic, 
daß der Wille in Beiden auch identiſch ift, d. 5. daß er in Bea 
genau Daffelbe will, in Beiden das gleiche Ziel, den gleide 
Endzweck verfolgt. 

Im bloßen Wollen als folchem find freilich alle Wefen gleid, 
nicht blos Menfh und Thier, fondern auch Menſch und Pflany, 
Menſch und Stein. Aber nicht der leere Wille macht das eigentfide 
Wefen einer Erjcheinung aus; — benn einen leeren Willen giebt ei 
ja gar nicht; — fondern die ſpecifiſche Qualität des Willens, vr 
eigentbümliche Richtung und das Ziel feines Strebens. Diefes if 
beim Menfchen als folchem verfchieden von dem des Thieres. 


5 


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Bwölfter Brief. 


Prüfung der Schopenbauer'jhen Lehre vom Ich als dem „Wunder Kar’ 

og" — Wiberlegung des dualiſtiſchen Gegenfages zwiſchen Erlennen 

und Wollen aus dem Schopenhauer’ihen Monismus heraus. — Conſe⸗ 
quenz für die Unfterblichleitsfrage. 





Nachdem ich Ihnen, verehrter Freund, in meinem vorigen Briefe 
gezeigt habe, daß das Verhältniß des Intellects zum Willen bei 
Schopenfau 


er in Grunde genommen mr das Verhältniß eines befon- - 


dern Organwillens zum Willen des Gefammtorganismus, alfo das 
Verhältniß eines ſecundären, dienenden Willens zum primären, herr 
enden, eines auf bie Mittel gerichteten Willens zum zwedjegen- 
den Willen, ift; jo will ich Ihnen jet nicht verheimlichen, daß ba- 
neben noch eine andere- Anficht Schopenhaner's vom Verhältniß des 
Intelleets zum Willen hergeht, die aber zu jener erfteren nicht paßt 
und die baher, weil jene erftere micht blos bie eigentliche Anficht 
Schopenhauer’s, fondern auch bie wahre ift, verworfen erben 
muß. Im ber „Bierfachen Wurzel des Satzes vom zu veichen: 
ben Grunde” $. 42 ftellt nämlich Schopenhauer das Subject des 
Erfennens und das Subject des Wollens wie zwei fremde coordi⸗ 
nirte Subjecte einander gegenüber und nennt bie Verbindung Beir 
ber im Ich das Wunder xar’ Eon. „Die Identität des Sub- 
jects des Wollens mit bem erlennenden Subject, vermöge welcher 


68 


hingegen, wo vom Eubject bie Rebe ift, gelten die Regeln für wi 
Erkennen der Objecte nicht mehr, und eine wirlliche Identität var 
fennenten mit dem als wellent Grfannten, alje des -Zubjects mit ver 
Object ijt unmittelbar gegebeu. Wer aber Das Unerklärik J 
diefer Identität jich recht wergegenwärtigt, wird fie mit mir das Bar 
ber xar’ ESoymv nennen.” 

Auf diefe jeine Yehre beruft fih Schopenhauer auch noch ſputer 
in der „Welt ald Wille und Vorftellung‘ (I, 121, 296 und II, 2%) 
Sie ift aber unhaltbar gegenüber ver andern, daß der Intellect, ale 
das Subject des Erkennens, dem Willen nicht als ein felbftjtändige 
Wefen coordinirt, fondern als ein dienendes ſubordinirt ift. He 
ver Wilfe, wie Schopenhauer („Ueber ven Willen in der Natur”, S. 48— 
51) lehrt, fi wie mit jetem Organ und jeber Waffe, zur Offenfire 
oder Defenjive, auch mit einem Iutellect, als einem Mittel zw 
Erhaltung des Individuums und ter Art ausgerüftet; jo Tamm bi 
Verbindung des Intellects (des Subjects des Erkennens) mit bem 
Willen zur Einheit im Ich nicht wunderbarer, nicht unbegreifficher fein, 
als die Verbindung jedes andern Organs mit demfelben. Warm, 
fönnte man fragen, foll gerade nur bie Verbindung des Erken—⸗ 
nens mit dem Wollen im Ich der „Weltknoten“, das „Wunder xar 
EeSoynv” fein, warum nicht auch Die Verbindung des Athmens, be 
Berdauens, Zeugens u. |. w. mit bemfelben? Das Erfennen als Fun: 
tion des Gehirns ſteht ja nach Schopenhauer in bemjelben unter: 
geordneten Verhältnig zum Princip des Gefammtorganismus, dem 
Willen zum Leben, wie die Zunctionen der andern Organe. 

Das Echopenhauer’fhe „Wunder xar’ ESoxnv” beruht nur auf 
ber dualiſtiſchen Vorausfegung, daß Erkennen und Wollen einander 
coordinirt find, einander wildfremd gegenüberjtehen. Da muß er fich 
benn freilich wundern, wie fie im Ich zur Ginheit zufammenkommen. 
Mit feiner andern moniftifchen Lehre Hingegen von ver Subordination 
bes Erkennens unter das Wollen ift jene Vorausfegung aufgegeben, 
und bamit verſchwindet denn auch das „Wunder xar’ E£oynv”. Es 
kann nicht mehr davon bie Rebe fein, daß das Ich, indem es Erkennen 
und Wollen in fich vereinigt, „aus zwei heterogenen Beftand- 
theilen zufammengefegt ift, deren Scheibung im Tode vor ſich 
geht” (vergl. Schopenhauer-Lerifon: Ich); denn das Erkennen ift ja 






[0 


dem Willen nicht fremd, vielmehr ift es an ſich Erkenutnißwille, 
und wenngleich das phyſiſche Organ des Erfennens, das Gehirn, durch 
den Tob zerftört wird, fo folgt doch Daraus nicht, daß das melaphy— 
ſiſche Subftrat deſſelben, der Exrfenntnißwille, mit zerftört wird. 

Alles Met aph hfſiſche it ja nach Schopenhauer ungerſtörbar, Nur 
hat aber das Erkennen, bie Gehirnfunction, doch auch eine metaphh- 
ſiſche Seite; denn es ift an fih Erfenntnißwille. Folglich durfte 
Schopenhauer comfequenterweife nicht lehren, daß zwar der Intellect, 
als bloße Function des Gehirns, vom Untergange des Leibes mite 
getroffen werde, feineswegs hingegen der Wille, das Prius des Leibes 
(vergl. „Ueber den Willen in der Natur“, ©. 20; „Welt als Wille 
und Vorſtellung“, II, 305 fg.), fondern er mußte lehren: fo wenig, 
als der Lebenswille, das Prius des ganzen Leibes, durch ben Unter- 
gang deſſelben mitgetroffen wird, eben fo wenig wird der Erfennt- 
wilfe, das Prius bes Gehirns, durch den Untergang bes Gehirns 
mitgetroffen. 

Es ergiebt ſich für die Unſterblichleitsfrage als Confequenz ber 
Schopenhauer’fchen Yehre vom Verhältniß des Metaphyſiſchen zum 
Phyfifchen diefes, daß nicht blos der Wille unfterblich ift, ſondern 
auch der Intellect, zwar nicht der individuelle, hier in biefen bes 
ſtimmten Leibe, diefem beftimmten Gehirne erfceinende, wohl aber- ber 
allgemeine, ber Intellect überhaupt. Dies hat denn auch Schopen- 
Hauer ſelbſt ausgeſprochen, indem er gejagt: „baß weder bev Wille, 
das Ding an ſich in allen Erſcheinungen, noch das Subject bes Er— 
fennens, der Zuſchauer aller Erjcheinungen, von Geburt und Tod 
irgend berührt werden” („Welt als Wille und Vorftellung“, I, 324); 
ferner, „daß, wiewohl die einzelne Exrfeheinung des Willens zeitlich an⸗ 
fängt und zeitlich endet, der Wille felbft, als Ding an fih, hiervon 
nicht getroffen wird, noch aud das Korrelat alles Objects, das 
erfennende, nie erfannte Subject.“ (Dafelbft 332 fg.) 

Das Erkennen, der Intellect, macht nad Schopenhauer ben 
eigentlichen Charalter der Idee der Thierheit aus. (Vergl. Schopen- 
hauer⸗ Lexilon· Thier.) Da nun aber ferner nad Schopenhauer bie 
Ideen, im atz zu ben \ udividuen, von Geburt 
und Tod nach ihm auch das 


8 






70 


Erkennen, als ber wefentliche Charakter einer beftimumten Idee, vw 
ihnen nicht berührt wird. 

Nah Schopenhauer ift alſo confequenterweife nicht bios be 
Wille, fondern auch der Intellect unfterblih, wenngleich er, au 
fecunbär, in demſelben Suborbinationsverhältnig zum Willen fort. 
beftehend gebacht werben muß, das er von Haus aus Hat. 


[} 


Dreizehuter Brief. 


Prüfung der Schopenhauer ſchen Lehre von ver Unveränderlihleit bes 

Willens und der Veränderlihleit des Intelleets. — Nachweis 

des conftanten Elements im Intellect und des variabeln Glements 
im Willen, 





Im dem Gegenfage, den Schopenhauer zwiſchen Wille und In 
telfect macht, ift aufer dem bereits Beſprochenen noch einiges Andere, 
das theils der Erläuterung, theils ber Berichtigung bedarf. Zuerft 
diefes, daß der Jutelleet höchft bedeutende Veränderungen dunch die 
Zeit exleide, der Wille hingegen unverändert bleibe. Schopenhauer 
geht die Veränderungen, die der Intellect von der Kindheit an bis 
zum Greifenalter erleidet, durch und jagt dann: „Der Wille hingegen 
wird von allem biefen Werben, Wechfel und Wandel nicht mitgetroffen, 
fondern ift, vom Anfang bis zum Ende, unverändert derſelbe. Das 
Wolfen braucht nicht, wie das Erfennen, erlernt zu werden, ſondern 5 
geht fogleich vollfommen von Statten...... Wie nun alfo der Cha- 
vater fic fertig einftellt, fo bleibt er auch bis ins fpäte Alter unver 
ändert. Der Angriff des Alters, welcher die intellectuellen Kräfte + 
allmälig verzehrt, läßt die moraliſchen Eigenſchaften unberührt... ... 
Die einzigen Veränderungen, welche in uuſern Neigungen vorgehen, 
find. folche, welche unmittelbare Felgen der Abnahme unferer Körpers 
— SE —— find. Während alle 




















ımermüblie metaphyſiſche Wille mit — 
alſo ebenfalls von Haus aus fertigen, underänd 
lichen phyſiſchen Intellect verfehen — 
daß hier die Erſcheinung fo wenig dem Weſen an 


Thatfächlic) befteht ein folder Dualismus nicht, y 
tellect ftehen Teineswegs in dem Verhältniß des Eonftanten 
bien; ſondern in jedem von Beiden läßt fich ein 
variables Element nachweiſen. Der Wille ift in beft toi 
nicht minder variabel, als der Intellect, und ber Iutelfect 
Beziehung nicht minder conftant, als der Wille. Das 
Beiden ift das Wefentliche, das ihre Natur Ausmac 
borene, das Variable in Beiden ift das Zufällige, das ı 
Einflüffe Entftandene, das Erworbene. 

Was zunächft den Intellect betrifft, fo ändert fich 
des Lebens der Umfang und Inhalt feiner empirischen 
theite und Schlüffe, aber fein aprioriſches Vermögen, ib 
geiffe, Urtheile und Schlüfje zu bilden, fo wie die weſentli 
und Gefege derſelben, bleiben ſtets dieſelben. Und wicht 


— 
73 


inen Anlagen des Jutellects find couſtant; ſondern auch die be⸗ 
Begabung eines beſtimmten individuellen Intellects, z. B. für 
watik, oder Philoſophie, oder Poeſie, oder Mufit, oder ſonſt 
geiftige Virtwofität, bleibt, trot aller Veränderungen, die das 
mit ſich bringt, im Wefentlichen dieſelbe. Goethe's Intellect 
B. war von bev Kinpheit Bis zum Greifenalter ein eigenthümlich 
iſcher, obgleich derſelbe verſchiedene Entwidelungsftufen durchmachte, 
und der Greis nicht mehr fo friſch und naiv dichtete, wie ber 
Züngling. 

Andererfeits, was den Willen betrifft, fo bleibt zwar das all⸗ 
gemeine Wefen des Willens und der beftimmte Charakter eines bes 
fondern Willens das ganze Leben hindurch conftant; aber vie 
Aenferimgs: und Erfcheinungsweife deffelben, fo weit fie durch äußere 
Einflüffe bedingt ift, jo wie der Grad feiner Energie, varitvt doch fehr. 
Der Wille macht jo gut eine Entwidelung durch, wie der Intellect. 
Er ift nur in demfelben Siume von Haus aus fertig, wie der In— 
teltect, nämlich feiner weſentlichen Befchaffenheit, feiner angebovenen 
Grundthätigleit und Grundrichtung nad. Hingegen in Hinficht auf 
Umfang und Inhalt der Gegenftände, die er will, ift ev veränderlich, 
wie ber Intelleet in Hinficht auf Umfang und Inhalt der Begriffe 
und Urtheile. Es giebt eine Bildung und Steigerung des Willens, 
fo gut ‚wie es eine Bildung und Steigerung des Intellects giebt. 
Das Wollen ſelbſt, feiner Natur nach, braucht freilich nicht gelernt 
zu werben; aber eben fo wenig braucht das Vorftelfen, feiner Natur 
nach, gelernt zu. werben. 

Die Schopenhauer'ſche Bertheilung von Konftanz und Baria- 
bilität auf Wille und Imtellect ift alfo Hinfällig. Es laßt ſich au 
Allem und Jedem ebenfo ein conftantes, als ein variables Element 
nachweiſen. Das eigentliche Wefen jeder Sache ift conftant, die Aeuße⸗ 
rungs⸗ nd Erſcheinungsweiſe deffelben variabel, Der Unfertigfeit und 
Abftumpfung des Intellects in Kindheit und Alter entfpricht eine gleiche 
Unfertigkeit und Abftumpfung des Willens, wie die Erfahrung lehrt. 

= 3 












Dierzehnter Brief. 


Prüfung des Schopenhauer'ſchen Gegenſatzes zwifhen der Ermüdlichkeit 
des Intellects und der Unermüdlichkeit des Willens. — Brof. 
Jürgen Bona Meyer's Polemik gegen dieſe Lehre. 





Sch fchließe, verehrter Freund, an das in meinem vorigen Briefe 
Auseinandergeſetzte gleich Das an, was ich noch beſonders über Den Gegen- 
faß der Ermüdlichkeit des Intellects und der Unermüdlichleit des Willens 
bei Schopenhauer zu jagen babe. „Der Intellect ermübet; ber 
Wille ift unermüdlich, — Alles Erfennen ift mit Anftrengung ver- 
Mmüpft; Wollen bingegen ift unfer felbfteigenes Weſen, deſſen Aeufe 
rungen ohne alle Mühe und völlig von felbft vor fich geben....... 
Als ein Secundäres und Phyſiſches ift der Yutellect, wie alles Phy— 
fifche, der Vis inertiae unterworfen, mithin erjt thätig, wenn er ge 
trieben wird von einem Andern, vom Willen, ver ihn beherrfcht, Ientt, 
zur Anftrengung aufmuntert, kurz, ihm die Thätigfeit verleiht, die ihm 
urfprünglich nicht einwohnt. .... Der Wille Hingegen, als das Ding 
an ſich, ift nie träge, abjolut unermüdlich, feine Thätigkeit ift feine 
Ejjenz, er hört nie auf zu wollen, und wenn er, während bes tiefen 
Schlafs, vom Intellect verlaffen ift und daher nicht, auf Motive, nach 
außen wirken kann, ift er als Lebenskraft thätig, beforgt befto unges 
ftörter die innere Defonomie des Organismus und bringt auch, als 
vis naturae medicatrix, bie eingefchlichenen Unvegelmäßigfeiten des⸗ 
felben wieder in Ordnung. Denn er ift nicht, wie der Intellect, eine 
Function des Leibes; fondern der Leib ift feine Function.“ 
(„Welt als Wille und Vorftellung“, IL, 236 fg.) 

Gegen die bier behauptete Unermüdlichkeit des Willens im Gegen- 


75 


ſatze zur Ermüdlichkeit des Intellects polemifirt Prof. Jürgen Bona 
Meyer in Bonn folgender Weife: „Der Wille hat auch mehr zu 
thun, als wie der Sultan in den Divan zu treten, um fein Genehm 
oder Nichtgenehm zu ſprechen; ex hat auch dafür zu forgen, daß bie 
Kraft zur Ausführung feines Wollens nicht fehlt. Und dieſe an— 
dauernde Kraftanftrengung des Wollens ift eben jo wenig mühelos, 
wie das Ringen lach Erfenntniß, wie auch umgelehrt die bloße logiſche 
Bejahung oder Berneinung dem Verftande eben jo wenig Mühe macht, 
wie dag eintönige Genehm oder Nichtgenehm dem Willen. In Aber 
tracht dieſes allein vichtigen Sachverhalts Hat es auch gar leinen Stun, 
mit Schopenhauer zu behaupten, der Wille beweiſe auch dadurch 
feinen Vorrang vor dem Intellect, daß ex nicht wie biefer ermübe, 
Wolfen fei eben unſer felbfteigenes Wefen, gehe daher leicht von ftatten, 
fogar zu leicht, wie die häufige Voreiligfeit des Willens zeige, eben 
deshalb ermüde der Wille nicht, wie dev Intellect, den anftrengenbe 
Kopfarbeit erſchlaffe. Gerade umgelehrt verhält es ſich in Wahrheit, 
nichts Hält den Geift beffer wach, als geiftige Arbeit, nichts fpannt 
feine Kraft raſcher ab, als Wünf—en und Wollen. Giebt dies doch 
Schopenhauer jelbft zu, wenn er aus dem Wollen die Pein des 
Lebens ableitet, die zur lebensmüden Weltverneinung führen fol,“ 
(„Arthur Schopenhauer als Menſch und Denker“, Berlin, 1872, 
Lüderitz ſche Buchhandlung, S. 35 fg.) 

Bei derartiger, Teichtfertiger Polemik gegen Schopenhauer braucht 
freitich der Jutellect nicht zu ermüben. Schopenhauer ſpricht von ber 
erjchlaffenden Wirkung anftrengender Kopfarbeit. „Gerade umge» 
fehet“, erwidert Prof, Meyer, „verhält es fich in Wahrheit, nichts 
hält ven Geift beffer wach, als geiftige Arbeit,” Als ob damit bie 
erfchlaffende Wirkung anftrengender Kopfarbeit widerlegt wäre! 
Daß geiftige Arbeit deu Geift wach erhält, wird Niemand beftreiten; 
aber. auch Keiner, ausgenommen der, dev fich die geiftige Arbeit: leicht 
macht, wird darin eim Argument gegen bie von Schopenhauer ber 
Hauptete Ermübfichfeit des Intellects fehen. 

Gegen die Ermüdlichleit des Intellects läßt fich mit Grund nichts 
eimvenden; denn fie wird nur allzu ſehr durch die Erfahrung beftäs 
tigt. Aber nicht blos der Intellect ermübet durch dauernde An— 
ftrengung, ſondern überhaupt jede befondere Function des Organismus, 


16 


alfo jede befondere Willensfunction,; denn jebe findet einen 
ftand zu überwinden, und ber Wiberftand eben ift es, ber bie 
bung berbeiführt. Alſo kann die Unermüdlichleit des Willens u 
von einem befonbern Yeibeswillen, fei e8 dem bes Gebiet, 
bem der Athmungs⸗, oder dem ber VBerdaumgsorgane, u. f. w., 
fondern nur von bem dem ganzen Leibe zum Grunde liegenden Yen 
willen. Diefer ift während des ganzen Lebens unermüpfich thäig 
jeder feiner befondern Zunctionen hingegen ermütet er; benn es fer 
ja ein Wechfel der Functionen ftatt. Im Wachen find andere fur 
tionen Überwiegend thätig, als im Schlaf. Die Lebenskraft kam de 
haupt, wie Schopenhauer felbft lehrt, nicht gleichzeitig unter ihren iR 
Formen: Reproductionskraft, Irritabilität und Senfibilität, je 
immer nur unter einer ganz und ungetbeilt, alfo mit voller Ki 
wirken. („Parerga“, II, 175.) An ſich zwar ift Die Lebenskraft ı 
eine und wirkt, als Urkraft des Organismus, ald principielfer Leben 
wilfe, unermüdlich, bedarf alfo keiner Ruhe. Jedoch ihre drei Eride 
nungsformen, Irritabilität, Senfibilität und Reproduction, ermie 
allerdings und bebürfen der Ruhe, weil fie allererft mittelft der Uebe WM 
winbung ber Willenserfcheinungen niebrigerer Stufen den Drganitui 
hervorbringen, erhalten und beherrfchen. („Welt als Wille und Bord 
lung“, I, 174. „Parerga“, U, 174— 177. — Bergl. auch Schopat- 
haner-Yerifon: Lebenskraft.) 

Alſo Hat die von Schopenhauer behauptete Unermüdlichkeit bi 
Willens nur den Sinn, daß, gegenüber ber Ermüdlichkeit der befer 
bern Functionen des Yeibes, der dem gefammten Yeibe zu Grunk 
liegende Lebenswille unermüdlich tätig ift, da er, wenn er in im 
einen Function paufirt, dafür in einer andern deſto ungetheilter un 
intenſiver thätig. ift. 

Diefe Unermüblichkeit ift alfo nur eine relative Daß fie fein 
abfolute fei, das beweift der Tod, den Schopenhauer felbft für einen 
Beweis der Ermüdung der indivinnellen Lebenskraft oder des inbini- 
duellen Lebenswillens anfieht, inden er da, wo er von dem beftän: 
bigen Kampf, ben die organifchen Naturweſen gegen die Kräfte ver 
unorganifchen Natur zu unterhalten haben, fagt: „Daher ift das be 
hagliche Gefühl der Geſundheit, welches den Sieg der Idee des fich 
jeiner bewußten Organisınus über bie phyfifchen und chemifchen Geſetze, 

















Suaf;chuter Brief. 






Stewerlac X Örrisı — zrite Bolemit gegm bie 
x::::2 Ticier BRolemit. 


Nacdem ib An. drebrrter Freund, meine Stelles 
Sdopendauer ichen Vorne ven dem Verbälmiß des Willens zum) 
tllt in mehren Bricier duradlest babe, will ib hieran gleich m 
Anſicht über die Shexendouer'iche Abweichung von ber 
Findetogie im Punkte WE Gefüdlée anfmüpfen. Die vulgäre Pb 
texte nimmt delanntiich drei Erundvermögen an: Erkenntniß⸗, Geil 
uud Begebrungevermögen. Schepenbauer Dagegen betrachtet pas & 
fühl als fein deſonderes Vermögen. Denn er Ichrt: „Wenmn wii 
unſer Inneres dliden. finden wir uns immer als wollend. I 
hat das Wollen viele Grade, nem leiſeſten Wunfche Bis zur Lebe 
ſchaſt, und daß nicht nur alle Affecte, ſondern auch alfe vie Ba 
aungen unſers Innern, welche man dem weiten Begriffe Gefi 
ſubſumirt, Zuſtände Des Willens find, babe ich öfter auseinand 
geſetzt.“ („Vierfache Wurzel des Zuges vom zureichenden Grud 
S. 143.) 

Näher ausgeführt findet ſich dieſer Gedanke in den „Bei 
Grundproblemen der Ethik“, wo Schopenhauer (S. 11) auseinam 
fett, daß der Menfch fich feines eigenen Selbfts unmittelbar als ei 
Wollenden bewußt werde, hierin aber die Gefühle der Luft ı 
Unluſt mit inbegriffen feien. „Jeder wird, bei Beobachtung dee ei 
nen Selbftbetoußtfeins, bald gewahr werben, daß fein Gegenftanb a 
zeit das eigene Wollen ift. Hierunter hat man aber freilich nicht 6 
bie entjchiedenen, fofort zur That werdenden Wilfensafte und di⸗ 















imerign Ve me Meriger. 27 ’zzz Iurereflen und Rem 
jenen Zorn, Ze onem Worte mit dem U 
Ne lin m meer srımmeieeı neben. Ohme auf ve ® 
her Nr oziiner Serien ie net eingehen zu wolle, be 
mer zeit ing, nt Ur Nozmaaen fidh auf zwei Grm 
anidnazzım smaßärrz rer rom tollen fie Die Luft als & 
jriesigerz. Salat Se Vacntrerisee N Begehrens auf, oder nm 
zeledr: dee Asa za Totesıı der zufünftigen Luft, W 
Sıeradiaksen zen Verde Ss Vernellung ver zufünftigen Ir 
nit. Am erttiem web: nz Tür ım legiem Dad Gefühl als N 
Urjrrüneliche gest. Was nz Women tod Richtige ift, A 
fdmer zu eben. verz eriene Nie im Initinet Das Wollen fach 
ner der Veritcllung der Val. itiz eisemlichos Ziel ift bier ein ante 
ale die individuel!e Yu der Biiriedigimg: zweitens wirb wi 
tur die Erflärung ir Yult ale Befrictigung des Willens Alle a 
der Yuft geuũgend März, atır nic umgelehrt Alles am Willen vai 
die Erllärung denſelden als Xeritelung ter Luſt; bier bleibt di 
eigentlich treidende Moment, ver Wiue ale wirfente Caufalitit 
völlig unbegreiflich: — eden weil ver Wille die Veräußerlichum, 
Luſt und Unluſt aber dic Rückkebr ven tiefer Veräußerlichumg ji 
fich jelbit und damit ver Adſchluß dieſes Proceſſes iſt, darum m 
ter Wille Dad primäre, die Yult Das ſecundäre Moment fein.” 
(„Philoſophie tes Unbewußten“, 3. Aufl, <. 223 fg.) 

Schopenbauer und von Hartmann ftimmen alfo darin über 
ein, dab das Gefühl ren Willen zur Qerausfepung babe, daß Yıll 
und Unluft im Wejentlichen nichts Anderes jeien, ale Innewerden ter 
befrietigten und unbefrickigten Willens. Co überzeugend nun abe 
auch dieſes ift, fo haben doch Antere tagegen pelemilirt, am ſtärkſter 
zulegt nob A. Spir im zweiten Bande feines Werkes: „Denken mt 
Wirklichkeit. Verſuch einer Erneuerung der kritiſchen Philoſophie“ 
(Leipzig, 3. G. Findel, 1873). Dofeldft wire im III. Capitel: „Der 
Wille” die Frage erörtert, ob die Gefühle der Luft und der Unluſt 
eine Folge unferes Willens und unferer Thätigfeiten feien, oder ob 
umgefehrt in jenen Gefühlen der Grund bes Willens und der Thätiz— 
keiten des Ich Tiege? Die Antwort lautet: „So offenbar vie A 
nahme, daß Yuft und Unluft ihrem Wefen nach eine Folge des Willen 











83 


und biefes Gefühl treibt zum Aufjucen der Mittel, welche bem 
Schmerz ein Ende machen. 

Dem Sage Spir’s: „Augenſcheinliche Thatſache ift, daß bie 
Gefühle der Luft und Unfuft den Grund alles Strebens und alles 
Wollens bilden” (Daſelbſt, S. 146) läßt ſich alſo mit gleichem Necht 
der andere entgegenftellen: Augenſcheinliche Thatfache ift, vaß Streben 
und Wollen den Grund aller Gefühle der Luft und Unluſt bildet, 
Beide Säge find gleich wahr, aber jeder in einem andern Sinne. 
Die Gefühle der Luft und Umluft find der Grund alles auf bie 
Mittel zur Selbfterhaftung und Selbftbefrieigung gerichteten Stre- 
bens, und der Wille zur Selbfterhaftung und Sefbftbefriebigung. ift 
der Grund der Gefühle der Luft und Unkuft. 

Spir jagt: „Die Gefühle bilven in der That den eigentlichen 
Schwerpunkt unfers ganzen Wefens. Wären wir feiner Luft und Un- 
luſt fähig, jo würde uns Alles volltommen gleichgültig fein; wir 
würden feinen innern Antrieb Haben, nach irgend eiwas zu ftreben, 
noch irgend etwas zu thun. Die ganze gemüthliche und moraliſche 
Seite unfers Wefens würde wegfallen und felbft unfer Intellect zu 
einem bloßen Mechanismus herabfinfen, deſſen Getriebe durch rein 
äuferliche Beweggründe unterhalten wäre.” (Dafelöft, ©. 150.) Aber 
eben jo wahr ift: Nöthigte ung nicht dev Wille, gewiſſe Zuftände zur 
fuchen, andere zu fliehen, fo wären wir ber Luft aus dem Erreichen 
und der Unluft aus dem Eutbehren berfelben völlig unfähig; dieſelben 
wären uns ganz gleichgültig. Warum ift ein Stein ober eine Pflanze 
animalifcher Luft und Umluft unfähig? Weil der Wille des Stei- 
nes fein animalifcher ift. 

Die Spir'ſche Beſchuldigung des Widerſpruchs gegen Schopen- 
bauer beweift alfo mm den eıgenen Unverftand Spir's. 





6* 


Sehszehuter Brief. 


Schopenhauer's angeblider Rüdjall in den mittelalterlihen NRealismi. 
— Widerlegung der Epirihen Bebauptung, vab Wille eine bi 
Eigenſchaft ſei. 


Da ich eimmal von Spir zu reden veranlaßt worden bin, fr 
will ich gleich auch noch eines andern Einwands gedenken, den derſelle 
gegen bie Schopenhauer’jche Yehre macht. Spir kommt nämlich in 
zweiten Bande feines Werkes: „Denken und Wirklichkeit, Berſuch eine 
Erneuerung ber kritiſchen Philoſophie“ (Leipzig, I. G. Findel 1873), 
in bem neunten Capitel: „Kraft und Geſetz“ auf den mittelalterliche 
Streit zwifhen Nominalismus und Realismus zu fprechen und 
fagt dafelbft (S. 117): „Kein Menfch wirb natürlich in unferer Zeit 
behaupten, daß etwas unfern allgemeinen Begriffen Entjprechendes 
wirklich exiftire, daß es einen Mienfchen an fih, einen Tiſch an fid, 
eine Gerechtigfeit an ſich, eine Verfchiedenheit an fih u. ſ. w., als 
Ideen im platonifchen Sinne gebe.” In einer Anmerkung hierzu po 
femifirt alddann Spir gegen Schopenhauer folgendermaßen: „Gegen⸗ 
wärtig wird indeſſen zu Gunjten des Willens eine Ausnahme gemadt. 
Wie man in alten Zeiten das Eine an fih und das Schöne an ſich 
zu befondern Entitäten machte, fo ift e8 feit Schopenhauer in bie 
Move gefommen, den Willen an fi zu einer befondern Entität zu 
machen. Unter dem «Willen» will man nicht etwa einen wollenden 
Gegenſtand verftehen, welcher außer feinem Wollen noch andere Eigen- 
Ichaften hätte; nein, das Wollen felbft, als ſolches, wird hypoſtaſirt 
und fogar für den Grund aller Dinge erflärt. Allein, es ift nicht 
abzufehen, warum eine ſolche Ausnahme jtattfinden ſollte. Wenn 


einen «Willen an ſich⸗ giebt, fo muß es auch eine «Numbheit an ſich⸗ 
und einen « Schuupfen an fich» geben, und das ganze Wörterbuch 
fauter abftracte, allgemeine Entitäten bezeichnen, welde irgendwo 
hinter ben einzelnen conereten Dingen fteden.” (S. 117, Anmerk.) 

Hiergegen ift zweierlei zu fagen. Erſtens: Schopenhauer hy— 
poftafirt nicht den abftracten Begriff des Willens, macht nicht 
biefen, der mm vom wirffichen, qualitativ beftinmten, in den cocri— 
ftivenden und fucceffiven Naturftufen zur Erfcheinung kommenden 
Willen abſtrahirt ift, zum Ding an ſich, fondern eben mm ben 
wirklichen Willen. Schopenhauer ftand überhaupt in- feiner Dent- 
weife nicht auf dem Standpunkt des mittelafterlichen Realismus; 
denn nicht ven Begriffen fchreibt er Realität zu, fonbern im Gegen- 
ſatze zu benfelben ben Ideen, den Objectivationsftufen des Willens. 
Der Realismus ber Scholaftifer ift nach ihm entftanden aus ber Ver- 
wechslung ber Platoniſchen Ideen, ala welchen, ba fie zugleich bie 
Gattungen find, allerdings ein objectives, reales Sein beigelegt werden 
tan, mit den bloßen Begriffen, welchen mm bie Realiſten ein ſolches 
beilegen wollten und dadurch die fiegreihe Oppofition des Nominalis- 
mus Hervorriefen. („Welt als Wille und Vorftellung“, IL, 417. — 
Vergl. auch Schopenhauer-Lerifon: Nominalismus und Rea- 
Lismus.) 

Zweitens: Daraus, daß Rundheit und Schnupfen keine Dinge 
an fich, fondern nur Eigenſchaften find, die einem wirklichen Dinge 
inhäriren, folgt nicht, daß der Wille auch nur eine Eigenfchaft eines 
Dinges neben andern Eigenfchaften fei, alfo das Ding, dem er in- 
härire, zur VBorausfegung habe. Denn das wäre eben erſt zu beiveifen. 
Schopenhauer beftreitet 8, daß der Wille auf gleicher Pinie ftehe mit 
den Accidenzen eines Dinges; ihm ift derſelbe vielmehr die Sub- 
ftanz, der Träger aller Accidenzen. So lange daher biefes nicht 
widerlegt, fo lange nicht bewiefen ift, daß Wollen auf gleicher Linie 
fteht, wie die ſecundären Eigenfchaften eines Dinges, wie rund und 
edig, geſund und Mrank u. f. w., fo lange ift mit dieſen Spir ſchen 
Analogien gar nichts gegen Schopenhauer ausgerichtet. Wenn Wolfen 
neben anbern Eigenfchaften 
Subject, dem jene Eigen« 
‚ ein Subject von feinen 








Eigenfchaften unterfcheivet, nimmt man doch an, daß es nnabhän 
von bem Eigenfchaften, die es bat, Etwas an ſich ift, mes ülk 
bleibt, wenn man von ben Eigenſchaften abſieht. Spir Kat an 
nicht gezeigt, was das Subject, als befien bloße Eigenſchaſft a 
den Willen betrachtet, an fich ift. Inden Schopenhauer lehrt, da 
jever reale Gegenftand an fih Wille ift, hypoſtaſirt er nicht cn 
Eigenſchaft, ſondern fett vielmehr,‘ was bisher blos irrthämlic fi 
eine Eigenfchaft gehalten worben ift, in feinen wahren Rang, in ba 
Rang eines an fich feienden Weſens ein, indem er zeigt, baf te 
allen Eigenfchaften der Dinge zum Grunde liegende Wefen Wille, 
und zwar nicht abftracter Wille, fondern Wille von fpecififcher Os 
lität ift. 

Wer den Willen für eine bloße Eigenfchaft ausgiebt, Hat zu fagen 
welches Wefens Eigenfchafb er ift; denn Eigenfchaften ſchweben ded 
nicht in der Luft, fondern inhäriren einem Etwas, einem beftimumie 
Subject, das diefe Eigenfchaften Hat. Nun läßt fi zwar Leicht ven 
ber Rundheit, vem Schnupfen, u. |. w. das ihnen zu Grunde Tiegene 
Subject angeben. Aber nicht fo leicht ift e&, das dem Willen zu 
Grunde liegende Subject anzugeben. Nehme ich einem realen Ding 
ben Willen, burch ben es ſich kund giebt, was ift es alsdann noch? 
Was ift der Stein ohne den in feiner Schwere und in feinen chemi- 
hen Eigenichaften ſich fund gebenden Willen? Was ift Die Pflanze, 
was ift das Thier ohne den vegetativen und animalifchen Willen? 
Läßt fich etwa der fpecififche Wille des Steines, der Pflanze, des 
Thieres eben fo, ohne fie zu zertören, von ihnen trennen, wie fid 
bie Rundheit vom Tiſch, ohne ihn zu zerftören, und der Schnupfen 
vom Menſchen, ohne ihn zu zerftören, trennen läßt? 

Wille ift identiſch mit Kraft. Polglid müßte, wenn Spir 
Hecht hätte, auch die naturwifjenfchaftlihe Zurüdführung aller Er⸗ 
ſcheinungen auf Kräfte eine unberechtigte Hhpoftafe fein. Die Natur 
fräfte müßten ebenfalls für bloße Eigenſchaften der Dinge, vie, 
ohne fie aufzuheben, von ihnen getrennt werden können, gehalten wer: 
den, wie Rundheit, Schnupfen u. ſ. w. 

Betrachtet aber die Naturwiffenfchaft die Kräfte jo? Nein, fie 
betrachtet fie vielmehr als das unentftandene und unvergängfidke. 


87 


Grundiwefen aller wandelbaren, entftehenden und vergehenden Eigen- 
ſchaften. 

Kurz, fo wahr es auch iſt, daß eine bloße Eigenſchaft nicht 
bupoftafirt, nicht zum Ding an fich gemacht werben darf, jo wenig 
folgt doch daraus, daß Wille oder Kraft nicht als Ding an fich 
betrachtet werden dürfe. Denn Wille oder Kraft ift eben Teine bloße 
Eigenſchaft, fondern das allen Eigenfchaften zu Grunde Xiegenbe. 


Aral ner Sitemahmeriie Gexruge: zruben em Willen an ſiq 
zer kim Ubjectitiet — Uxmhzrähler rer Erieuniuii des Ganjeı 
m einzelzex Eribemeng. 








Zem Zorfiellen ur Kühlen Li: fh, verehrter Freund, nad- 
weijen, umt ich habe c# Iuen bereite machgewieien, daß fie fecumbär 
find, daß fie einem Willen zur Teramtjegung haben, ba bei jeber 
Claffe von Beten das Verſtellen ſich mur auf tie Sphäre von Ob 
jecten beichränft, vie jür ihren Willen ven Interefie find, und de 
das Fühlen nur bie Beiriekigung eder Semmmg des Willens zum 
Gegenftand hut. Aber nicht chen je läßt ſich vem Willen nachweifen, 
daß er jecunbür ijt; denn man kann nichts angeben, wovon Wollen 
bie Folge jei. Ich fpreche natürlich bier nicht von einzelnen Willens 
acten oder Willensentfchlüjfen; venn dieſe ſind allerdings Fein „Ur: 
fein”; aber Wille als das allen einzelnen Wilfensacten zum Grunbe 
ltegenbe wefentliche Streben muß allertings als „Urſein“ gedacht 
werden. Denn wäre es entitanden, fo müßte man Das angeben 
fönnen, woraus es entjtanden ift. Man wirb aber immer eher alfes 
Entftandene aus dem Willen ableiten können, als den Willen aus 
Etwas, das nicht Wille ift. Es ift nur Täufchung, wenn man z. B. 
meint, bie Materie fei etwas Anberes als Wille, und die Ableitung 
bes Willens aus der Materie wäre daher Ableitung befjelben aus 
etwas Anderm. Die Materie ift ja an fich nichts, als Wille von 
beftimmter Befchaffenheit und Richtung. Kurz, man ftößt bei jeber 
Erllärung immer zuleßt auf Willen im Schopenhauer’schen Sinne. 

Sp fehr ich nun aber auch hierin mit Schopenhauer überein 


ftinme, und fo unbegrünbet ich daher folche Einwendungen dagegen finde, 
wie fie Spir und Andere erhoben haben, fo ſtimme ich darum doch 
noch nicht mit Allen überein, was Schopenhauer vom Willen als 
Ding an fih im Gegenfag zu feiner Erſcheinung oder Objec- 
tivation fagt. Ich finde Hier noch Reſte von Dualismus, bie mit 
dem fonftigen Monismus der Schopenhauer ſchen Philoſophie nicht 
zuſammenſtimmen. 

Schopenhauer macht nämlich folgenden Gegenſatz zwiſchen dem 
Willen an fich und feiner Objectität: „Iſt num dieſes Ding an 
fich, wie ich Hinlänglich nachgewiefen und einleuchtend gemacht zu Haben 
glaube, der Wille; fo liegt er, als folcher und gefonbert von feiner 
Erſcheinung betrachtet, aufer ber Zeit und dem Raum, und lennt 
demnach feine Vielheit, ift folglich einer, doch, wie ſchon gejagt, nicht 
wie ein Individuum, noch wie ein Begriff Eins ift; ſondern wie etwas, 
dem bie Bedingung der Möglichkeit der Vielheit, das principium in- 
dividuationis, fremd ift. Die Vielheit der Dinge in Raum und Zeit, 
welche fämmtlich feine Objectität find, trifft daher ihm nicht und 
er bleibt, ihrer ungeachtet, untheilbar. Nicht ift etwan ein Meines 
ver Teil von ihm im Stein, ein größerer im Menſchen: va 
das Verhältniß vom Theil und Ganzen ausfchließlich dem Raume an= 
gehört und feinen Sinn mehr hat, fobald man von diefer Anfchauungs- 
form abgegangen ift; fondern auch das Mehr und Minder trifft nur 
die Erſcheinung, d. i. die Sichtbarkeit, die Objectivation: von biefer 
iſt eim Höherer Grad im der Pflanze, als im Stein; im Thier ein 
höherer, als in der Pflanze: ja, fein Hervortreten in bie Sichtbarkeit, 
feine Objectivation, hat fo unendliche Abftufungen, wie zwifchen ber 
fchwächften Dämmerung und den helfften Sonnenlicht, dem ftärfften 
Ton und dem leifeften Nachklange find. Noch weniger aber, als bie 
Abftufungen feiner Objectivation ihn ſelbſt unmittelbar treffen, trifft 
ihn die Vielheit der Erfcheinungen auf dieſen verſchiedenen Stufen, 
d. i. die Menge der Individuen jeder Form, oder der einzelnen Aeuße ⸗ 
rungen jeder Kraft; da biefe Vielheit unmittelbar durch Zeit und 
Raum bedingt Äft, in die’ er ſelbſt nie eingeht. Er offenbart ſich 
eben fo ganz und eben fo jehr in einer Eiche, wie in Millionen: ihre 

J in Raum und Zeit hat gar feine Bedeu⸗ 
nur in Hinficht auf die Vielheit ber 







9a 


amm ober einem einzelnen menfchlichen Individuum ganz und uns 
etheilt gegenwärtig ift, fo wenig und noch weniger lann der Natur- 
ville in einer einzelnen Naturgattung oder einem einzelnen Individuum 
anz vorhanden fein, ba ja fonft die übrigen ganz überfläffig wären, 

Wie in jedem einzelnen Gliede des Leibes nicht der ganze Leibes- 
ville gegenwärtig ift, fondern nur ein Theil, nur eine befonbere 
unetion des ganzen Leibeswillens, eine andere im Gehirn, eine andere 
1 Herzen und wieder eine andere in den Genitalien u. ſ. w.z fo 
mm auch in den einzelnen Gattungen und Individuen ber Natur nicht 
er ganze Naturwille gegemvärtig fein, ſondern in jeder und jeden 
ur eine befondere Function des ganzen. Milrolosmos und Mafrolos- 
108 erläutern fich auch hier gegenfeitig. 

Die Einheit und Untheilbarkeit des Weltwillens kann nicht 
arin beftehen, daß er in jeder einzelnen Erſcheinung ganz tft, fon- 
ern nur darin, daß er das einheitlich Umfaſſende feiner ſämmtlichen 
bgeftuften und individualiſirten Erſcheinungen ift. Die Einheit alfo 
(8 eine ſich gliedernde ſchließt die Vielheit nicht aus, fondern ein. 

Es ift daher auch nicht wahr, daß man für die Erfenntniß nichts 
arliert, wenn man, ftatt die unermeßlich in Raum und Zeit ausge- 
ihnte Welt zu durchgehen, bei irgend einem Einzelnen ſtehen bleibt, 
dur aus dev ganzen Erfcheinung kann man das ganze Wefen er- 
nen fernen, nicht aus einem Theil oder Bruchftüc deffelben; jedes 
inzelne ift aber nur ein Theil, ober Brucftüd. Um z. B. bie 
Renfhheit kennen zu lernen, darf man nicht bei einem einzelnen 
Benfchen, noch auch bei einer beſtimmten Nation und einem beftinum- 
it Zeitalter ftehen bleiben, fondern muß beſchwerliche Reifen durch 
fe von Menfchen bewohnten Länder und Welttheile machen und muß 
hſame gefchichtliche Forſchungen über die Menfchen verſchiedener 
ten anftellen. So bequem, wie Schopenhauer glaubt, ift doch bie 
re Weisheit nicht zu erlangen. Er jelbft hat ſich's in feinem 
item nicht fo bequem gemacht, fondern hat die ganze Natın und 
ſchichte durchforſcht und zur Bafis feiner Philoſophie gemacht. 

Nur, wenn die Erfcheinung des Weltwejens feine Gliederung im 
arie und feine Entwidlung in der Zeit hätte, fondern aus lauter 
E chen Individuen neben und nach einander beftände, dann freilich 
tete man fich nicht exft die Mühe zu geben, alle Räume und Zeiten 





9A 


ftamm ober einem einzelnen menfchlichen Individuum ganz und un— 
getheilt gegenwärtig ift, fo wenig und noch weniger fan der Natur⸗ 
wille in einer einzelnen Naturgattung oder einem einzelnen Individuum 
ganz borhanden fein, da ja fonft die übrigen ganz überfläffig wären. 

Wie in jedem. einzelnen Gliede des Yeibes nicht der ganze Leibes- 
wille gegemwärtig ift, fondern nur ein Theil, nur eine beſondere 
Function des ganzen Leibeswillens, eine andere im Gehirn, eine andere 
im Herzen und wieder eine andere in ben Genitafien u. ſ. w.; fo 
lann auch in den einzelnen Gattungen und Individuen der Natur nicht 
der ganze Naturwille gegemvärtig fein, fondern in jeder und jedem 
nur eine befonbere Function des ganzen. Milrolosmos und Mafrolos- 
mos erläutern fich auch hier gegenfeitig. 

Die Einheit und Untheilbarkeit des Weltwillens kann nicht 
barin beftehen, baf er im jeber einzelnen Erfcheinung ganz ift, fon 
dern nur darin, daß er das einheitlich Umfaffende feiner fünmtlichen 
abgeftuften und indivibualifirten Erfcheinungen ift. Die Einheit alfo 
als eine ſich glievernde ſchließt die Vielheit nicht aus, fondern ein. 

Es ift daher auch nicht wahr, daß man für die Erleuntniß nichts 
verliert, wenn man, ftatt die unermeßlich in Raum und Zeit ausge 
dehnte Welt zu durchgehen, bei irgend einem Einzelnen ftehen bleibt, 
Nur aus der ganzen Erfcheinung kann man das ganze Weſen er- 
lennen lernen, nicht aus einem Theil oder Bruchſtück deffelben; jedes 
Einzelne ift aber nur ein Theil, oder Bruchftüd. Um z. B. bie 
Menſchheit kennen zu lernen, darf man nicht bei einem einzelnen 
Menfchen, noch auch bei einer beftimmten Nation und einem beftimm- 
ten Zeitalter ftehen bleiben, ſondern muß beſchwerliche Neifen durch 
alle von Menfchen bewohnten Länder und Welttheile machen und muß 
mühſame geſchichtliche Forſchungen über die Menfchen verſchiedener 
Zeiten anſtellen. So bequem, wie Schopenhauer glaubt, iſt doch die 
wahre Weisheit nicht zu erlangen. Er ſelbſt hat ſich's in feinem 
Syſtem nicht fo bequem gemacht, fonbern hat bie ganze Natur und 
Gefchichte durchforſcht und zur Baſis feiner Philofophie gemacht. 

Nur, wenn die Erfcheinung des Weltwefens feine Gliederung im 
Raume und feine Entwidlung in der Zeit hätte, ſondern aus lauter 
gleichen Individuen neben und nach einander beftänbe, dann freilich 
brauchte man fich nicht erft die Mühe zu geben, alle Räume und Zeiten 


92 


zu burchforfchen, um das Weltwefen kennen zu lernen, ſondern könnte 
es aus Einem Individuum fo gut, als aus Millionen erkennen. Da 
dies aber nicht der Fall ift, da der Weltwille in der Erfcheinung, in 
ber räumlichen und zeitlichen Objectivation, fi gliedert und fich 
entwidelt, d. b. in eine organifch zufammenhängende Vielheit 
unterfchiedener Stufen eingeht; fo Tann man ihn nicht aus einer 
einzelnen, fondern nur aus feiner ganzen räumlichen und zeitlichen 
Offenbarung fennen Ternen, fo wie man ben Geift eines Dramas 
nicht aus einer einzelnen PBerfon oder Handlung kennen lernen Tann, 
fondern nur aus der Gefammtheit feiner Charaktere und Handlungen 
in ihrem innern Zufammenhang. 





Achtzehnter Brief. 
Kritit des Schopenbauer’ihen Gegenfages zwiſchen den einzelwen Wil- 


lensacten umd dem Wollen überhaupt. — Bahrer Sinn diejes 
Gegenfages. 


Sie fragen mich, verehrter Freund, was ich denn zu jenem Gegen- 
fat meine, den Schopenhauer zwifchen den einzelnen Willensacten 
und dem Wollen überhaupt macht: „Iever Wille ift Wille nach 
Etwas, hat ein Object, ein Ziel feines Wollens: was will denn zu- 
fett, ober wonach ftrebt jener Wilfe, der ung als das Weſen an ſich 
der Welt dargeftellt wird? — Diefe Frage beruht, wie fo viele an- 
dere, auf Verwechslung bes Dinges am ſich mit der, Erſcheinung. Auf 
diefe allein, nicht auf jenes erftredt fi der Satz vom Grumbe, deſſen 
Geftaltung auch das Geſetz der Motivation ift. Ueberall läßt fi nur 
von Erſcheinungen als folhen, von einzelnen Dingen, ein Grund an- 
‚geben, nie vom Willen felbft, noch von ver Idee, in ber er ſich abä- 
quat objectivirt... . -- Ieder einzelne Willensact eines ertennenben 
Individuums hat nothwendig ein Motiv, ohne welches jener Act nie 
einträte: aber wie vie materielle Urſache blos die Bejtimmung ent- 
Hält, daß zu diefer Zeit, am biefem Ort, am biefer Materie, eine 
euferung dieſer oder jener Naturfraft eintreten muß; fe beftimmt 








% 


diefem zu Grunde Liegende Wollen oder das Grundwollen. 
Diefes Grundwollen, welches die Vorausfegung aller im Einzelnen 
verfofgten Zwecle ift, Hat nicht wieder einen Zweck, ſondern feine 
Befriedigung ift der Zweck alles Strebens, Ein Menſch ftrebt 5. B. 
nad; Reichtum, oder Ehre, ober Macht, ober nad) allem biefen. Diefe 
einzelnen Zwede bilden die Motive feiner Handlungen. Aber ihnen 
liegt ein Streben zu Grunde, das nicht wieder einen Zwed hat, fon- 
bern befjen Erfüllung der Zwed alles jenes einzelnen Strebens iſt, 
nämlich das Streben nad Wohljein, nach Gfücjeligkeit, nad 
Eudämonie. 

Diefes allem einzelnen Streben zu Grunde liegende Streben ift 
ziellos, d. h. hat fein Ziel außer fich, weil es alle Ziele in ſich 
befaßt. 

Daß ich Neichthum, Ehre, Macht will, laͤßt ſich erllären. Ich 
will fie, weil id) glücfich fein will. Aber warum will ich glücklich 
fein? Dafür giebt e8 feinen Grund, feinen Ziwed, weil es ſelbſt der 
Urgrund, ber Ur- oder Enbzwed alles befondern Wolfens ift. 

So aufgefaßt, Hat, deule ich, die behauptete Zielloſigleit des 
Willens überhaupt nichts Anftöfiiges. So muf man es aber auf- 
faffen. Denn daß es Schopenhauer's Abficht nicht fein könne, dem 
Wolfen im Allgemeinen ein Merkmal abzufprechen, das er jedem ein⸗ 
zelnen Wollen als wejentlich beifegt, nämlich die Richtung auf ein 
Ziel, das geht ja ſchon daraus hervor, daß ex bem jedem einzelnen 
Wolfen zu Grunde liegenden Willen als Wille zum Leben bezeich- 
net, alſo das Leben als Ziel deſſelben betrachtet hat. Nur eben 
diefes allen einzelnen Zielen zu Grunde liegende Ziel oder Endziel 
erllärte es für ziellos. Der Wille zum Leben zwedt nach Schopen- 
hauer auf Nichts ab, weil Alles auf ihn abzwedt.- 

Dem pantheiftifchen Grundgebanten Schopenhauer’s zufolge agirt 
der Weltwille als der allumfafjende Wille fo wenig zwedlos, 
daß er vielmehr alle Zwede der befondern Weſen, in denen er er- 
ſcheint ober fich objectivirt, umfaßt. 

So falſch, als e8 wäre, zu fagen: das Auge, das Ohr, bie 
Nafe, die Zunge u. f. w. hat einen Zweck, ber gefammte Organis- 
mus hingegen ift zwedios; eben jo falſch wäre es, jedem einzelnen 
Wollen in der Welt einen Zweck beizulegen, den gefammten Welt 


% 


willen aber für zwecklos agirend zu erklären. Vielmehr fchließt er ja 
alle befondern Zwede ver Weltwefen in fich, umfaßt fie alle; wie follte 
er da zwecklos agiren? Wichtig ift nur, daß er nicht ausjchließlich 
biefen ober jenen befondern Zwed verfolgt, nicht ben Zweck 
biefer ober jener Gattung, biefes ober jenes Individuums. Aber dieſes 
nicht Aufgehen in einem befondern Zweck ift nicht gleichbedeutend mit 
abfoluter Zweckloſigkeit. 

Noch ein Beifpiel: Jeder einzelne Raumabjchnitt und ebenfo jeder 
einzelne Zeitabfchnitt ift ausgedehnt. ft aber der Raum und bie 
Zeit unausgedehnt? Umfaffen beide nicht vielmehr alle Ausbeh- 
nungen ber befondern Räume und Zeiten? — Es heißt alfo Schopen- 
bauer falfch auffaffen, wenn man ihn dem Willen im Allgemeinen 
abfprechen läßt, was er jedem einzelnen Wollen beilegt: einen Zweck. 


98 


beilegen. Schopenhauer’8 Bott hingegen fei ein unfelige®, gequältes, 
leiden⸗ und fchmerzuolles Wefen, ja weit unfeliger, als jedes einzelne 
Weſen, da er ja die Leiden und Qualen aller Weltwefen in fich trage. 

Da haben Sie freilich nicht Unrecht. Der Schopenhauer’fche 
Bott fieht dem der Theologen und der fpeculativen Philojophen gar 
nicht ähnlich; weshalb auch Schopenhauer dagegen protejtirt bat, ihn 
Gott zu nennen. Aber die Frage ift bier, wer die Wahrheit auf 
feiner Seite bat, ob Diejenigen, welche ein abfolutes, ein vollfonme- 
nes, felbjtgenugfames, bebürfnißlofes, Teiden- und fehmerzlojes Weſen 
an die Spite der Welt ftellen, ober Diejenigen, welche biejes be- 
ftreiten. Da muß ich benn fagen: Logik fowohl ale Erfahrung 
Iprechen ftarf dagegen, daß die Welt einem abfoluten, felbftgenugfamen, 
bedürfniß⸗ und mangellofen Weſen ihren Urſprung verbanfe. Im 
einem folchen Wejen — fo viel fagt mir die Logik — ift fein Grund, 
fein Motiv enthalten, Etwas zu wollen; benn e8 bat ja ſchon Alles 
in fih, weſſen es bebarf. Jedes actuelle Wollen — darin bat 
Schopenhauer unbeftreitbar Recht — kann nur aus einem Bebürfniß, 
einem Mangel, einem Leiden entjpringen. “Der abfolute Gott aber 
ift frei von jeglichem Bebürfniß, jedem Mangel und Leiven. Was 
folite ihn dann noch bewegen, aus ſich herauszugeben, und (theiftifch) 
die Welt zu fchaffen, oder (pantheiftifch) fich in die Welt zu incarniren? 
Nur ein fich nicht felbftgenügender Gott, ein ohne Welt fich mangel- 
baft fühlender und alfo leidender Gott kann hierzu ein Motiv haben. 
Zweitens zeigt mir die Erfahrung überall in der Welt nur bebürf- 
tige, begebrliche, auf ein Anberes, ein zu ihrer Erhaltung und Be⸗ 
friedigung Unentbehrliches bezogene Weſen, die, fo lange fie dieſes 
Andere nicht erreihen, im Zuftande des Leidens fich befinden; — 
Läßt fich diefe Thatfache aus einem bebürfniglofen Gott ableiten? Müßte 
nicht nach tem Geſetze, daß Gleiches von Gleichem erzeugt wirt, Glei- 
des an Gleichem Woblgefallen hat (simile simili gaudet), ter bedürf—- 
nißlofe Gott auch bedürfnißlofe Wefen fchaffen over fich in fie incarniren? 

Togif und Erfahrung fpredden alſo für den Schopenhauer’jchen 
Begriff vom Weltprincip ale einem bebürftigen, mangelbebafteten, 
bungrigen und fomit leidenden Weſen. Schepenbauer ging nur darin 
zu weit, daß er tiefes Weſen ausſchließlich im Zuſtande des Lei— 
dens begriffen darſtellt. Cr jagt nämlich: „Alles Streben entipringt 


9 


aus Mangel, aus Unzufriedenheit mit feinem Zuftanbe, ift alfo Leiden, 
ſolange es nicht befriedigt iſt; feine Vefriebigung aber ift dauernd, 
vielmehr ift fie ftetS nur der Anfangspunft eines neuen Gtrebens. 
Das Streben fehen wir vielfach gehemmt, überalf kämpfend; fo Lange 
alfo immer als Leiden: fein letztes Ziel des Strebens, alfo fein Maaß 
und Ziel bes Leidens.” („Welt als Wille und Vorftellung‘, I, 365.) 

Daß es feine dauernde Befriedigung gebe, mag richtig fein; 
aber daraus folgt doch nicht, daß bie Welt nur von Leiden erfüllt 
ſei. Denn es giebt doch unleugbar auch Befriedigungen des Wil- 
lens, wenngleich fie von feiner ewigen Dauer find, Jeder Athemzug 
in reiner, frifcher Luft iſt ein befriebigter Wille, jeder geftilfte Hunger 
oder Durſt ift ein befriebigter Wille, jeber Eoitus ift eim befriebigter 
Wille. Befriedigter Wille aber ift, jo lange als die Befriebigung 
anhält, fein Leiden, fondern Freude. Wolglich ift es einfeitig, ben 
Willen nur zur Quelle des Leidens zu machen. Cr ift ebenfo bie 
Quelle der Freude. Gehemmter Wille wird als Leiden, befriebigter 
als Freude empfunden. Das Wefen des Lebens befteht weber in dem 
einen, noch in dem andern, ſondern in dem Wechfel vom beiden. Das 
Igunoriren der thatfächlichen Befriedigungen des Willens, die einfeitige 
Richtung des Blickes auf die Hemmungen deffelben hat Schopenhauer 
zum. Peffimiften gemacht. 

Der Weltwille als das alleine, alle beſondern Triebe und Be- 
dürfniſſe umfaſſende Weſen gedacht, ſchließt nicht bios alle, Leiden, 
fondern auch alle Freuden der Welt in fi. Er ift alfo nicht blos 
das gequältefte, ſondern auch das begfücktefte, weil alles Glück um- 
faſſende Wefen. Doc ich komme auf Schopenhauer’s Peſſimismus 
fpäter noch ausführlicher zu fprechen. 

Hier fei zur Erläuterung des Gefagten mm noch folgendes Bei- 
fpiel angeführt. Das Auge, das Ohr, die Lunge, der Magen, über 
haupt jedes Organ des Leibes hat feine beſondern Leiden, feine 
befondern Schmerzen. Der Gefammtorganismus umfaßt alle dieſe 
Leiden, alle diefe Schmerzen; er hat alfo viel zahlreichere Leiden, als 
jedes einzelne feiner Organe, Aber eben darum auch weit zahl- 
reichere Freuden. Daffelbe mm, was vom Mitrofosmos, gilt 
auch vom Mafrotosmos, wenn man fich denfelben ebenjo als einen ein- 
heitlichen, von einem Willen durchwalteten Organismus benft, wie jenen. 

7* 








Bwanzigfler Krief. 


Rüuckblid. — Programm der folgenden Briefe. — Bedeutung des Schopen= 

hauer'ſchen Idealismus. — Widerlegung Zrendelenburg’3 und Jürgen 

Bona Meyer's. — Weſentliche Gleichheit des Schopenhauer'ſchen 
Idealismus mit dem Helmholtz'ſchen. 


Ich habe Ihnen, verehrter Freund, in meinen bisherigen Briefen 
meine Stellung zu den Cardinalpunkten der Schopenhauer'ſchen Philo⸗ 
forbie, zu der Lehre vom Willen als Ding an ſich und vom Ver⸗ 
hältniß deffelben zur Erfcheinung dargelegt. Sie werben daraus 
erfehen haben, daß ich überall beftrebt bin, den Reſt von Dualismus, 
ber noch in der Schopenhauer'ſchen Philofophie zu finden ift, und ver 
von dem Kant’schen Gegenjag zwifchen Ding an ſich und Erfcheinumg her⸗ 
rührt, durch ihren eigenen moniftifchen Grundgedanken von der Imma⸗ 
nenz bes Wefens in der Erfcheinung zu überwinden. 

Daffelde Streben werden Sie nun auch in meinen folgenden, 
mehr ins Cinzelne gehenven, einzelne PBunfte fowohl ver Lehre won 
ver Borftellung, als ber Lehre vom Willen betreffenden Briefen 
wiebererfennen. Auch Hier werben Sie finden, daß, wenn gleich ich 
ben Gegnern Schopenhauer’8 in ihrer Art von theils unverftändiger, 
theil8 gehäffiger Polemik nicht folgen kann, ich doch keineswegs ver 
Meinung bin, daß Schopenhauer zur Polemik feinen Anlaß gebe. 

Ich werde, entjprechend ver Reihenfolge der vier Bücher ver 
„Welt als Wille und Borftellung‘, zuerft mehrere erfenntniftheoretifche, 
dann mehrere naturphilofophiſche, drittens mehrere äjthetiiche und 
viertens mehrere ethijche Punkte von Wichtigkeit befprechen. — 


101 


In der Erfenntnißtheorie Handelt 8 ſich vor alfen Dingen um 
die Bedeutung ber Vorftellung. Iſt fie ein bloß fubjectives Hicn- 
gefpinnft, oder ein trenes Abbild der Dinge, wie fie an ſich find; oder, 
wenn feines von beiden, was ift fie? 

Um nun die Bedeutung der Vorftellung bei Schopenhauer richtig 
zu erkennen, muß man fich in ben Mittelpunkt feines Syſtems ver- 
fegen, muß ben Alles beherrfchenden Grundgedanken ins Auge faſſen. 
Diefer nun ift bei Schopenhauer nach beffen eigener ausdrücklicher 
Erklärung ber Ihnen bereits dargelegte Gedanke der beiden großen 
Odentitäten, nämlich der Ioentität des Willens auf allen Stufen 
und ber Ipentität der Caufalität, d. i. ber wilfenbeivegenben Ur=- 
ſachen auf allen Stufen, welche beide Identitäten in bem Verhältniß 
zu einander ftehen, baf bie zweite der erften fuborbinirt iſt, indem 
fie die erfte zu ihrer Vorausſetzung hat. 

Hätten nun die Gegner Schopenhauer's fi dieſe Grundlehre 
feines Syſtems gegenwärtig gehalten, fo hätten fie feinen Fdeal ismus 
nicht jo falſch beurteilt. Sie hätten vielmehr bie reale Bedeutung 
der Vorftellung bei ihm erkannt und Hätten ihn nicht zum abjoluten 
Idealiſten geſtempelt. 

Trendelenburg wirft Schopenhauer vor, daß er die Erſcheinung 
„zu einer bloßen Vorftelfung in unferm Kopf“, zum „Scheine”, zum 
„Gaulelbilde“ mache. („Logiſche Unterfuchungen“, 2. Aufl., II, 107 fg.) 
Ihm Hat Jürgen Bona Meyer (in feiner Schrift: „Schopenhauer 
als Menſch und Denker“) und Haben Andere es nachgefprocden, daß 
Schopenhauer die Welt der Erfcheinung zu einer Welt bes Scheines 
mache, daß ſein Idealismus oder Subjectivismus fich nicht wefentfich 
von dem Berkeley's umd Fichte’8 unterfcheide. 

Nun lehrt aber doch Schopenhauer, daß die Vorſtellung zu dem 
wilfenbewegenden Urfachen gehört, daß fie alſo wirft, Wäre fie, 
wie die Gegner behaupten, bloßer Schein, fo müßte ja Schopenhauer 
die beiden andern Claſſen von Urfachen, bie mechanijch wirlenden und 
die als Reiz wirfenden, mit denen zufammen bie Vorſtellung (Motiv) 
eine große Identität bildet, ebenfalls für bloßen Schein erflärt haben. 
Die Eanfalität überhaupt müßte nad Schopenhauer bloßer 
Schein fein. 

ft Dies nun ber Fall? Ich fage: Nein, Der Eaufalität kommt 


102 


zwar nach Schopenhauer feine primäre, fondern nur ſecundäre 
Realität zu; aber immer doch Realität. Wie follte auch ein Wirkendes 
— und das find doch alle Urſachen — unwirklich, unreal jein? 

Schopenhauer erflärt die Kraft für Das, was jeder Urfache 
ihre Canfalität, d. 5. die Möglichkeit zu wirfen ertbeilt. Die Kräfte 
find Das, vermöge befjen die Wirkungen überhaupt möglich find, 
Das, was den Urfachen die Fähigkeit zu wirken allererft ertheilt, von 
welchen fie alfo biefe zur Lehn haben. Die Kraft aber ift an fich 
Wille. (Berge. Schopenhauer-Lerifon: Kraft.) Der Wille nun 
wieder ijt das urſprünglich Reale. Er ift kein bloßer Schein, fonbern 
das Allerrealfte, was e8 giebt. 

Hieraus folgt, daß auch die wirkenden, willenbewegenden Urfachen 
fein bloßer Schein find, denn Kraft, folglich Wille, das Alferrealfte, 
ift e8, was durch fie hindurch wirft. 

Die Caufalität, zu deren Gebiet nah Schopenhauer die Vor— 
jtellung gehört, ift fomit bei ihm fein bloßer Schein, fein bIo8 Sub- 
jectives, fondern ein Reales, Objectives, wenngleich ein Secundäres, 
fein Primäres. 

Doch es giebt auch noch andere Beweife dafür, daß Schopen- 
bauer fein abjoluter Idealiſt ift, ber die Erfcheinung zum bloßen 
Scheine, zum fubjectiven Gaufelbilde mat. 

Schopenhauer betont e8 wiederholt, daß in dem Apofteriorifchen 
ber Borftellung, in dem aus ben apriorifchen Formen nicht Abzuleiten- 
ben und zu Erklärenden das urfprünglich Reale, das Ding an fich, 
der Wille fich fundgiebt, die apriorifchen Formen Hingegen dem Intellect 
als das ihm Cigenthümliche angehören. Er fonbert alfo den realen 
von bem idealen Theil der Vorftellung, legt dem apofteriorifchen Stoffe 
derfelben Realität, der apriorifchen Form Idealität bei, und es ift 
daher auch ein ungerechter Vorwurf, daß zwifchen feinen Realismus 
und feinen Ipenlismus ein Widerſpruch fei. Ein folcher wäre nur 
dann vorhanden, wenn Schopenhauer die Prädicate real und iveal 
einem unb bemfelben Subject beilegte. Dies ift aber nicht der Fall; 
benn nur der Stoff der Vorftellung oder Erjcheinung ift ihm real, die 
Form bingegen ideal. 

„Sch Laffe”, fagt Schopenhauer, „ganz und gar Kant's Lehre 


103° 


beftehen, daß bie Welt der Erfahrung bloße Erfepeinung fei, und ba 
die Erfenntniffe a priori blos im Bezug auf biefe gelten; ich aber 
füge Hinzu, daß fie gerabe als Erfepeinung die Manifeftation Desjenigen 
ift, was erfcheint, und nenne e8 mit ihm das Ding an fi. Diefes 
muß daher fein Wefen und feinen Charakter in ver Erfahrungswelt 
ausdrücken, mithin ſolcher aus ihr herauszudeuten fein, und zwar aus 
dem Stoff, nicht aus der bloßen Form der Erfahrung. Demnach ift 
die Philoſophie nichts Anderes, als das richtige, univerſelle Verſtändniß 
der Erfahrung felbjt, die wahre Auslegung ihres Sinnes und Ge- 
haltes. Diefer ift das Metaphyſiſche, d. h. in die Erſcheinung blos 
Gelleidete und in ihre Formen Verhüllte, ift Das, was fich zu ihr 
verhäft, wie der Gedanke zu dem Worten. (Vergl. „Welt als Wille 
ud. Vorftellung“, II, 204.) 

Auch noch aus folgender Stelle geht die erwähnte Vertheilung 
ver Realität und Idealität an zwei verſchiedene Elemente der Bor- 
fteltung, an das Apofteriorifche und Aprioriſche derſelben, deutlich her- 
vor: „Alles Dasjenige an den Dingen, was nur empirifch, nur 
a posteriori erfannt wird, ift an ſich Wille: Hingegen ſoweit bie 
Dinge a priori beftimmbar find, gehören fie allein der Vorftellung an, 
der bioßen Erſcheinung. Daher nimmt die Verſtändlichteit der Natur⸗ 
erfcheinungen in dem Maafe ab, als in ihnen der Wille fich immer 
deutlicher manifeftirt, d. h. als fie immer höher auf ver Wefenleiter 
ftehen; hingegen ift ihre Verſtändlichteit um fo größer, je geringer ihr 
empirifcher Gehalt ift, weil fie um fo mehr auf ben Gebiete ver 
bloßen Vorſtellung bleiben, deren uns a priori bewußte Formen das 
Prineip der Verftänlichfeit find. Demgemäß hat man völfige, durch- 
gängige Begreiflichfeit num fo lange, als man fich ganz auf biefem 
Gebiete hält, mithin bloße Vorftellung ohne empiriſchen Gehalt vor 
ſich Hat, bloße Form; alfo in ven Wiffenfchaften a priori, in ber 
Arithmetit, Geometrie, Phoronomie und in ver Logik; hier ift Alles 
im höchften Grabe faßlich, die Einfichten find völlig Mar und genügend, 
und laſſen nichts zu wünſchen übrig; indem es ums fogar zu deulen 
unmöglich ift, daß irgend etwas fich anders verhalten fünne, welches 
Altes daher lommt, daß wir c6 hier ganz allein mit den Formen 
unſers Intellect® zu tun haben.“ (Bergl. „Ueber ven Willen in ber 


‚ 


104 


Natur“, S. 56.) Denfelben Gebanfen finden Sie auch in ber „Welt 
als Wille und Borftellung”, Bo. I, 8. 24, 5. 142—145) ausgeführt. 

Es geht aus dem Angeführten zur Genüge hervor, daß Schopen- 
bauer in Bezug auf die Erfcheinung werer blos Irealiit, noch bles 
Realift ift, fondern Idealift uud Realiſt, und zwar nicht in ſich wiber: 
iprechender Weife, da es nicht ein und daſſelbe Element ver Erſchei⸗ 
nung ift, in Bezug worauf er Idealiſt und Kealift iſt, ſondern zwei 
verfchiedene Elemente, nämlich apriorifche Form und empirifcher Stoff. 

Daß Schopenhauer kein abfoluter Idealiſt ift, gebt andy aus 
folgender Stelle ver „PBarerga‘ (BOd. II, 8. 103b) hervor, wo Schopen- 
bauer, von den verfchievenen Zhiergeftalten und ben verfchiedenen 
Pflanzenformen redend, fortfährt: „Im Ganzen jedoch läßt fich fagen, 
daß in der objectiven Welt, alfo der anjchaulichen . VBorftellung, fich 
überhaupt nichts darſtellen kann, was nicht im Wefen der Dinge an 
fih, alfo in dem der Erfcheinung zum Grunde liegenden Willen, ein 
genau dem entfprechend mobificirtes Streben hätte. Denn die Welt 
als Vorftellung kann nichts aus eigenen Meitteln liefern, ebendarum 
aber auch kann fie fein eitles, müßig erfonnenes Mährchen auftifchen. 
Die endlofe Mannigfaltigkeit der Formen und fogar der Färbungen 
ber Pflanzen und ihrer Blüthen muß doch überall der Ausdruck eines 
ebenfo mobificirten fubjectiven Weſens fein, d. h. der Wille als Ding 
an fich, der fich darin darftellt, muß durch fie genau abgebildet fein“, 
wozu noch die Erläuterung zu nehmen ift, die Schopenhauer in dem 
38. Briefe an mich giebt: „Sch meinerſeits Lehre: nicht in den Eigen— 
ſchaften, weder den apriorifchen noch den empirischen, ftellt das Wefen 
bes Dinges an fich fich dar; wohl aber müfjen die fpeciellen und indivi— 
duellen Unterfchiede diefer Eigenfchaften, die Unterſchiede in abstracto 
genommen, irgenbwie ein Ausbrud des Dinges an fich fein, 5 8. 
weder die Geftalt noch die Farbe der Roſe; wohl aber dies, daß vie 
eine fi in vother, die andere in gelber Farbe barftellt: oder, nicht 
bie Form noch die Farbe des Mienfchengefichts, aber, daß ver eine 
biefe, der andere jene Phyjiognomie hat.“ (Vergl. „Arthur Schopen- 
bauer. Bon ihm, über ihn“, ©. 594.) 

Ih babe im angeführten Werk (ebend., ©. 454 fa.) gezeigt, daß 
Schopenhauer in der erften Auflage der „Welt als Wille und Vor- 
ſtellung“ allerdings noch überwiegend Idealiſt war, da er in berjelben von 


— — 


105 | 
der Vielheit und Bereiebenfeit der Dinge fo heſprochen, als berüfete fie 


Idealismus in den jpätern Auflagen und in ben durch die „Parerga” 
gegebenen Erläuterungen corrigirt Hat. Wenn man mm bie wahre 
Meinung Kant’s nicht aus der erſten Auflage der „Kritik der reinen 
Vernunft“ ſchöpft, fondern aus der zweiten, warum verfährt man mit 
Schopenhauer nicht ebenfo, ſchöpft vielmehr feine wahre Meinung aus 
den erften überwiegend ivealiftifchen Aenferungen, ftatt aus den fpätern 
realiftijchen Ergänzungen und Erläuterungen, oder fucht gar einen 
Widerſpruch zwifchen beiden nachzuweiſen? Iſt dies nicht gerade fo, 
als wenn man, ftatt Kant's wahre Meinung aus der zweiten Auflage 
der „Kritik der reinen Vernunft“ zu ſchöpfen und durch dieſe die mit 
ihr nicht übereinftimmenden Aeuferungen der erften Auflage für ver⸗ 
worfen zu halten, beide zu Grunde Legen und nun zeigen wollte, wie 
Kant ſich widerſprochen Habe? 

Nach meinem Dafürhalten hat man bei der Auslegung eines 
Spftems vor allen Dingen diejenige Ausfegung zu Nathe zu ziehen, 
die der Autor felbft im fpätern Auflagen oder in Erläuterungen 
und Ergänzungen ihm gegeben hat; folglih hat man den Idea- 
lismus des erften Bandes der Welt als „Wille und Vorftellung‘“, der 
don ber erften Eonception des Syſtems her noch ftehen geblieben ift, 
nach den Erläuterungen und Ergänzungen des zweiten Bandes, fowie 
nach denen ber Schrift „Ueber den Willen in der Natın“ und der 4 
„Parerga“ auszulegen. Was thun aber die Gegner? Sie fteinpeln 
entweder, ſich an die überwiegend ivealiftijchen Neuerungen des erſten 
Bandes der „Welt als Wille und Vorſtellung“ Haltend, Schopenhauer 
zum puren, bie Welt in ein Gaulelblild, ein leeres Hirngefpinnft vers 
wanbelnden Idealiſten, oder fie ftellen dieſen Aeußerungen bie mehr 
vealiftifchen des zweiten Bandes und vet jpätern Schriften gegeniiber 
und rufen aus: „Welche Wiverfprüchel In dieſem Verfahren lanun 
ich weder wiffenfchaftlichen Geift, noch Nebfichfeit finden. Schopen⸗ 
hauer Hat fein im erften Bande der „Welt als Wille und Vorftel- 
tung“ dargelegtes Shftem felbſt ausgelegt in ben Ergänzungen bes 
zweiten Bandes, in der Schrift „Ueber ven Willen in der Natur‘ und 
im den „Parergis“, Im Sinne biefer feiner eigenen Auslegungen 














109 


kenntniß zu fhöpfen, mit Hülfe der Urtfeilstraft. (Daſelbſt I, 68, 77.) 
Die anſchauende Erlenntniß ift für das Syſtem aller unferer Gedanten 
Das, was in ber Geognofie der Granit ift, der letzte feſte Boden, 
der Alles trägt und über ben man micht hinaus fann. (Dafelöft II, 
69, 76.) Alle Wahrheit und alle Weisheit liegt zulegt in der An- 
ſchauung. (Daſelbſt IL, 79.) Die Anſchauung ift es, welcher das 
eigentliche und wahre Weſen der Dinge, wenn auch noch bedingierweiſe, 
ſich aufſchließt und offenbart. (Daſelbſt II, 77.) ; 

Wer fo fpricht, dem Tann das Angefchaute nicht ein blos ſub— 
jectives Gaufelbild, ein wejenlofer Schein, ein eitles 
fein; fondern es enthält ihm einen realen Kern, offenbart ihm ein an 
fich ſeiendes Wefen; folglich ift ex fein abſoluter Idealiſi. 

Schopenhauer lehrt freilich daneben die „völlige Diverfität 
des Idealen und Realen“, bie „tiefe Kluft zwiſchen dem 
Idealen und Realen“ (vergl. Schopenhauer-Lerifon: Ideal und 
Neal); aber ich bin auch ber Meinung, daß biefe feine, noch vom 
Einfluß Kant's herrührende Anficht fich mit feiner eigenen Lehre von 
der Anfhanung, „welcher das eigentliche und wahre Wefen der 
Dinge fich auffchließt”, micht verträgt. Mag diefes Sichauffchliefen 
auch immerhin ein durch die Funcetionen und Formen bes Intellects 
bedingtes fein; fo kann doch dabei von ber „tiefen Kluft“ und der 
„völligen Diverfität” zwifchen dem Realen und Idealen nicht mehr die 
Rede fein. Im der Anfchauung ift der Gegenftand als vorgeftellter 
freilich nicht identiſch mit dem wirklichen, ſondern blos eine Vorſtellung 
des wirklichen Gegenftanbes, der angeſchaute Körper einer Pflanze ober 
eines Thieres z. B. ift fein Ding am fih. Aber als das Ding an 
ſich offenbarend ift der angefchaute Gegenftand doch nicht abſolut ver- 
ſchieden von dem wirklichen, die Muft zwiſchen Beiden ift feine müber⸗ 
fteigliche. Der wirkliche Gegenftand geht ja in die Auſchauung ein, 
was gar nicht möglich wäre, wenn zwiſchen dem Ding an fich und den 
Functionen des Intellects feine Beziehung beftände, wenn feine 
Brüce von dem einen zum andern führte. Das Wirken des Realen 
auf den Intellect wäre ganz unmöglich, wenn zwifchen Beiden eine ab⸗ 
ſolute „Diverfität” beftände. 


u 





Einundzwanzigfker Brief. 


Kritit der Schopenhauer'ihen Lehre von Raum, Zeit, Vielbeit und 
Caufalität ala bloße Vorftellungsformen. — Widerlegung verfelben aus 
feiner realiftifchen Lehre von der Erjheinung beraus. 


— — — 


Gemäß dem in meinem vorigen Briefe Auseinandergeſetzten Tamm 
ich auch nicht mit Schopenhauer Raum, Zeit, Vielheit und Canfalität 
für bloße Vorftellungsformen halten, fondern muß ihnen eine objectine 
Realität beilegen. 

Ih Habe Ihnen fchon die Stelle aus dem 38. Briefe 
Schopenhauer's an mich citirt, in ber er bereits die Conceſſion macht, 
daß die Unterfchiede der Dinge — zwar nicht die empirifchen, aber 
doch diefes, daß die Dinge überhaupt fich als unterjchieven fund geben 
— irgendwie ein Ausprud des Dinges an fich fein müfjen, d. 5. mit 
andern Worten, daß bie Unterfchiede feine blos fubjectiven VBorftellungen 
find, fondern objective Realität haben. 

Sind aber die Unterfchiede real, fo find eo ipso auch Zeit, 
Raum, Caufalität und Vielbeit real. Denn das Unterfchiedene ift ein 
Vieles, ift als folches neben- und nacheinander, alfo räumlich und 
zeitlich, und wirft, denn durch die unterfchiedenen Wirfungen, die 
e8 berborbringt, giebt es fich eben als unterfchieden fund. Daß vie 
eine Roſe fich in rotber, die andere in gelber Farbe darſtellt, daß ein 
Menfchengeficht diefe, ein anderes jene Phyfiognomie hat, das ift nach 
dem erwähnten Zugeſtändniß Schopenhauer’8 Tolge des verſchiedenen 
fih Kundgebens ihres Wefens an fich, alſo Folge ihres verjchiedenen 
Wirtens Folglich kommt den Dingen an fib Caufalität zu. 

Die Realität von Raum, Zeit, Vielheit und Caufalität folgt über» 


11 


Haupt aus dem Schopenhauer ſchen Begriff der Erſcheinung. Das 
Bort Erſche inung hat bei Schopenhauer einen doppelten Sinn, einen 
ibealiftijchen und einen realiſtiſchen. Es bebeutet einerfeits bie durch 


bie apriorifchen Formen bes erfennenben Subjects bedingte Borftellung; 


es bebeutet aber auch andererſeits die objective Manifeftation des Dinges 
am fich, zu deren Bezeichnung Schopenhauer das eigenthümliche Wort 
' „DObjectivation” gebildet hat. Unter „Objectivation” ift das Sich⸗ 
daxftelfen des Dinges an fi, d. i. des Willens, in der Objecten- 
welt zu verftehen. (Vergl. Schopenhauer-Lerifon: Objeetivation,) 

Obwohl nach Schopenhauer alles Object Erſcheinung ift, fo 
ift doch eim Unterfchied zu machen zwiſchen der urfprünglichen, un⸗ 
mittelbaren Objectität und der mittelbaren, fecunbäven. Zu 
jener gehören die Ideen, zu biefer die einzelnen Dinge. Das 
einzelne, in Gemäßheit des Sates vom Grunde erſcheinende Ding ift 
nur eine mittelbare Objectivation des Dinges an fich (des Willens), 
zwifchen welchem und ihm noch die Idee ſteht, als die alleinige um- 
mittelbare Objectität des Willens, indem fie feine andere dem Er- 
lennen als ſolchem eigene Form angenommen hat, als bie ber Vor- 
ftelfung überhaupt, d. i. bes Objectjeins für ein Subject: Die Ioee 
allein ift die möglichft adäquate Objectität des Dinges an ſich 
oder bes Willens, die einzelnen Dinge hingegen find feine ganz ad⸗ 
äquate Objectität des Willens, fonbern dieſe ift bier ſchon getrübt 
durch jene Formen, deren gemeinjchaftliher Ausdruck ber Say vom 
Grunde iſt. (Vergl. Schopenhauer-Lerikon: Erfcheinung und Idee.) 

Es ift Hier noch nicht meine Abficht, bie Ideenlehre Schopenhauer's 
zu kritiſiren, — ich behalte mix diefes für fpäter vor, — fonbern nur 
die gegen ben Idealismus ſich ergebenden Folgen derſelben will ich 
Ihnen zeigen. 

Die een, weit entfernt, blos fubjective Vorftellungen im idea ⸗ 
liſtiſchen Sinne zu fein, find vielmehr die erfte, unmittelbarfte, allge- 
meinfte und abäquatefte Offenbarung des Dinges an ſich. Erſt indem 
das Ding an ſich in die Ideen eingeht, kommt es überhaupt zur Bor- 
ftellung, zum Objectfein für ein Subject, Das Zerfallen im Sub- 
ject und Object, welches die Boransfegung der Vorftellung bildet, iſt 
die erfte formelle Manifeftation des Dinges an fih. Juhaltlich 
aber bilden die Ideen eine Stufenfolge von Willensfpecificationen, in 


112 


denen ver Wille, das Ding an fich, ſich immer deutlicher offenbart, } 

höher er fich fteigert. Inhaltlich find bie Ideen alfo gleichbebentet 

mit den auf ben verfchiedenen Naturftufen fich offenbarenben Natur. 

träften. Jede urfprüngliche Naturkraft ift eine beſtimmte Stufe ie 

Objectivation des Willend ober der Idee im platonifchen Sim. 

„Wir können bie verjchievenen in den Naturfräften fich offenbarende 

Ideen oder Objectivationsftufen des Willens als einzelne und an fit 

einfache Willensacte betrachten, in denen fein Weſen fich mehr on 

weniger ausbrüdt. Nun behält auf den niebrigften Stufen ber üb 
jectität ein folder Act (ober eine Idee) auh in ber Erfcheimm; 

feine Einheit bei; während er auf den höhern Stufen, um zu ericde: 

nen, einer ganzen Reihe von Zuftinden und Entwidlungen in de 
Zeit bedarf, welche alle zufammengenommen erft den Ausdruck feinf 
Wefens vollenden. So z. B. hat die Idee, welche fih in irgend eim 
allgemeinen Naturfraft offenbart, immer eine einfache Weurßerum, 
wenngleich dieſe nach Maßgabe der äußern Verhältniffe fich verſchiede 
barftellt. Ebenſo hat der Kryſtall nur eine Lebensäußerung. Schon 
bie Pflanze aber drückt die Idee, deren Erfcheinung fie ift, in eine 
Succeffion von Entwidelungen ihrer Organe aus, welche alfe zujam- 
mengenommen erſt den Ausbrud ihres Weſens vollenden.” (Vergl. 
Schopenhauer-Yerilon unter Naturfraft: Die Stufen ver Natım 
fräfte ale Stufen der Übjectivation des Willens.) 

Bas Schopenhauer hier von ten höhern Ideen (Naturftufen) 
Ichrt, daß fie einer ganzen Reihe von Zuſtänden und Entwickelungen 
in der Zeit betürfen, um den ganzen Austrud ihres Weſens zu wollen: 
den, das lehrt er auch von der Natur im Ganzen. Denn die Natır 
jteigt nach feiner mit der Kant-Laplace'ſchen Kosmogenie und mit ver 
ganzen neuern naturwiſſenſchaftlichen Weltanſchauung übereinftimmtene 
ben Nebre jucceffive ven ven niedern zu den böhern Stufen (Ideen) 
anf und fteigert fich allmälig bis zum Menſchben, in welcher zeitlichen 
Entwidelung die Natur gemäß dem Geſetze ter Continuität feinen 
Sprung madt. (Natura non facit saltus.) Vie ſpätern und höhern 
Naturjtufen, obwohl eine cigenthümliche, über die frübern fich erbhebende 
‚bee darſtellend, jind Tech durch die frübern bedingt: denn tie können 
erjt bernertreten, nachdem tiefe ibr Werl getban. Die Natur, lehrt 


Schopenhauer in meientlier Uebereinſtimmung nit Darwin, füngt 


113 f 
nicht bei jedem Erzeugniſſe von vorm am, aus nichts ſchaffend, ſondern, 
gleichfam im ſelben Stile fortfehreibend, Mnüpft fie an das Vorhandene 
an, benußt die frühen Geftaktungen, entwwidelt und potenzixt fie Höher, 
ihr Werk weiter zu führen. Als Beleg Hierfür kann die fogenannte 
Metamorphofe der Pflanze dienen, eben fo die Steigerung ber Thier- 
reihe, auch die Steigerung in Hinficht auf den Intellect, (Vergl. 


Schopenhauer» Lexilon unter Natur: Continuität der Naturſtufen; 


ferner Generatio aequivoca.) 

Nehmen Sie num alles Diefes zufammen, fo ergiebt ſich daraus 
als nothwendige Confequenz, daß Raum, Zeit, Vielheit und Cau— 
falität feine bloßen Vorftellungsfornten, fondern real find, Dem 
die Ideen, dieſe urfprünglichen Willensmanifeſtationen ober „Willens- 
acte“, wie fie Schopenhauer nennt, find die reale Erfcheinung des 
Willens, und derfelben find mehrere; folglich ift die Bielheit real. 
Die Ideen als gleichbedeutend mit den Naturfräften find ferner 
das ben einzelnen Urfachen ihre Kraft zu wirfen Ertheilende; folglich 
ift die Caufalität real. Endlich find die Ioeen als theils coeriſti— 
renbe, theils fuccedivende Naturftufen räumlich neben und zeitlich 
nach einander; folglich find Raum und Zeit real. 

Diefe Realität von Raum, Zeit, Vielheit und Caufalität ift nun 
freifich feine primäre, fonbern wie bie der Ideen ſelbſt eine fecun- 
däre, ber Erfeheinung des Dinges an fich angehörende. Aber da 
die Erſcheinung in den Seen eine reale Offenbarung des Dinges an 
ſich ift, fo find Raum, Zeit, Vielheit und Canfalität ebenfalls veale 
Dffenbarungen des Dinges an fih, reale Formen feiner Erſcheinung. 

Hiermit ift der Neft von Idealismus, der ſich noch bei Schopen- 
bauer in der Lehre von Raum, Zeit, Vielheit und Caufalitit als fub- 
jectiven Vorftellungsformen findet, durch die Confequenz feiner eigenen 
Lehre von der Erſcheinung überwunden. Es bleibt als wahr nur 
ftehen, daß Raum, Zeit, Canfalität und Vielheit feine unbebingte 
Nealität haben; fondern ihre Realität dadurch bedingt ift, daß das 
Ding an fih erfheint. Denn erfchiene das Ding am fich nicht, 
objectivirte es fich nicht unmittelbar im den Ideen, und mittelbar im 
den Individuen; jo gäbe e8 weder Raum und Zeit, noch Vielheit und 
Gaufalität. Aber diefe Bebingtheit durch das Erfeheinen des Dinges 


am fich ift nicht gleichbeveutenb mit ber idealiſtiſchen — 
Frauenfädt, Reue Briefe. 


114 





















jener Formen. Es ift alfo noch fein Idealismus, wenn man Nam 
Zeit, Saufalität und Bielheit für Yormen der Erſcheinung eflir. 
Denn es fommt alles darauf an, in welchem Sinne man bas Be 
Erſcheinung hier nimmt, ob in dem Sinne der objectiven Ruf 
feftation des Anfichfeienden, oder im Sinne ber blos fubjectiven Ber: 
ftellung. Nur wer Raum, Zeit, Vielheit und Caufalität für bier 
Formen der Vorftellung erflärt, ift Idealiſt; wer fie hingen 
für Formen ber objectiven Erfcheinung des Dinges an ſich ertlärt, de 
ift Realift. Nun muß aber doch Schopenhauer fie confeguenterwi: 
dafür erflären, weil er das Ding an fich in einer Vielheit wirtne 
Sträfte (Ideen), die theils coeriftiren, theils einander fuccebiren, « 
fcheinen läßt. Alfo ift Schopenhauer im Grunde genommen Realij 

Es Hilft nichts, daß er fagt: „Der Wille als Ding an fih# 
von feiner Erſcheinung gänzlich verfchieven und völlig frei von ala 
Formen berfelben, in welche er eben erſt eingeht, indem er erſchein 
bie daher nur feine Objectität betreffen, ihm felbft fremd 
Schon bie allgemeinfte Form aller Vorftellung, die des Objects fi 
ein Subject, trifft ihm nicht; noch weniger bie diefer untergeorbneta 
welche insgeſammt ihren gemeinfchaftlihen Ausprud im Sa ven 
Grunde haben, wohin befanntlih auch Zeit und Raum gehören, ım 
folglich auch die durch dieſe allein beftehenve und möglich geworben 
Vielheit.“ („Welt als Wille und Borftellung“, I, 134.) Wie käme, 
muß man bier fragen, der Wille dazu, in diefe Formen, alſo in be 
allgemeinen Gegenfag von Subject und Object und in die beſonden 
Formen alles Objects: Raum, Zeit und Vielheit einzugehen, wen 
fie ihm abfolut fremd wären? Gewiß, biefe Formen find nur Formen 
der Erfcheinung, Formen der Objectität des Willens. Aber du 
das Erfcheinen oder fich Objectiviren bie eigene That des Willens ift, da 
er der abfolute und allmächtige Herr der Welt und alles ſchließlich 
auf ihn zurüczuführen ift, fo find eo ipso auch diefe Formen ter Gr 
fcheinung feine Formen, fpiegeln fein Wejen ab, können ihm fo 
wenig fremd fein, als das Erfcheinen ſelbſt ihm fremd ift. 

Diefes hat übrigens Schopenhauer felbjt anderwärts ausgefprochen, 
indem er z. B. die Unendlichkeit von Raum ımd Zeit für das Ab: 
bild der Raſt- und Ziellofigleit des Strebens des Willens erklärt bat. 
Das Fortrüden unſers ganzen Sonnenſyſtems, vielleicht auch des 


115 * 


ganzen Sternhaufens, dem umfere Sonne angehört, woraus enbfich 
auf ein allgemeines Fortrüclen aller Firſterne zu ſchließen fei, werde 
zum Ausbruc jener Nichtigkeit, jener Ermangelung eines Tegten Zweckes, 
welche wir dem Streben des Willens in allen feinen Erſcheinungen 
zuerfennen müfjen; „daher eben auch wieder endlofer Raum 
und endlofe Zeit die allgemeinften und wejentlidften For— 
men feiner geſammten Erfheinung ſeyn mußten, als 
welche fein ganzes Wefen auszudrücken da iſt.“ („Welt als 
Wille und Vorftellung“, I, 177, 378 fg.) 

So wie nad) Schopenhauer hier ımenblicher Raum und unend- 
liche Zeit das entjprechenbe Abbild der Natur des Willens als eines 
enbfofen Strebens find, fo ift nad) einer andern Stelle das räum- 
liche Auseinandergehen in entgegengeſetzte Richtungen, welches fid in 
der Polarität zeigt, das entſprechende Abbild des Auseinandertretens 
ber Kraft, d. i. des Willens in zwei entgegengefegte und zur Wieder- 
vereinigung ftrebende Thätigfeiten. Da nämlich, wo er von den Natur- 
philofophen der Schelling' ſchen Schule fpricht und deren Verdienſte 
in Nachweiſung der Analogien in der Natur anerfennt, wenngleich er 
die zur bloßen Witzelei ausartende Jagd nach Analogie in der Natur 
tabelt, jagt er: „Sie haben befonders darauf aufmerffam gemacht, 
daß bie Polarität, d. 5. das Auseinandertreten einer Kraft in zwei 
qualitativ verjchiebene, eutgegengeſetzte und zur Wiebervereinigung tre- 
benbe Thätigfeiten, welches ſich meiftens auch räumlich durch ein Aus- 
einandergehen in entgegengefegte Richtungen offenbart, ein Grumbtypus 
faft aller Erſcheinungen ber Natur, vom Magnet und Kryſtall bis 
zum Menfehen ift. In Ehina iſt jedoch biefe Erfemntniß feit den 
älteften Zeiten gangbar, in der Lehre vom Gegenfaß des Yin ımb 
Yang.“ („Welt als Wille und Vorftellung“, I, 171.) 

Aus diefen ımd ähnlichen Stellen, deren ſich noch mehrere bei 
Schopenhauer finden, geht deutlich genug hervor, daß er Raum und 
Zeit, wenngleich ex fie für Formen ver Erſcheinung erklärt, doch 
für feine blos fubjectiven Vorſtellungsformen im idealiſtiſchen 
Sinne, fondern für objectiven, realen Ausprud des Wefens an 
ſich, d. i. des Willens angejchen hat. Der Wille erſcheint fo, in 
umenblichenn Raum und unendliche Zeit, weil er ein end⸗ und zielloſes 
Streben ift; er erſcheint in räumlich entgegengeſetzte Richtungen 

3* 


u 


iR 


Zweiundzwanzigſter Brief. 


Ob die Erfheinung bei Schopenhauer als eine ewige aufzufaflen fei? 
— Unphiloſophiſcher Anthropomorphismus in der Lehre von der VBerneis 
nung bes Willens. 





Sie find, verehrter Freund, durch meine Auseinanderfegungen 
‚zwar überzeugt worden, daß die Schopenhauer’che Lehre von der Er- 
ſcheinung im Grunde genommen eine vealiftifche ift; aber es ift 
Ihnen, fchreiben Sie, dunkel geblieben, ob bei Schopenhauer das Ein- 
gehen des Dinges an fich in die Erſcheinung als ein zeitlicher, hifto- 
riſcher Act, ober ob bie Erſcheinung als glei) ewig mit dem Ding 
am fich aufzufaffen fei. Mit andern Worten: ob der Wille, wie ber 
theologijche Gott vor der Schöpfung, ehe er in die Welt einging, 
in ſich verfchloffen, alfo erfcheinungslos war und erjt zu einer 
beftimmten Zeit ſich aufgefchloffen, ſich „objectivixt“ Hat; ober ob er 
von Ewigkeit her „objectisirt“, alfo nie ohne Erſcheinung, ohne Ob» 
jeetität ift. 

In erfterm Falle, meinen Sie, wäre Schopenhauer’s Philofophie 
doch feldft wieder nur eine fosmogonifche, obgleich er das losmogo⸗ 
nifche Philofophiven verwirft; er trüge doch in das Ding ar ſich das 
Werden, bie Veränderung hinein, obgleich er dieſes Hineintragen von 
Formen ber Erſcheinung in das Ding an ſich verwirft. Denn wenn 
der Wille (das Ding an ſich Schopenhauer’s) erft in einem erſchei⸗ 
mungstofen Zuftande fich befand, ehe er in dem Zuftand des Erſchei⸗ 
mens überging, fo fei eine innerliche Veränderung, ein zeitliches Werben, 
ein Entftehen in ihm vorgegangen, was doch feinem Begriffe als dem 
bes Unveränderlichen, nimmer Werdenden widerſpreche. 


we 


118 


Im andern Falle hingegen, dem bes ewigen Erfcheinens, fei «4 
nicht benfbar, daß der Wille je aufhören follte, zu erfcheinen. Am 
lehre doch aber Schopenhauer, daß mit der Verneinung des Willens 
auch das Ende feiner Erſcheinung, der Welt, eintrete; obgleich er 
biefes Nichts der Welt für fein abjolutes, fondern nur für ein rele- 
tives erflärt. 

Sie wünfchen über diefen Punkt durch mich ins Klare zu kommen. 

Sollte ih num zumächft, noch ohne alle Rüdfiht auf Schopen⸗ 
hauer's Lehre, jagen, wie ich das Verhältniß des Urweſens zır feiner 
Erfcheinung auffafje, fo würde ich jagen: Es ijt ein Ungedanke, das 
ewige Wefen als ein thätiges, agirendes aufzufaſſen — und als Wil: 
len muß ich es doch thätig, agirend denken — gleichzeitig aber anzu— 
nehmen, baß es erft zu einer beftimmten Zeit aus dem thatlofen, ruhen. 
ben in ben activen Zuftand übergegangen jei. Ein leerer, potentieller 
Wille, der erft mit dem Uebergang aus dem potentiellen in das ac 
tuelle Wollen den Weltproceß beginnt, wie es E. von Hartmann 
ſich denkt, ijt für mid) eine Abfurbität. Iſt ver Wille ewig, und ift 
es dem Willen wejentlih, zu agiven, fo muß er auch ewig agiren, 
muß folglich ewig fich äußern, ewig erſcheinen. Jeder einzelne 
Willensact zwar hat einen Anfang und ein Ende in der Zeit, das 
Agiren felbft aber Kann feinen Anfang und fein Ente haben, weil bas 
mit der Wille -felbft Anfang und Ende hätte, er folglich nicht das 
ewige Ur: oder Grundwefen aller Dinge wäre. 

Nah meiner Anficht kann alfo von einem zeitlichen Anfang ver 
Erſcheinung überhaupt nicht die Rebe fein, jondern nur don einem 
zeitlihen Anfang diefer oder jener einzelnen Erſcheinung. Was nun 
aber Schopenhauer's Stellung zu dieſer Trage betrifft, fo ift fie 
folgenve: 

Schopenhauer faßt ebenfalls die Erjcheinung des Willens als 
unzertrennlich von ihm felbft, als jtets ihn begleitend auf, indem er 
> B. fügt: „Da der Wille, das Ding an ſich, ber innere Gehalt, 
das Mefentlide der Welt iſt; das Leben, die fihtbare Welt, Die Er- 
icheinung aber nur der Spiegel des Willen; jo wird Diefe den 
Willen jo ungertrennlich begleiten, wie den Körper fein Schatten: und 
wern Wille da tft, wird auch Leben, Welt da ſeyn.“ („Welt als 
Wille und Vorſtellung“, I, 324.) Alfe, fo lange, als Wille da ift, 


119 


I 
U fo lange ift auch feine Erfpeinung da. Wenngleich bie einzelnen, 


unrdividuellen Erſcheinungen entftehen und vergehen, fo ift doch has Er- 

ſcheinen überhaupt von gleicher Dauer mit dem erfcheinenden Wefen, 

Ü dem Willen, Aber freilich dieſes Wefen ſelbſt ift nad Schopenhauer, 

f da es verneint werden lann, feitt ewiges, folglich ift auch feine Er- 
ſcheinung don feiner ewigen Dauer. 

f Zwar lehrt Schopenhauer: Die Ideen, als die unmittelbare 

Erſcheinung des Willens, find die ewigen Formen der Dinge, feit- 
stehend, keinem Wechfel untertvorfen, immer feiend, nie geworben, 
während bie Individuen entftehen und vergehen, immer werden und 


nie find. Die Ideen find die beharrenden, unwandelbaren, von der 


zeitlichen Exiſtenz der Einzelwefen unabhängigen Geftalten, bie 
species rerum, als welche eigentlich das rein Objective der Erſchei⸗ 
numgen ausmachen. „Die Idee iſt eigentlich ewig, bie Art aber von 
unendlicher Dauer; wenngleich die Erſcheinung derſelben auf einem 
Planeten erlöfchen Fan.“ („Welt als Wille und Vorſtellung“, 1, 
154; II, 414.) „Die Zeit ift bloß bie vertheilte und zerftüdelte 
Anfiht, welche ein individuelles Wefen von den Bpeen Hat, bie 
außer der Zeit, mithin ewig find: daher jagt Plato, die Zeit fei 
das bewegte Bild der Ewigkeit.” („Welt als Wille und Borftel- 
lung“, 1, 207.) 

Demgemäß ift nach Schopenhauer nur die mittelbare Er- 
ſcheinung, die der einzelnen Dinge, oder Individuen, entftehend und 
vergehend, bie unmittelbare hingegen, die der Ipeen, unentſtanden 
und umvergänglich, wie der Wille, das Ding an fi, deſſen Erjchei- 
nung fie find. Der Wille lann fich alfo nicht erft zu einer beſtimmten 
Zeit in den Ideen objectivirt haben, fondern muß ala ewig in ihnen 
objectivirt gebacht werden. 

Aber freilich mit diefer Ewigkeit der Erfcheinung in ben Ideen 
täßt fich die Verneinung des Willens nicht zuſammenreimen. Kann 
das Grundweſen der Welt, ber Wille ein Ende nehmen, fo ift eo 
ipso auch feine Erfepeinung nicht ewig⸗ 

Schopenhauer ift durch feine Lehre von der Verneimmg des 
Willens wieder in das hiſt ori ſche, koemogouiſche Phitofophiren, das 
ex ſelbſt fo ſcharf verwirft, zurüdgefallen. Er hat ſich mit ber Her- 
Teitung der Welt aus einem intelligibeln Willensact, der auch wieder 


m 





120 


zurüdgenommen werben kann, und mit deſſen Zurücknahme vie Wel 
ein Ende hat, in ein transjcendentes, aller menjchenmöglichen Erfah: 
rung entrüdtes Gebiet verjtiegen, während doch feine Philoſophie 
immanent bleiben, vd. 5. jich innerhalb der Erfahrung Halten um 
blos das Wefen diefer, das Was verfelben, entjiffern wollte Tu 
burch ift er genöthigt worden, den Willen, den er anfänglich für it 
urfprüngliche, ewige, unzerjtörbare Wefen aller Dinge erflärt, Hinter: 
ber doch nur für das relative, nicht für das abſolute Weſen a 
fich zu erflären. Hinter dem Willen, dem Wefen an fich Diefer We, 
ſteckt ihm noch Etwas, das übrig bleibt, wenn der Wille fich vernem 
bat und damit das Nichts ber Welt eingetreten if. ,, Wäre ter 
Wille das Ding an fich fchlechthin und abjolut; jo wäre auch viele 
Nichts ein abfolutes; ftatt daß es ſich uns ausdrücklich nur al 
ein relatives ergiebt.” („Welt als Wille und Vorftellung‘, II, 222.) 
Der Wille ift ihm das Wefen der Welt nicht im Sinne der able 
Iuten Subftanz Spinoza’s. (Vergl. „Welt als Wille und Vorftellung”, 
U, 743; „Barerga“, IL, 8. 162; „Arthur Schopenhauer. Von ihm, 
über ihn”, ©. 430—432, 555, 559.) 

Damit ift Schopenhauer, wie ich fchon in der Einleitung zu 
ber Gefammtausgabe feiner Werke (S. LXXXIV) gejagt Habe, ſich 
ſelbſt untreu geworden und iſt in einen unphiloſophiſchen Anthro 
pomorphismus zurückgefallen, einen Anthropomorphismus, ver 
nicht mehr dem früher (im ſechsten Briefe) von mir vertheidigten 
und gerechtfertigten, fondern dem theologifchen ähnlich if. Nach 
ber theologifchen Weltanfchauung nämlich bat Gott die Welt ge 
Ichaffen, und dieſe befteht daher nur fo lange, als Gott fie erhält; 
fie muß vergehen, fobald Gott feine Hand von ihr abzieht. Aehnlich 
nun ift nach Schopenhauer die Welt Folge eines Willensactes, 
und befteht nur fo lange, als diefer Willensact bejaht wird, vergeht 
hingegen, fobald die Verneinung deſſelben eintritt. Die Verneinung 
jelbft wieder ift Folge der intuitiven Erfenntniß Des Elends alfee 
Tofeins, welche Erkenntniß das Nichtwollen herbeiführt, aljo wie 
ein Motiv wirt. Schopenhauer nennt fie zwar im Gegenfaß zu 
der die Motive liefernden Erkenntniß Quietiv; aber ein Quietiv ift 
doch nur cin anderartiges Motiv, nämlich ein Motiv zum Nicht: 
wollen und Nichthandeln. Alfo denkt fih Schopenhauer in ber Lehre 


121 


von der Verneinung des Willens den Weltwillen als durch ein Motiv, 
folglid nah menfchlicher Weife beitimmbar. Der Weltwille ban- 
delt wie ein Menſch, der einen Act, den er in der Verblenbung über 
feine Folgen begangen, nach erfolgter Erfahrung und Enttäufchung be- 
reut und ihn wieder zurüdnimmt. Dies ift allerdings unphilofophifcher 
Anthropomorphiesmus, 


Dreinndzwanzigfler Brief. 


Kritit des Schopenhauer'ſchen Gegenfages zwifhen Kraft und Urſache. — 
Wahre Bedeutung dieſes Gegenſatzes. 





Zu dem Reft von Dualismus in der Schopenhauer’fchen Phile- 
fopbie, von dem ich ſchon wieberholt in biefen Briefen gefprochen habe 
und ben es gilt durch den eigenen Monismus derfelben zu über: 
winden, gehört auch der Gegenfag zwifchen Kraft und Urfache. 

Schopenhauer jagt nämlich: „In Folge der zu weiten Faffung 
bed Begriffs Urſache hat man mit demfelben den Begriff ver Kraft 
verwechjelt; biefe, von ber Urfache völlig verfchieden, ift jedoch Das, 
was jeder Urfache ihre Caufalität, d. h. die Möglichkeit zu wirken er: 
theilt. Es ift unmöglich, mit feinem Denken im Klaren zu feyn, fo 
lange darin Kraft und Urfache nicht als völlig verfchieden deutlich ers 
fannt werden.” („Welt ald Wille und Vorftellung“, IL, 51.) 

Die Kräfte find nah Schopenhauer Das, vermöge beffen bie 
Beränderungen, oder Wirkungen überhaupt möglich find, Das, was 
ben Urfachen die Caufalität, d. h. die Fähigkeit zu wirken, allererjt 
ertheilt, von welchem fie alfo biefe blos zur Lehn haben. Lirfache 
und Wirkung find die zu nothwendiger Succeffion in ber Seit ver- 
fnüpften Beränderungen; bie Naturkräfte hingegen, vermöge welcher 
alle Urjachen wirken, find von allem Wechfel ausgenommen, daher in 
dieſem Sinne außer aller Zeit, "eben deshalb aber ſtets und überall 
vorhanden, allgegemwärtig und unerfchöpflih, immer bereit, fich zu 
äußern, fobald nur, am Leitfaden ber Caufalität, die Gelegenheit dazu 
eintritt. Die Urfache ift allemal, wie auch die Wirkung, eine einzelne 
Veränderung; die Naturkraft hingegen ift ein Allgemeines, Unvers 


änderliches, zu aller Zeit und überall Vorhandenes. („Bierfache 
Wurzel”, S. 45. „Welt als Wille und Vorſtellung“, I, 157— 163.) 
Die Kraft ift die nothwenbige Vorausfegung aller ätiologiſchen Er- 
Märung. („Welt als Wille und Borftellung“, I, 133, 166.) 

Andererfeits lehrt Schopenhauer aber, jede Bewegung, alſo jede 
Veränderung, fei Product zweier Factoren, eines innern: Kraft oder 
Wille, und eines äußern: Urfache. Es gebe nicht zwei grumbvers 
ſchiedene Urfprünge der Bewegung, entweder von Innen, ober von 
Außen, fondern die Bewegung von Innen (aus dem Willen) und von 
Aufen (durch Urfachen) finde bei jeder Bewegung eines Körpers zu⸗ 
gleich und unzertvennlich ftatt. (‚Ueber den Willen in der Natur“, 
S. 84 fg.) Und wie jede Wirkung im ber unbelebten Natur ein not« 
wenbige® Product zweier Factoren fei, nämlich der hier fich Äußernden 
allgemeinen Naturfraft (Naturwillens) und der biefe Aeußerung hier 
hervorrufenden einzelnen Urſache; gerade fo fei jede Handlung eines 
Menfchen das nothwenbige Product feines Charakters und des ein- 
getretenen Motive, („Die beiden Grundprobleme ber Ethit“, S. 56.) 
Jedes Ding wirft gemäß feiner Befchaffenheit, und fein auf Urſachen 
erfolgendes Wirken giebt die Befchaffenheit fund, (Daſelbſt, S. 97, 
176. „Parerga“, II, 247.) 

Hieraus geht hervor, daß nach Schopenhauer’s eigener Lehre 
jede Wirkung, jede Veränderung, lein blofes Product einer äußeren 
Urſache ift, ſondern Product Beider, der äußern Urſache und ber 
Kraft ober des Willens, der durch fie in Action verfegt wird. Jede 
Urfache muß, um zu wirken, auf eine Kraft ftoßen, die durch fie zur 
Aeußerung Herausgefordert wird. Die Kraft unterſcheidet fich alfo 
von der Urſache nur, wie ver innere von bem äu fern Factor, ober 
wie die allgemeine Urfade von der einzelnen, wie bie princi- 
pielfe Urfahe von der occafionellen, wie die Grundurfache 
von der gelegentlichen. Der ganze Gegenſatz zwiſchen Kraft und 
Urfache ift alſo nur ein relativer, und bie Confequenz der Schopei- 
hauer’fchen Lehre erfordert baher, die Kräfte nicht aus dem Gebiete 
der Urfachen auszufchliehen, fonbern mır, fie als bie Grund» 
ur ſachen aller Veränderungen von ben Gelegenheitsurfachen zu 
unterſcheiden. Jene find bie allgemeinen, dieſe die einzelnen 
Urſachen. 










Die äußern Umftände find folglich nicht die ganze Urſe 
Erſcheinung, ſondern nur ein Theil der ganzen. Es ift 
jene allein unter den Begriff ver Urfache zu fubfumiven ı 
Schopenhauer thut, zu erklären: „Alle Urſache ift Gelegenheit 
(„Belt als Ville und Vorftellung“, 1, 164), und: „Der Wille 
iſt nie Urfache.“ (Dafelbft ©. 166.) Bielmehr ift zu fagen: D 


Sur bad Gange, toburch eine Grfeheinung Beiniet mit, af ur 


ſache derſelben 


der Ste ie Urfhen ufsfugen, D. % ie Umtabe, m 
fie alfezeit eintreten; dann aber hat fie bie unter mam 
feinen wiegeftlteten Crfeeinungen zurüchuühren auf 







125 


aller Erfcheinung wirft und bei der Urfache vorausgefekt wird, auf 
urfprüngliche Kräfte der Natur.“ („Welt ale Wille und Vorftellung“, 
I, 166.) Nun, was in aller Erfcheinung wirft, ja die Vorausſetzung 
des Wirfens jeder äußern Urfache ift, das ift doch wohl auch Ur⸗ 
face zu nennen. Es ift ja fogar bie wichtigfte, bie entfcheibende, 
weil die Grundurfache der Erfcheinung. Damit fällt denn der obige 
Sat Schopenhauer's: „Der Wille ift nie Urfache.” Er ift vielmehr 
die Haupturfade. 


VDierundzwanzigfter Brief. 


Kritit der Schopenhauer'idhen Lehre vom DVerhältniß des Dbjects m 
Subject® zu einander. — Nachweis des urfählihen Verhältniſe 
Beider in der Vorftellung. 


— — — 


Wie ich die Kraft nicht aus dem Gebiete der Urſächlichken 
ausſchließen konnte, jo kann ich auch das Verhältniß zwiſchen Objec 
und Subject in der Vorſtellung nicht, wie Schopenhauer thut, bes 
Gebiete der Urfächlichleit entziehen. Nach Schopenhauer erftredt fid 
bie Herrichaft des Sages vom Grunde nur auf die Objecte, nid 
aber auf das Verhältniß zwifchen Object und Subject. 

Schopenhauer rühmt nämlih von feiner Philofophie, Daß fie 
weder vom Object, no vom Subject ausgegangen, fondern von im 
Borftellung, welche jene beiden ſchon enthält und vorausfegt. Diet 
Berfahren unterfcheide feine Betrachtungsart ganz und gar von allen 
je verfuchten Philoſophien, al8 welche alle entweder vom Object ober 
vom Subject ausgingen, und demnach das eine aus dem ander 
zu erklären fuchten, und zwar nach tem Sage vom Grunde, „deſſen 
Herrſchaft wir Hingegen das Verhältniß zwifchen Object und Subject 
entziehen, ihr bloß das Object laſſend“. („Welt ale Wille und Bor: 
ſtellung“, I, 30.) „Wie der Materialismus überjah, daß er mit dem 
einfachiten Object [ben fofert auch das Subject geſetzt hatte; fo über- 
ſah Fichte, daß er mit dem Subject nicht nur auch ſchon das Tbject 
gefeßt hatte, weil Fein Subject ohne folches denkbar iſt; ſondern er 
überfah auch Diefes, daß alle Ableitung a priori, ja alle Beweisfüh— 
rung überhaupt, ſich auf eine Nothwendigkeit fügt, alle Notbwenkig- 
keit aber ganz allein auf den Satz vom Grund: weil nothwendig jeyn 


127 


und ans gegebenem Grunde folgen — Wechſelbegriffe find, daß der 
Say vom Grunde aber nichts Anderes als die allgemeine Form des 
Objects als folchen ift, mithin das Object ſchon vorausfegt, nicht aber, 
vor und außer demfelben geltend, es erft herbeiführen und in Gentäße 
heit feiner Geſetgebung entftehen laſſen Tann. Ueberhaupt alfe Hat 
das Ausgehen vom Subject mit dem Ausgehen vom Object denſelben 
Schler gemein, zum voraus anzımehmen, was es erft abzuleiten dor- 
giebt, nämlich das nothwendige Korrelat feines Ausgangspumfts. Bon 
dieſen beiden entgegengefegten Mißgriffen nun unterfcheivet ſich unfer 
Berfahren, toto genere, indem wir weber dom Object noch vom Sub- 
ject ausgehen, fondern von der VBorftellung, als erjter Thatfache 
des Bewußtfeins, deren erfte weientlichfte Grundform das Zerfallen 
in Object und Subject iſt, die Form des Objects wieder der Gab 
vom Grumd, in feinen verfehiedenen Geftalten“ u. ſ. w. („Welt als 
Wille und Vorftellung“, I, 40.) 

Es ift num zwar richtig, daß weder das Vorgeftellte (Object) das 
Vorſtellende (Subject), noch auch ungefehrt das Vorftellende das Bor- 
geftellte — fofern diejes Tein bloßes Phantom, fondern ein Reales 
ift, — Hervorbringt, alſo feines von Beiden Urfache des Dafeins 
des andern ift. Aber daraus, daß feines von Beiden Urſache des Da- 
feins des andern ift, folgt nicht, daß in Acte der Vorftellung Beide 
aufer aller urfächlichen Beziehung zu einander ftehen. Vielmehr kommt, 
wie ich Ihnen zeigen werde, nach Schopenhauer ſelbſt die Vorſtellung 
nur dadurch zu Stande, daß ſowohl das Object auf das Subject, ats 
auch das Subject auf das Object wirkt. 

Was ift Vorftellung? Hieranf antwortet Schopenhauer: „Ein 
fehr fompfieirter phyſiologiiſcher Vorgang im Gehirne eines Thieres, 
veffen Reſultat das Bewuhtſein eines Bildes ebendaſelbſt ift.“ 
(„Welt als Wille und Vorftellung“, IL, 214.) Welcher Art diefer 
eomplicirte phyſiologiſche Vorgang im erlennenden Subject fei, das 
hat Schopenhauer fowohl in der Schrift „Ueber das Sehn und die 
Farben“, als in ver „Vierfachen Wurzel“ ($. 21) gezeigt, Er hat 
daſelbſt nachgeiwiejen, wie erft dadurch, daß der Verſtand das Eauja- 
Gitätsgefeb auf die Sinmesempfindungen anwendet, bie Anſchaumg 
eines Objects zu Stande fommt. Die Veränderungen, welche der 
thieriſche Leib erfährt, werden unmittelbar erfannt, d. h. empfunden, 








128 - 


umd indem fogleich diefe Wirkung auf ihre Urfache bezogen wirt, er 
fteht die Anſchauung der lektern als eines Dbjects. Wie mit te 
Eintritt der Sonne bie fichtbare Welt dafteht, jo verwandelt ber Ver 
ftand mit einem Schlage burch feine einzige, einfache Function de 
Beziehung ver Wirkung auf ihre Urfache die dumpfe, nichtejagenk 
Empfindung in Anfchauung. Ohne die Zhätigfeit des Verftandes, die 
feine blos ſenſuale, fondern eine cerebrale ift, fäme es nie yı 
einer objectiven Welt, alfo zur Welt „als Vorſtellung“, fonben 
nur ein bumpfes, pflanzenartiges Bewußtfein ber Veränderungen be 
eigenen Leibes bliebe übrig. (Vergl. Schopenhauer »Lerifon: An 
ſchauung.) 

Da num nach dieſer Auffaſſung das vorgeſtellte Object ef 
durch die Thätigkeit des Subjects, durch vie Verftanbesfumcie, 
welche die fubjective Sinnesempfindung in objective Anfchauung um: 
wandelt, zu Stande kommt; fo ift doch Har, daß Schopenhauer inſowen 
bie Thätigfeit de8 Subjects als Urfache des Object auffaßt. Gäbe 
es feine Sinne und feinen Berftand, fo gäbe es auch fein vorgeftelitet 
Object. „Die Welt als Vorftellung hebt allerdings erft an mit den 
Aufichlagen des erften Auges, ohne welches Medium der Erfenntuif 
fie nicht feyn kann, alfo auch nicht vorher war.” („Welt als Wilke 
und Borftellung“, I, 36.) 

Aber nicht blos das Subject hat nach Schopenhauer eine Seite, 
wodurch es Urſache des Objects wird, nämlich feine Verſtandsthätig 
feit; fondern auch umgekehrt, das Object hat eine Seite, wodurch et 
als Urfache auf die vorftellende Thätigkeit des Subjects wirft; Dem 
woher kommt es, daR das Subject jett diefen, jo geformten, mit 
ſolchen Cigenfchaften begabten, fi fo äußernden Gegenjtand vor— 
ftellt, bald darauf einen ganz anders geformten, mit andern Gigen- 
Ihaften begabten und anders äußernden? Dieſer verſchiedene empirifche 
Gehalt der Objecte läßt ficb nah Schopenhauer nicht aus den rein 
formalen, aprieriichen Functionen des vorftellenten Zubjects ableiten, 
fondern in ibm offenbart ſich das Ding an ſich. In der objectiven, 
d. i. in der Erſcheinungswelt, in der Welt als Vorjtelung, kann fi 
nichts darjtellen, was nicht im Weſen ver Tinge un ji, alfe in Dem 
der Erſcheinung zum Grimte liegenden Villen, cin genau tem ent: 
ſprechend modificirtes Streben hätte. Denn tie Welt ald Vorftellung 






- 129 


kann nichts aus eigenen Mitteln liefern, eben darum aber auch kann 
fie fein eitfes, můhig erſounenes Mährehen auftifchen. Die enbtofe 
Mannigfaltigfeit der Formen und>fogar der Färbungen der Pflanzen 
und ihrer Blüten muß doch überall der Ausdrud eines ebenfo modificirten 


fubjectiven Weſens fein; d. h. der Wille als Ding am ſich, der ſich— 


darin darftelft, muß durch fie genau abgebildet fein. („Barerga”, II, 
188 fg.) So weit bie Dinge a priori beftimmbar find, gehören fie der 
bloßen Erſcheinung (Vorftellung) am, Hingegen in dem Maaße, als 
fie empirifchen, apofteriorifchen Gehalts find, offenbart ſich in ihnen 
das Ding an fich, der Wille, („Ueber ven Willen in der Natur“, ©, 86.) 
Die empirifchen Eigenfchaften (oder vielmehr die gemeinfame Quelle 


derſelben) verbleiben dem Dinge an fich jelbft, als Aeußerungen feines 


felbfteigenen Wejens durch das Medium der apriorifchen Formen hin- 
durch. („Parerga“, I, 98.) 

Die Sache verhält ſich alſo nach Schopenhauer jo: In ber Vor- 
Stellung ftehen Subject und Object, jedes mit einer andern Seite, in 
Caufalbeziehung zu einander, wirken auf einander, nämlich das Sub- 
ject mit feinen formalen aprioriſchen Functionen ber Sinne und bes 
BVerftandes, das Object mit feinen empirifhen, vom Dinge an ſich 
berrührenden Cigenfchaften. Urfache der fenfualen und cerebralen 
Form des Objects ift das Subject, Urfache des empiriſchen Gehalts 
das Ding an fic. 

Hiernach iſt alfo die oben dargeſtellte Anficht Schopenhauer's, 
welche das Verhältniß von Subject und Object der Herrſchaft des 
Sages dom Grumbe entzieht, ihr blos das Object laſſend, zu ber 
richtigen. 


Begrifflich ift freilich mit dem Subject fofert das Obirct, fo. 


wie mit biefem fofort jenes geſetzt. Denn die beiden entgegeugeſetzten 
Begriffe beziehen ſich aufeinander, feiner von beiden ift ohne den anz 
dern deulbar, wie biefes überhaupt bei allen entgegengejegten Begriffen 
der Fall ift. Aber fo wie, obgleich die Begriffe ber Urſache und 
Wirlung gleichzeitig mit einander geſetzt find, dennoch in der Wirklich“ 
feit die Urfache der Wirfung vorhergeht; jo acht, obgleich die Be— 


griffe des Objects und Subjects mit einander gejett find, doch 


in der Wirflicheit die Action des einen ber des aubern vorher. 
Die beſtimmte empirifche Beſchaſſenheit des Objects » Urfache der 
Brauenpädt, Reue Briefe, 


— 


— 





131 


pecifiſch beftimmten Inhalt, es wird durch das Object zu einer gattz 
Seftimmten Vorftellung genöthigt. Es fteht nicht in feinem Belieben, 
>inen Körper fo oder fo groß, mit folchen oder folchen Eigenfchaften, 
mit folcher oder folder Wirkfungsweife wahrzunehmen. 

Folglich treten Subject und Object bein Vorftellen in ein Cau- 
ſalitätsverhältniß zu einander; denn fie verändern einander gegenfeitig; 
jedes wird Urfache der Veränderung bes andern. 

Falſch wäre es nur, das Object ganz und gar, alfo auch feiner 
materialen Seite nach, aus dem Subject abzuleiten, und eben fo falfch, 
das Subject ganz und gar, alfo auch feiner formalen Thätigfeit 
nach, aus dem Object abzuleiten. Jenes wäre der abjolute Ipealis- 
mus, diefes der abfolute Realismus. Diefe beiden verwirft Schopen- 
hauer mit Recht; denn weber find die Objecte ganz und gar bloße 
Hirngefpinfte, ohne einen realen Kern, noch ift das Subject eine bloße 
tabula rasa, auf welche die Dinge, wie fie an fi find, eingezeichnet 
werben. Aber wohl bejtimmen fich Object und Subject wechlelfeitig, 
und das Product biefer wechjeljeitigen Beftimmung eben ift die Bor- 
ftellung. 


9* 


Fünfundzwanzigfier Brief. 








Schopenhauer's Lehre von der Berfiandestbätigfeit. — Unter 

zwifhen der angeborenen und der durd Uebung vermittelten Jar 

tion, des Berftandes. — Verteidigung Schopenhauer's gegen Bertkell 
Suble. 





Wäre, wie im Begriff, fo auch in ver Wirklichkeit mit da 
Subject fofort das Object gefeht; fo brauchte das Vorftelfen ver Ob 
jecte nicht erjt gelernt und geübt zu werben. Schopenhauer ſelbſt abe 
bat gezeigt, wie fehr bafjelbe de8 Lernens und Uebens bedarf; bem 
er fagt: „Obgleich ber rein formale Theil der empiriihen Anfchamm, 
alfo das Geſetz der Cauſalität, nebſt Raum und Zeit, a priori 8 
Intellect Liegt; fo ift ihm doch nicht die Anwendung beffelben auf 
empiriiche Data zugleich mitgegeben: ſondern biefe erlangt er erft du 


Uebung und Erfahrung. Daher fonmt es, daß neugeborene Kinte 


zwar ben Licht⸗ und Farbeneindruck empfangen, allein noch nicht be 
Dbjecte apprehenbiren und eigentlich ſehen; ſondern jie find, Die erfie 
Wochen bindurch, in cinem Stupor befangen, ber fi) alsdann verfiat, 
wenn ihr Berftand anfängt, feine Bunction an den Datis der Sim, 
zumal des Getajts und Gefichte, zu üben, wodurch tie objective Welt 
allmälig in ihr Bewußtſein tritt.‘ („Weber die vierfache Wurzel veb 
Satzes dom zureichenden Grunde‘, ©. 72.) 

Unmittelbar oder angeberen und folglich ter Erfahrung ver: 
beraängig iſt alje nach Schopenhauer uur die Function des Ber 
ftaudes, die Empfintung in den Zinneserganen ale Wirkung aufzufaffen, 
und von tiefer Wirfung Den Uebergang zu machen zu ber äußern 
Urjache; Die richtige Anwendung tiefer Functien bingegen ift durch 


133 


uebung und Erfahrung vermittelt, wird erlernt und tritt baher erft 
allmälig ein. . 

Hierin Tiegt nach meiner Anficht fein Widerfprudh; denn ein 
Anderes ift es, was Schopenhauer bein gegenftänpfichen Anfchanen 
ber Erfahrung vorhergehen, und wieder cin Anderes, was er 
Erfahrung vermittelt fein läßt. 

Dennoch Hat ein Krititer Schopenhauer’s hier einen Wiverfpruch 
finden wollen. Berthold Suhle in feiner Schrift: „Arthur Schopen- 
Hauer und die Philofophie der Gegenwart” (Berlin, W. Weber 1862) 
findet nänılih einen Gruudwiderſpruch zwifchen Schopenhauer’s Lehre 
von der unmittelbaren aprioriſchen Gewißheit des Canfalitätsgefekes, 
welche aller Erfahrung vorangeht, ja biefelbe erft möglich macht, und 
der dicht danebenſtehenden Lehre, daß das Kind und ber operivte Blind⸗ 
geborene die Anwendung des Caufalitätsgejeges erſt lernen müſſen. 
Er ſtellt folgende Stellen aus „Die Welt als Wille und Vorſtellung“ 
(I, 13 fg.) und ans der Schrift „Ueber das Sehn und bie Barben‘ 


(S. 10) u. f. w. als widerſprechend einander gegenüber: 


A. 


Die Beränberungen, welder jeder 
thieriſche Leib erfährt, werben unmit- 
teilbar erfannt, d. h. empfunden, und 
indem jo gleich biefe Wirkung auf ihre 
Urſache bezogen wird, eutfteht bie An» 
ſchauung ber feßtern als eines Ob⸗ 
jects. Diefe Beziehung ift fein Schluß 
im abftracten Begriffen, geſchieht nicht 
durch Reflerion, nicht mit Willtür, fon- 
dern unmittelbar, mothwendig 
und fidher. Sie if bie Etlenntniß⸗ 
weife bes reinen Verftandes, ohne 
welche es nie zur Anſchauung käme, 
fondern nur ei dumpfes, pflanzenars 
tiges Bewuftfein dev Beräuberungen 
des unmittelbaren Objects Abrigbliebe, 
die völlig bedeutungslos aufeinander 
folgten, wenn fie nicht etwa ala Schmerz 
ober Wolluft eine Bebeutung für den 
Willen hätten, Aber wie mit dem Ein- 
tritt der Sonne die ſichtbare Welt das 


u 


B. 


Das Kind, in den erften Wochen 
feines Lebens, empfindet mit allen 
Sinnen; aber es ſchaut nicht an, 88 
apprehendirt nicht; daher flarıt es 
dumm in die Welt hinein. Bald 
indeffen fängt es am, ben Berftanb 
gebranden zu Lerinen, u. f. ib. („Ueber 
bas Shen und bie Farbe‘, ©. 10,) 


Seit Cheffelden’s berlihmt ge 
worbenem Blinden hat der Fall ſich 
oft wiederholt und es ſich jedesmal 
beftätigt, daß dieſe ſpät ben Gebrauch 
der Augen erlangenden Leute zwar 
gleich mach der Operation Licht, Far 
bem und Umriſſe fehen, aber od} feine 
objective Auſchauung ber Gegenftänbe 
Haben: denn ihr Berfanb muß eu 
die Amvendung feines Caufalgejehes 
auf die ihm meuen Data und ihre 


Veränderungen Termen. - („Ueber bie 


134 







ftebt, fo verwandelt ber Berftanb mit | rierfache Wurzel Des Satzes vom 
Einem Schlage, durch feine einzige, | reichenden Grunde”, 2. Aufl., S. 1. 
einfache Junction, bie bumpfe, nichts» | 3. Aufl., S. 72.) 
fagende Empfindung in Anfchauung. 

(„Welt als Wille und BVBorftelung ‘, 

I, 13 fg.) | 

Sieht man diefe einander gegenübergefegten Stellen oberflis 
ih an, ohne in ihren Sinn einzubringen, fo ſcheinen fie einane 
freilich zu widerſprechen; der Widerſpruch marfirt fich nach Exk 
‚ bauptfächlicd durch die gefperrt gebrudten Worte. Unter A wir a 
unmittelbares, nothiwendiges und ficheres Erkennen bes reinen Ye 
ftandes, alfo ein apriorifches Erfennen, unter B ein Lernen, ein ce. 
ein Vergleichen des a posteriori Gegebenen gelehrt. Dort fchafft ie 
Verſtand durch Anwendung des ihm a priori gewijfen Caufalitä# 
geſetzes mit Einem Schlage die Anſchauung der objectiven Welt, he 
muß das Kind aus den Datis, welche die Sinne liefern, durch Be 
gleihung der Eindrüde, welche vom nämlichen Object bie vwerfchiebem 
Sinne erhalten, die Anfchauung erjt mühfam erlernen. Iſt nun nik 
zwifchen jener Unmittelbarkeit und biefer Mittelbarkeit, jener Aprioriz 
und biefer Apofteriorität ein completer Widerſpruch? 

Ih fage Nein. Das Augeborenfein einer Function ſchließt nik 
aus, daß die Auwendung derfelben auf ven empirifch gegebenen Eir 
erſt gelernt werben muß. ‘Die Unmittelbarkeit und Sicherheit, de 
Schopenhaner dem PVerftande in feiner Junction des Anſchauens ze 
fchreibt, bezieht fi nur auf den mittelft des Caufalitätsgefeks 
gemachten Uebergang von der Siunesempfindung als Wirkung zu ihre 
äußern Urfache überhaupt, aber nicht auf bie Erfenntniß ber ie 
ftinnmten Befchaffenheit diefer äußern Urfache. Diefe Erfenntniß il 
vielmehr, wie Schopenhauer nachgewiefen, eine höchſt vermittelt 
Alfo nur das Erfennen einer Urfache überhaupt, auf welche ti 
Einnesempfindung bezogen wird, ift unmittelbare apriorifche That ve 
Berftantes. Das Erkennen hingegen der empirischen Befchaffenbeit vr 
a priori vorausgefegten Urfache ift Sache des Lernens, der Uebung 
bes Vergleichens der Data der Sinnesempfindung. So Töft fich bie 
fer Widerſpruch. 

Darum ift es auch fein MWiberfpruch, wenn Schopenhauer bi 
Vunction des DVerftandes eine fichere, untrüglihe nennt unb bemmed 


135 


einen Schein als Trug des Verſtandes (vergl, „Ueber das Sehn und 
bie Farben“, S. 15) aunimmt. Sicher, untrüglich ift nur die Fune⸗ 
tion im Allgemeinen, das Vorausfegen einer Urfache überhaupt zu ber 
in der Sinnesempfindung gegebenen Affection des Leibes; hingegen in 
die nähere Beftimmung diefer Urfache Fan ſich Schein, Trug ein- 
miſchen. 

Es verhält ſich mit der Verſtandesfunction, wie mit jeder andern 
angeborenen Function. Jede iſt nur als eine beſtimmte Form der 
Thätigfeit angeboren. Aber die Anwendung dieſer Form auf gegebe⸗ 
nen Inhalt oder Stoff muß erlernt. werben, Den Angeborenfein 
wiberfpricht aljo das Lernen nicht, Jedes Lernen jest vielmehr eine 
angeborene Function voraus. 

Hätte Suhle diefes bebacht, fo hätte er ſich die Bemerkung erſpart: 
„Wer fich nur entfchließen will, einmal unbefangen zu überlegen, wie 
weit denn feine Einficht in bie unüberſehbare und taufenbfältig. ver- 
ſchlungene Kette der Urſachen und Wirkungen in der That reiche, wer 
ſich mm über bie einer einzigen Wiffenfchaft zur Erforſchung vorliegen⸗ 
den unzähligen Caufalverhältniffe aufrichtig Rechenfchaft zu geben ver⸗ 
fucht, lann der wohl einer menschlichen Gehirufunction allen materiellen 
Objecten gegenüber die Allmacht und Uufehlbarteit zufchreiben, womit 
der Idealismus fie begabt? Mögen ferner die Anhänger Kant’s und 
Schopenhauer's einen Augenblid abfehen von ihren eigenen vielleicht 
eminenten Verſtande und auf die Menge ihre Aufmerkjamteit richten! 
Nicht einmal einen angeborenen unbezähmbaren Trieb, ein unabläffiges 
Bedürfniß, von jeder Empfindung oder gar jedem Ereigniß bie Ur— 
ſache zu fuchen, werden fie an unferer Gattung entbeden, geſchweige 
denn eine angeborene Fähigkeit, immer bie rechte zu finden, Vielmehr 
zeigen ſich die Menfchen dazu häufig wenigaufgelegt, träge und une 
geichidt, und das reine Interefje, welches ven Philofophen, den Natur- 
forſcher, ven Hiftorifer, ben Philologen für die Erlenntniß ber Urfachen 
und Gründe befeelt, ift eine Seltenheit; dem Volke ift jenes Erſtaunen 
fremd, das dem Denfer feine Ruhe laͤßt.“ (Berg. Subfe, a. a D., 
Ss 

Die Tpatfache, daß der Philofoph, der Naturforfcher, ber Hiſtoriler, 
der Pollolog n- ii ben;Bierftanb mit feinem apriorifchen Gaufalitätegefeh 
Urſachen anwendet, als ber Laie, und baß 







136 


feine Anwendung bes Caufalitätegefees eine geübtere, eine fcharffinmigen 
ift, al8 die des Yaien, biefe Thatfache wird gewiß Niemand Ieugm, 
und auch Schopenhauer hat fie nicht geleugnet. Aber folgt denn am 
ter Verjchievenheit der Ephäre ber Anwenbung bes Berftanbes ız 
aus ter BVerfchievenheit des Grades feiner Schärfe, daß bie Fa- 
ſtandesfunction Feine allgemein menjchliche ift, daß fie etwa nur ver 
Gelehrten zufenmt, tem Volfe aber nicht? Hat doch fogar Scheper 
hauer’8 Pudel Verjtand bewiefen. (Vergl. „Ueber bie vierfek 
Wurzel”, ©. 76.) 

Die verfchievenen Grade des Verſtandes und die verfcide 
nen Sphüren feiner Anwendung bat auch Schopenhauer anertumt. 
Diefes bat ihn aber nicht verhindert, die Verftandesfunction als u 
allen noch fo verjchiebenen Graden und Sphären im Weient 
lichen identifch zu erfennen. „Sind es“, lehrt Schopenhauer, „vie 
Urſachen im engften Sinne (die phyfilalifchen und chemifchen), denen ver 
Berftand nachfpürt; dann fehafft er Mechanik, Aftronomie, Phyſil 
Chemie, und erfindet Mafchinen zum Heil und zum Verderben: fteit 
aber liegt allen feinen Entvedungen, in letter Inftanz, ein unmittel⸗ 
bares intuitives Auffaffen der urfächlichen Verbindung zum Grunde 
Sind hingegen die Reize ber Leitfaden des Verftandes; fo wird a 
Phyſiologie der Pflanzen und Thiere, Therapie und Torilologie zu 
Stande bringen. Hat er endlich fi auf die Motivation geworfen; 
bann wird er entweder fie bloß theoretifch zum Yeitfaden gebrauchen, 
um Moral, Rechtsichre, Gejchichte, Politik, auch dramatiſche und 
epifche Porfie, zu Zage zu fördern; oder aber ſich ihrer praftifch be 
tienen, entweder bloß um Thiere abzurichten, oder ſogar um dus 
Menfchengefchlecht nach feiner Pfeife tanzen zu laffen, nachdem er 
glüdlich an jeder Puppe das Fädchen herausgefunden hat, an welchem 
gezogen fie fich beliebig bewegt. Ob er num die Schwere der Körper, 
mittelft ver Mechanik, zu Mafchinen fo Hug benußt, daß ihre Mir: 
fung, gerade zu rechter Zeit eintretend, feiner Abficht in die Hände 
jpielt; ober ob er eben fo die gemeinfamen, oder die individuelfen 
Neigungen der Menſchen zu feinen Zweden ins Spiel verfegt, ift, Hin: 
fichtlich der dabei thätigen Functionen, das Selbe....... Die höchſt 
verfchietenen Grabe ter Schärfe des Vorſtandes find angeberen und 
nicht zu erlernen; wiewohl Uebung und Kenntniß des Stoffs überall 





137 


- zur richtigen Handhabung erfordert find.” („Ueber die vierfache Wur- 
zel“, ©. 77 fe.) 

Diefe Stellen, zufammengenommen mit ven oben bereits ange- 
führten, beweifen zur Genüge, wie unbegründet Suhle's Vorwurf, 
daß ſich Echopenhauer in feiner Theorie des Verftantes wiberfprochen 
habe, if. Das Unmittelbare und das Vermittelte, das Ange- 
borene und das Crlernte oder Erworbene des Berftandes beziehen fich 
ja bei ihm nicht auf ein und Daſſelbe, fondern auf verſchie— 
bene Elemente. Einen Widerfpruch hätte er nur dann begangen, 
wenn er bie Verftandesfunction in derfelben Hinficht für erlernt 
und durch Uebung vermittelt erklärt hätte, in welcher er fie für an: 
geboren und unmittelbar erklärt. 


u u nl, le nd 


wen mn 


Sehsundzwanzigfter Brief. 


Vebergang zu den naturphilofophifhen Fragen. — Schopenharer 
Stellung zu dem Materialismus. — Sein Begriff der Mater. 





Sch gehe nun, verehrter Freund, gemäß meinem Programm (verf. 
den zwanzigften Brief), nach Erledigung der hauptfächlichften Er— 
fenntnißtheoretifchen Fragen zur Beiprechung der wichtigften we 
Naturphilofophie Schopenhauer’8 betreffenden Fragen über. 

Wie man Schopenhauer wegen feiner im erften Buche be 
„Welt als Wille und BVorftellung” dargelegten Erfenntnißtheorie zw 
abfoluten Idealiſten geftempelt hat, aber mit Unrecht, wie ich Ihn 
gezeigt habe; fo hat man ihn wegen feiner im zweiten Buche bar: 
geftellten Naturphilofophie zum Materialiften gemacht; aber eben 
falls mit Unvecht, wie ich Ihnen jet zeigen werbe. 

Ueber die Stellung Schopenhauer’8 zum Materialismut 
berrfcht große Unklarheit. Die Einen machen ihn, weil er antifpiri 
tualiftifch den Geiſt (Intellect) für Gehirnfunction erlärt, zum Ma 
terialiften. Die Andern werfen ihm im Gegenſatz hierzu vor, bei 
er ivealiftiich die Materie in bloße Vorftellung verflüchtige. Nod 
Andere finten einen Cirkel darin, daß er den Geift aus der Materi 
ableitet, während er doch die Materie wieder für bloße Vorſtellun 
bes Geiſtes erfläre. 

Ich werde Ihnen nun die wahre Stellung Schopenhauer's zun 
Materialismus in Folgendem näher darlegen, und c8 wirb fich Daran 
ergeben, daß er weder Materialift ift, noch auch bie Materie in blof 
Borftellung verflüchtigt, noch auch des erwähnten Cirkels fich ſchuldi 
macht. 


— — 


Schopenhauer hat allerdings Berührungspunkte mit dem Mate - 
rialismus, weicht aber auch wiederum jo ſtarl von ihm ab und tritt 
fo entfchieben als Gegner beffelben auf, daß es nur von Unfenntniß 
feiner Lehre zeugt, wen man ihn zu ben Materialiften vechnet. So- 
wohl der Begriff Schopenhauer’s von der Materie, als auch feine 
Lehre von dem Hervorgehen der Dinge aus der Materie 
unterſcheidet ſich don der materialiftifchen weſeutlich. 

Der Materialismus hat jeinen Namen davon, daß er fein an— 
deres Ur- und Grundweſen der Dinge fennt, als die Materie. Diefe 
ift ihm das Beharrende in allem Wechfel der Erſcheinungen, alſo bie 
eigentliche Subftanz. Sie ift ewig, unerfhaffen, unzerftörbar. Aus 
ihr geht Altes, das Höchfte wie das Niebrigfte hervor, und in fie geht 
Alles zurück. Eine zweite, immaterielle Subftanz neben ihr, einen 
Geiſt, eine Seele, wie der Spivitualisums annimmt, giebt es nach 
ihm nicht. Daher die Polemik des Materialismus gegen alle Theo- 
Togie, daher auch feine Polemik gegen die Zerfällung des Menſchen in 
Leib und Seele, Der Materialismug ift Monismus, d. h. erleunt 
nur ein Ur und Grundweſen aller Dinge an. 

Nun, in dieſer Hinficht ift Schopenhauer einverftanden mit dem 
Materialismus. Er polemiſirt gegen. bie fpiritwaliftifche Annahme 


verſchiedener — Leib und Seele, gegeben hat, iſt 


— im Bloßen Eeffftsenußtfein, alfe rei fuhectio auf, 
ein blos. wollendes und vorftellenbes, frei von allen Formen der An— 


= 
a 





140 


bes Satzes vom zureichenden Grunde. Er betrachtet nämlich Erfemen 
und Wollen als Wirkungen, deren Urfache er fucht, ohne den Leib 
dafür annehmen zu können, feßt alfo eine vom Leibe gänzlich verfchie: 
dene Urfache derfelben. Auf diefe Weife beweift der erfte und ber 
legte Dogmatifer das Dafein der Seele, nämlich fchon Platon (im 
„Phädros“) und auch noch Wolf, aus dem Denken und Wollen als 
den Wirkungen, die auf jene Urfache leiten. Erft nachdem auf biefe 
Weife durch Hhpoftafirung einer der Wirkung entfprechenten Urſache 
ber Begriff von einem immateriellen, einfachen, unzerftörbaren Wefen 
entftanden war, entwidelte und bemonftrirte diefen die Schule aus 
dem Begriff Subftanz. Sie ftellte nämlich den Begriff Subftanz 
als den höhern Allgemeinbegriff, als den Gattungsbegriff auf, unter 
welchen fie die Begriffe Materie und Seele al8 Artbegriffe fubfu- 
mirte. Aber Gattungsbegriffe pürfen nur gebilvet werben, wenn zu- 
vor bie Arten gegeben find, aus benen fie durch Weglaffen ber 
Artunterfchiede und Beibehalten des Gemeinſamen in allen Arten ab- 
jtrahirt werden. So entfteht 3. B. der Gattungsbegriff Thier durch 
Wegdenken deſſen, was bie verfchiedenen empirifch gegebenen Thierarten 
charakterifirt, und burch Webriglaffen des allen dieſen Arten gemein: 
famen Thierdharaftere. Zu dem Begriff Subftanz, d. 5. dem Be— 
griffe des Beharrenden in allen Wechjel der Erjcheinungen, war aber 
thatfächlich gar feine andere Unterart gegeben, als die Materie. Aus 
diefer allein ift der Begriff Subftanz als ein höheres Genus dadurch 
entftanden, daß man von ihr das Präbicat der Beharrlichkeit ftehen 
Tieß, alle ihre übrigen wefentlichen Eigenfchaften, Ausdehnung, Undurch— 
bringlichfeit, Theilbarfeit u. |. w. aber wegdachte. Wie jedes höhere 
Genns enthält alfo der Begriff Subftanz weniger in fi, als der Be- 
griff Deaterie; aber er enthält nicht dafür, wie fonft immer das höhere 
Genus, mehr unter fich, indem er nicht mehrere Unterarten neben ver 
Materie umfaßt. Die Nebenorbnung der immtatericlien Subjtanz 
(Seele) neben die materielle war alfo logiſch geſetzwidrig, war eine 
Erſchleichung. „Blos der Begriff Materie war vor dem Gefchlechte: 
begriff Subftanz da, welder ohne Anlaß und folglih ohne Berech— 
tigung müßigerweife aus jenem gebilbet wurde, durch beliebige Weg: 
laſſung aller Beftimmungen veffelben bie auf eine. Erſt nachher 
wurde neben den Begriff Materie die zweite unechte Unterart geftellt 


a 
und jo ımtergefchoben. Zur Bildung diefer aber bedurfte es mm 
weiter nichts, als einer ausdrücllichen Verneinung deſſen, was man dor» 
her ſtillſchweigend ſchon im höhern N De 
nämlich Ausdehnung, Undurchdringlichteit, Theilbarleit. 

alſo der Begriff Subſtanz blos gebildet, um das — zur —* 
ſchleichung des Begriffs der immateriellen Subſtanz zu fein. Er iſt 
fofgfich fehr weit davon entfernt, für eine Kategorie oder nothwendige 
Function des Verftandes gelten zu können; vielmehr ift ex ein höchſt 
entbehrlicher Begriff, weil fein einziger wahrer Inhalt ſchon im Be— 
griff der Materie liegt, neben welchem er nur noch eine große Leere 
enthält, bie durch michts ausgefüllt werben kann, als durch bie er- 
ſchlichene Nebenart immaterielfer Subftanz, welche aufzunehmen er auch 
allein gebildet worden, weswegen er, der Strenge nach, gänzlich zu 
veriwerfen und an feine Stelle überall der Begriff ber Materie zu 
ſetzen iſt.“ (Vergl. „Welt als Wille und Vorſtellung“, I, 580—583.) 

Doch was ift dem mm eigentlich biefe Materie, von der 
Schopenhauer in Uebereinftimmung mit dem Materialismus behauptet, 
daß fie den allein berechtigten Inhalt des Begriffs der Subftanz Bilde 
und nachweift, daß neben ihr bie zweite, immaterielle Subftanz unbe 
rechtigterwelſe untergefchoben fei? Hier müffen wir näher zufehen, 
was Schopenhauer von der Materie lehrt, um zu unterfcheiden, in» 
mieweit hier noch feine Lehre materialiſtiſch und imvieweit fie anti— 
materialiftifch it. 

Das Materielle ift nach Schopenhauer das Wirfende (Wirfliche) 
überhaupt und abgejchen von der fpecififhen Art feines Wirlens. 
Daher eben auch ift die Materie, blos als ſolche, nicht Gegenftand 
der Anſchauung, ſondern allein des Denfens, mithin eigentlich eine 
Abftraction; im der Anfchauung Hingegen kommt fie nur im Verbin— 
dung mit ber Form und Qualität vor, als Körper, d. h. als eine 
ganz beftimmte Art des Wirfens. Blos dadurch, daß wir von biefer 
nähern Beftimmung abftrahiren, denlen wir die Materie als folche, 
d. h. gefondert vom der Form und Tualität. Das ganze Wefen der 
Materie als folder befteht demnach im Wirken; mr durch dieſes er- 
füllt fie den Raum und beharrt in der Zeit, fie ift durch und durch 
lauter Caufalitit. Mithin wo gewirkt wire, it Materie, und das 
Materielle ift das Wirkende überhaupt. 





142 


Bon ter bloßen Materie giebt e8 nur einen Begrifj, km % 
ſchauung; fie geht in alle äußere Erfahrung als nothwentiger Befas]. 
theif terjelben ein, kann jetoch in Teiner gegeben werben; ſondern ma 
nur gedacht als der Zräger aller Formen, Eigenſchaften ua Fr 
fungen. Inſofern ijt fie alfe eigentlih nit Gegenſtand, Tem 
Bedingung der Erfahrung. Zie ijt das durch unſern Berftan (% 
tellect), in welchem die Belt als Vorſtellung ſich darſtellt, nothweni 
berbeigeführte, bleibende Zubjtrat aller vorübergehenden ride 
nungen, aljo aller Yeußerungen ber Raturfräfte und alfer Icbewe 
Weſen. 

Inſoweit gehört alſo die Materie dem formalen Theil une 
Erfenntniß an, gehört zu dem Aprioriihen. Sie ift zwar wide = 
tem Grade aprioriich, wie Raum und Zeit; denn Die Materie fü 
“ wir wegbenfen, Raum und Zeit aber nimmermebr. Allein vies be 
beutet 6108, daß wir Raum und Zeit auch ohne die Materie vorſtela 
fönnen. Hingegen bie einmal in fie hineingefeßte unb demnach añ 
vorhanden gedachte Materie lönnen wir ſchlechterdings nicht mehr wer 
venfen, d. h. fie al8 verſchwunden und vernichtet, fondern immer mr 
als in einen andern Raum verfegt und vorjtellen. Infofern alſo # 
fie mit unfern Erienntnißvermögen ebenſo unzertreunlich verknüpft, we 
Raum und Zeit ſelbſt. Jedoch der Unterjchied, daB fie Dabei zuerk 
beliebig als vorhanden gejegt jein muß, deutet ſchon an, daß fie nic 
jo gänzlich und in jeder Hinficht dem formalen Theil unferer Erkenn⸗ 
niß angehört, wie Raum und Zeit, fonbern zugleich ein nur a posteriori 
gegebenes Element enthält. Sie ift in der That der „Ankfnüpfungspuntt 
des empirifchen Theils unferer Erkenntuiß an ven reinen und aprie 
rifchen, mithin ber eigenthämliche Grundſtein der Erfahrungswelt.“ 

Erft da, wo alle Ausjagen a priori aufhören, mithin in dem gan; 
empirischen Theil unferer Erfenntniß der Körper, alfo in der Form, Quali 
tät und beftimmten Wirfungeart derfelben, offenbart ih nach Schopen 
bauer das Wefen an fich der Dinge, der Wille. Allein diefe Fornten un 
Qualitäten erfcheinen ftets nur als Eigenfchaften und Aeußerungen 
eben jener Materie, die, als auf den Functionen unfers Intelfects be: 
ruhend, apriorifchen Urjprungs ift. Demzufolge ijt die Materie Das: 
jenige, woburd das innere Wefen ber Dinge (dev Wille) im bie 
Wahrnehmbarkeit tritt, anſchaulich, fühlbar wird. Das Ding an fich 


Wille) tritt, indem es zur Erſcheinung wird, de h. in die Formen 
anıfers Intelfects eingeht, als die Materie auf, d. h. als ber jelbjt 
unſichtbare, aber nothwendig vorausgeſetzte Träger mır durch ihn fichte 
barer Eigenſchaften; im diefem Siune alſo iſt die Materie bie Sicht- 
varkeit des Willens. Die Ausdehnung verleiht der Materie der Raum, 
B welcher unfere Anſchauungsform ift, und die Körperlichfeit beſteht im 
= Wirfen, welches auf der Caufalität, mithin der Form unfers Ver⸗ 
© ftandes beruht. Hingegen alfe beftimmte Eigenfchaft, alſo alles Empi- 
& rifche an ber Materie, ſelbſt ſchon die Schwere, beruht auf dem, was 
um mittels der Materie fichtbar wird, auf dem Dinge an fih, dem 

E Willen. 
E Schopenhauer unterſcheidet aljo an ber Materie ein aprioriſches 
und ein apofteriorifches Clement, ein’ auf den Functionen unfers Er- 
F fenntnifvermögens beruhenbes Formales und ein das Ding an fich 
tundgebendes Reales. Daher auch macht er einen Unterſchied zwiſchen 
F Materie und Stoff und polemiſirt gegen die neueſten Materiafiften, 
I welche beide verwechſeln. Der Stoff ift nämlich die ſchon qualificirte 
Materie, die Materie in einer beftimmten fpecifiich wirkenden Form. 
Bon Stoff lann demnach nur bei der vealen Körperwelt die Rede 
fein. Unfere Ausfagen von der Materie als ſolcher find aprioriſcher 
Art. Hingegen die Wirfungsweife beftimmter Stoffe fünnen wir nur 
a posteriori fennen fernen. Der Sat: „Die Materie beharıt, da- 
her ihr Quantum weder vermehrt noch vermindert werden lann“ ijt 
a priori gewiß. Hingegen wie ein beftimmter unorganiſcher oder or⸗ 
ganifcher Stoff wirken wird, das fünnen wir a priori durchaus nicht 
wiffen. Schopenhauer findet es baher lächerlich, daß die neueſten 
Materialiften, 3. B. Büchner, auf empirifchem Wege eine nene Ent- 
dedung gemacht zu haben glauben am ber bor ihnen taujenbmal ans- 
geſprochenen apriorifchen Wahrheit, daß die Materie beharrt, und 
biefe Wahrheit, die gar feines Beweifes bedarf, weil fie a priori ge- 
wiß ift, auf empirifchem Wege zu beweiſen fuchen. Büchner hatte 
nämlich („Kraft md Stoff“, 3. Aufl., S. 17) gefagt: „Heute ift die 
Unfterblichkeit des Stoffe eine wiſſenſchaftlich aufgeftellte und nicht 
mehr zu leugnende Thatſache. Es ift intereffant zu wifjen, daß auch 
frühere Philoſophen eine Kenntniß dieſer folgemwichtigen Wahrheit 
befaßen, wenn auch mehr in unllarer und ahnender, als wiffenfchaft 


144 


lich ficher erfannter Weife. Den Beweis dafür konnten ım6 ei 
unſere Wagen und Retorten liefern.“ 

Mit Beziehung auf diefe Stelle nın macht Schopenhauer m 
Recht die Bemerkung, daß, wer durch Verfuhe, alfo a posterion 
etwas ausmachen will, was er a priori einfehen und entfcheiren könnt, 
3. B. die Nothwendigfeit einer Urfache zu jeder Veränderung, ode 
mathematifche Wahrheiten, oder auf Mathematif zurückführbare Eik 
aus der Mechanik, Aftronomie, ober felbft folhe, Die aus fehr be 
kannten und unbezweifelbaren Naturgefegen folgen, — baß ein folcher fih 
verächtlih made. Wer Hingegen umgefehrt a priori darthun wolk, 
was ſich allein a posteriori aus der Erfahrung wifjen Täßt, der char⸗ 
Iatanifire und mache fich lächerlich, wie Schelling und die Schelfingianer. 
In Beziehung auf Büchner’s angeführten empirifchen Beweis für da 
Beharren der Materie tadelt es Schopenhauer noch ausdrücklich, daß 
Büchner hier ftatt des Wortes Materie das Wort Stoff gebraudt, 
indem er von Unfterblichfeit des Stoffe redet. „Wenn doch jemand, 
dem die Natur Geduld verliehen hat, ſich die Mühe geben wollte, 
biefen Apotheferburfchen und Barbiergefellen, die, aus ihren chemifchen 
Garküchen kommend, von nichts willen, den Unterſchied beizubringen 
zwifchen Materie und Stoff, welcher Tettere ſchon die quafificirte 
Materie, d. h. die Verbindung ter Materie mit ber Form ift, melde 
fih auch wieder trennen fönnten, daß mithin das Beharreude allein 
die Materie ift, nicht der Stoff, als welcher möglicherweife immer 
noch ein anderer werben kann. “Die Ungerftörbarfeit der Materie ift 
nie durch Srperimente auszumachen; daher wir darüber ewig ungewiß 
bleiben müßten, wenn fie nicht a priori feftftände. Wie gänzlich und 
entfehieden die Erfenntniß der Unzerftörbarfeit der Materie und ihres 
Wanderns durch alle Formen a priori und alfo von aller Erfahrung 
unabhängig fei, bezeugt eine Stelle im Shakſpeare, ter doch gewiß 
blutwenig Phyſik und überhaupt nicht viel wußte, jedoch den Hamlet 
in der Tobtengräberfcene (Act 5, Scene 1) fagen läßt: 

Der große Cäſar, tobt und Lehm gemorben, 
Berftopft ein Loch wohl vor dem rauben Norden. 


D daß die Erbe, der bie Welt gebebt, 
Bor Wind und Wetter eine Wand verliebt.‘ 


(Vergl. „Barerga und Paralipomena“, II, $. 43.) 


‚ 


‚145 


Es geht aus Allem, was Schopenhauer über die Materie lehrt, 
hervor, daß er Materiafift zwar infofern ift, als er mr eine Sub⸗ 
ftanz, die Materie anerkennt, alſo gleich den Materialiften Antifpivis 
tualift iſt, daß er aber andererfeits Antimaterialift infofern iſt, als er 
die Materie nicht für ein Ding an fi, für ein von den Ertenntnig- 
formen des menſchlichen Geiftes (Intellects) Unabhängiges hält, fon 
bern an ihr das Reale (an ſich Seiende) vom Idealen (Vorgefteltten) 
unterſcheidet. Schopenhauer ift aljo dem Spiritualismus gegenüber 
Materialift, dem Materialismus gegenüber aber Idealiſt. Das 
Wahre des Materialismus bejteht nach ihm darin, daß er uns von 
dem Gartefianifchen Dualismus zwijchen Geift und Materie, Leib und 
Seele befreit, das Falſche aber darin, daß er in ben durch Kant zer⸗ 
ftörten Dogmatismus zurüdfältt, indem er bie Materie für ein Ding 
an ſich nimmt. „Das unausweichbar Falſche des Materialismus be- 
fteht zumächft darin, daß er von einer petitio prineipii ausgeht, 
welche, näher betrachtet, fich fogar als ein mewroy ıWeudog ausweiſt, 
nämlich von ber Annahme, daß die Materie ein jchlechthin und une 
bedingt Gegebenes, nämlich unabhängig von der Erfenntnif des. Subr 
jeets Vorhandenes, alfo eigentlich ein Ding am fich ſei. Er legt ver 
Materie (und damit auch ihren Vorausſetzungen Zeit und Naum) eine 
abfofute, d. h. vom wahrnehmenden Subject unabhängige Eriftenz bei: 
dies ift fein Grundfehler.“ („Welt als Wille und Vorftellung“, IL, 
357.) An einer andern, Stelle nennt Schopenhauer daher den Mater 
rialismus „die Philofophie des bei feiner Rechnung ſich ſelbſt ver⸗ 
geffenden Subjects“ (Daſelbſt, S. 15), und wieder an einer andern 
vergleicht er ihn mit dem Freiherrn von Münchhaufen, ver zu Pferbe 
im Waſſer ſchwimmend mit den Beinen das Pferd, fich ſelbſt aber 
an feinem nach vorn übergefchlagenen Zopf in die Höhe zieht; weil 
der Materialismus nämlich den Geift aus der Materie ableitet, ohne 
zu bevenfen, daß bie Materie doch Vorftellung des Geiftes iſt, alſo 
den Geift ſchon vorausfegt. („Welt als Wille und Vorſtellung“, 1, 32.) 

Schopenhauer ift aljo zwar Materialift, aber als Materialift 
zugleich Ideal iſt, oder er ift idealiſtiſcher Materialift, im Gegenſatz 
zu ben realiftifhen, die Materie ganz und gar für ein Ding an 
ſich nehmenden Materialiften des Alterthums und der Neuzeit, 

Es giebt nah Schopenhauer —— 


Frauenſtadt, Neue Briefe, i 











146 


bie vom Object anögehenzen mub bie wem Gulbjert amögke 
Unter den vom Object anSgehenben fei un ziear ber i 
bie erſte unb nothwendige Eridbeiuung, ſei auch Ferechtigt, uub ei 
ſich das objective Berfahren des Materialieas am 
unb weiteſten durchführen; aber ſo nothwendig mb berechütt v 
Materialiomus, fo lange man beim Object ſtehen Meibt, ach ®, | 
einfeitig fei er doch, weil alle® Object immer nırr im Beziehung me 
fenuenven Subject unb mittels der Formen beffelfen das ift, wei 4 
ift, alfe nur ein relatives Daſein hat. Der Materielisuns HAM 
nach Schopenhauer zwar wahr, aber einfeitig, er erfaßt nur eie 
Seite der ganzen, vollen Wahrheit, da alles Objective, Ausgebeiek, 
Wirkende, alſo alles Materielle, welches der Materialismns für ı 
Dinlänglich folives Fundament jener Erllärungen hält, mm Alles baa 
zurüdzuführen, — va alles dieſes ein nur höchſt mittelbar we ie 
bingterweife Gegebene®, bemmach mur relativ Vorhandenes iſt; van 
es ift durchgegangen burch die Mafchinerie unt Fabrifatiom des Gr 
hirns und alfo eingegangen in deren Formen, Zeit, Raum und Go 
falität, vermöge welcher allererft es fich darſtellt als ausgebehet a 
Raum und wirfenb in der Zeit. 

Das Feſihalten bes ibealiftifchen Gefichtspmfte® wird affe nah 
Schopenhauer immer ein nothwendiges Gegengewicht gegen den matt 
rialiftifchen bilden. Das wahre Gegengewicht gegen den Meaterialik 
mus bilde nicht der Spiritualismus, welcder außer und neben ber 
Materie eine zweite, immaterielle Subftanz annimmt; — Diefer von „Gr: 
fahrung, Beweiſen und Begreiflichleit gleich fehr verlaffene Dualis⸗ 
mus”, wie ihn Schopenhauer nennt, wurde ſchon von Spinoza, welcher 
mr eine Subftanz annahm, geftürzt, und fpäter von Kant als fall 
nachgewiefen; — ſondern das wahre Gegengewicht bilte der Idealiemus 

Schopenhauer fagt daher: „Sonach ift gegen ven Materialismns 
das ſcheinbare und falfche Nettungsmittel der Spiritualismus, das 
wirkliche und wahre aber der Idealismus, der dadurch, daß er bie 
objective Welt in Abhängigkeit von uns fett, das nöthige Gegen: 
gewicht giebt zu der Abhängigkeit, in welche der Naturlauf uns von 
ihr feßt. Die Welt, aus der ich durch den Tod fcheide, war anderer: 
ſeits nur meine Vorftellung. Der Schwerpunft des Dafeins fälft ine 
Subject zurüd. Nicht, wie im Spiritualismus, die Unabhängigfeit 





147 


bes Erkennenden von der Materie, fondern die Abhängigfeit der Ma⸗ 
terie von ihm wird nachgewieſen.“ 

Doch ift Schopenhauer andererfeits fein fo einfeitiger Ipealift, 
daß er die Materie ganz und gar nur für Vorftellung bielte. Denn 
ich habe fchon gezeigt, daR er zwifchen einem apriorifchen und apo- 
jteriorifchen Clement der Materie unterfcheitet, daß er in dem fpe- 
cififchen, a priori nicht beftimmbaren Wirken der Stoffe over, was 
nach ihm bafjelbe ift, der Naturkräfte das Reale, das Ting an fich, 
ten Willen fich fundgeben ficht, daß er darum auch zwilchen Stoff 
und abftracter Miaterie einen Unterfchied gemacht wilfen will. Schopen- 
hauer ift alfo idealiftifcher Mlaterialift in dem Einne, daß er an der 
Materie Das, was dem vorftellenden Subject angehört, von Dem 
unterfcheidet, was auf Rechnung des Dinges an fich fommt. 


10* 





Siebenundzwanzigker Brief. 


Schopenhauer's Stellung zu dem Materialiemus. (Fortiegun 
Seine Lehre von dem Hervorgeben der Dinge aus ber 
terie. 


Nachdem ich Ihnen in meinem vorigen Briefe Schopenh 
Begriff der Materie ausführlich dargelegt habe, werde ich 
num noch feine Lehre von dem Hernorgehen ber Dinge au 
Materie darlegen, und wir werben alsdann Alfes beifammen I 
um uns ein richtiges Urtheil über feine Stellung zum Materiali 
bilden zu Können. . 

Schopenhauer hat gar nichts dagegen, alle Dinge, wie ver 9 
rialismus thut, aus ben dem Stoff immanenten Kräften abzul 
Aber die Verwiſchung bes urfprüngfichen Unterſchiedes dieſer Ke 
die Zurüdführung aller Erſcheinungen auf bie blos mechaniſch 
kenden Kräfte der Stoffateme — das ift es, was er als einen Gı 
fehler des Materialismus bekämpft. Der Materialiemus muß 
Schopenhauer, wenn er redlich zu Merfe gehen will, die ben 
gebenen Stoffen inhärirenden Onalitäten, fammt den in dieſen 
äußernden Naturfräften, als unergründliche qualitates occultas 
Materie, umerflärt daftehen Iaffen und von ihnen ausgehen, 
dies Phyſik und Phyſiologie wirflid thun, weil fie cben 
Anfprüche darauf machen, die letzte Erklärung der Dinge zu 
Aber gerade um dies zu vermeiden, verführt ber Materialisı 
wenigſtens wie er bisher aufgetreten, nicht redlich; er leugnet nä 
alfe jene urfprünglichen Kräfte weg, indem er fie alle, und am ( 
auch die Febeusfraft, vorgeblich und ſcheinbar zurüdführt auf Die 








= 


NW” u an 






at — 


Sinn gewinnen, wenn er die Dinge, ftatt aus einem. eigenfchaftstofen 
Wechſelbalg von Materie, aus den wirklich und empirifch gegebenen 
Stoffen, ausgeftattet wie fie find, mit allen phyfitalifchen, emifchen, 
eleltriſchen und auch mit den das Peben hervortreibenben Eigenfcpaften 


- oder Kräften ableitete. Aus der Materie in biefem Sinne, aus diefer | 


wahren mater rerum, biefer volfftändig und erſchöpfend gefaßten 
Materie Tiefe ich ſchon eine Welt conftruiven, deren der Materialis- ⸗ 
mus fich nicht zu fchämen brauchte. Alsdann müßte dev Materialis- 
mus aber auch zu der Einficht kommen, daß bieje feine Erklärung der | 
Dinge feine letzte ift, denm eben jene Kräfte blieben als Geheimmif 
ftehen. Alle Wefen aus der Materie entfpringen laſſen „heißt wirt 
lich fie aus einem fehr Geheimmißvollen erllären; wofür es nur ber 
nicht exfennt, welcher Angreifen mit Begreifen verwechjelt”. Zu ben 
Fundamentalfage des Materialismus: „Es giebt überhaupt nichts, als 
die Materie und die ihr inwohnenden Kräfte“, bemerkt Schopenhauer: 
„Bei biefen hier fo leicht Hingeworfenen einwohnenden Kräften» ift 
aber fogleich zu erinnern, daß ihre Vorausfegung jede Erllärung auf 
ein völlig unbegreifliches Wunder zurückführt und dann bei biefem 
ftehen, oder vielmehr von ihm anheben läßt: denn ein folches ift wahr- 
lich jede, den verſchiedenartigen Wirkungen eines unorganifchen Körpers 
zum Grunde liegende, bejtimmte und unerklärliche Naturkraft nicht 
minder, als die in jebem organiſchen ſich äußernde Lebenslraft.“ 

„Wenn nicht eine eigenthümliche Naturkraft, der es fo wefentlich 
ift, zweckmäßig zu verfahren, wie der Schwere wefentlich, bie Körper 
einander zu nähern, das ganze complicirte Getriebe des Organismus 
bewegt, Tenft, orbnet und in ihm ſich fo barftellt, wie die Schwerkraft 
ein den Erſcheinungen des Fallens und Oravitirens, bie eleltrifche 
Kraft in allen durch bie Reibmaſchine oder bie Volta’fche Säule her— 
vorgebrachten Erſcheinungen u. f. w.; nun, dann ift das Leben ein 
falſcher Schein, eine Täuſchung und ift in Wahrheit jeves Weſen 
ein blofer Automat, d. he ein Spiel mechanifcher, phyfifalifcher und 
chemiſcher Kräfte, zu biefem Phänomen zufanmengebracht entweber 
durch Zufall ober durch die Anficht an Künftlers, dem es fo bes 
liebt Hat.“ f 

Schopenhauer hebt außerdem hervor, daß die Lebenskraft 
wie bie Kräfte der unorganiſchen Natur an ben bloßen Stoff, fonbern 


1 


u 


w 


TER 





150 


ſchiedenheit der drei Aggretationszuftände mechanifch erklären, kr 
weniger die Eigenſchaften des Lichts, der Wärme und der Elektricita 
Dieſe werben ſtets nur eine dynamiſche Erklärung zulaſſen, v. h. ein 
ſolche, welche die Erſcheinung aus urſprünglichen Kräften erklärt, de 
bon denen des Stoßes, der Schwere u. ſ. w. gänzlich verſchieden un 
daher höherer Art ſind. 

Eine hieran ſich knüpfende ausführliche Widerlegung ver At 
miſtik hat Schopenhauer in „Welt als Wille und Vorſtellung“, Br. IL 
Cap. 23, ©. 342 fg.) und „Parerga und Paralipomena“, (2. Aufl, 
I, 8. 78) gegeben. Er nennt vie Atome „verſchämte Molecule“ nu 
meint, daß man dieſe modernen Atome fich ebenfo gut groß wie He 
vorjtellen Tönne. „Gin Atom könnte fo groß fein wie ein Ochs; wenn 
e8 nur jeden ındglichen Angriff wiberjtände.“ 

Schopenhauer Tann nit umhin, die moderne Atomenbppeiket 
mit den Zränmereien der Schelling'ſchen Naturphilofephie zu verglti— 
hen, und da findet er denn, daß doch biefe wenigſtens geiftreich, fchwung- 
haft, wigig waren, bie Hirngefpinfte der neneften Atomiftifer Hingegen 
plump, platt, ärmlich und täppifh, die Ansgeburt von Köpfen fint, 
welche erftlich Feine andere Realität zu denken vermögen, als eine ge 
fabelte eigenfchaftslofe Materie, die dabei ein abfolutes Dbject, d. }. 
ein Object ohne Subject wäre, und zweitens feine andere T Hätigfeit, 
als Bewegung und Stoß. Diefe zwei allein find ihnen faßlich, um 
daß auf fie Alles zurücklaufe, ift ihre Vorausfekung a priori; ven 
fie find ihr Ding an fich. Diefes Ziel zu erreichen, wird Die Pebens: 
fraft auf chemifche Kräfte (welche unberechtigt Molecularkräfte genannt 
werden) und alle Proceffe der unerganifchen Natur auf Mechanisms, 
d. h. Stoß und Gegenftoß zurüdgeführtt. „And fo wäre denn um 
Ende die ganze Welt, mit allen Dingen tarin, blos ein mechanifches 
Kunſtſtück, gleich ten durch Hebel, Räder ımd Sand getriebenen Spiel⸗ 
zeugen, welche ein Bergwerk oder Ländlichen Betrieb darftellen. Die 
Duelle des Uebels ift, daß durch die viele Handarbeit des Erperimen: 
tirens bie Kopfarbeit des Denfens aus der Uebung gekommen ift. 
Die Ziegel und Volta'ſchen Säulen follen deſſen Functionen über 
nehmen, daher auch der profunde Abſcheu gegen alle Philoſophie.“ 
(Vergl. „Welt al8 Wille und Vorftellung‘‘, II, 360.) 

Der Materialismus würde nad Schopenhauer einen beſſern 


151 


Sinn gewinnen, wenn er die Dinge, fat: ans einem eigenfhfteefen 


Wechſelbalg von Materie, aus den wirflich- und empirifch gegebenen 
Stoffen, anegeftattet tie fie find, mit allen phyfifalifchen, chemiſchen, 
efeftrifcpen und auch mit den das Leben hervorireibenden Eigenſchaften 
oder Kräften ableitet. Aus der Materie in dieſem Sinne, aus biefer 
wahren mater rerum, dieſer volljtändig und erſchöpfend gefaßten 
Materie Tiefe ſich ſchon eine Welt conftruiren, deren der Materialis- 
mus fich nicht zu fehämen brauchte. Alspaun müßte der Materialis- 
mus aber auch zu der Einficht kommen, daß bieje feine Erllärung der 
Dinge feine letzte ift, denn eben jene Kräfte blieben als Geheimmiß 
ftehen. Alle Wefen aus der Materie entfpringen laſſen „heißt wirt 
lich fie aus einem ſehr Geheimnißvolfen erllären; wofür es mur ber 
nicht erlennt, welcher Angreifen mit Begreifen verwechfelt. Zur dem 
Fundamentalfage des Materialismus: „Es giebt überhaupt nichts, als 
die Materie und die ihr inwohnenden Kräfte“, bemerkt Schopenhauer: 
„Bei dieſen hier fo Leicht hingeworfenen «inwohnenden Kräften » ift 
aber fogleich zu erinnern, daß ihre Vorausfegung jede Erflärung auf 
ein dölfig unbegreifliches Wunder zurückführt und dann bei dieſem 
ſtehen, oder vielmehr von ihm anheben läßt: denn ein ſolches iſt wahr⸗ 
lich jede, ven verſchiedenartigen Wirkungen eines unorganiſchen Körpers 
zum Grunde liegende, bejtimmte und unerklärliche Naturkvaft nicht 
minder, als die in jedem organijchen ſich äußernde Lebeyslraft.“ 

„Wenn nicht eine eigenthünmliche Naturkraft, der es fo wefentlich 
ift, zweckmäßig zu verfahren, wie der Schwere weſentlich, bie Körper 
einander zu nähern, das ganze complicirte Getriebe des Organismus 
bewegt, Tenft, orbnet und in ihm fich jo darftellt, wie die Schwerkraft 
ein den Erfcheinungen des Fallens und Gravitirens, bie eleftrifche 
Kraft in allen durch bie Neibmafchine ober die VBolta’ihe Säule herz 
vorgebrachten Erfcheinungen u, f. w.; nun, dann ift das Leben ein 
falſcher Schein, eine Täuſchung und ift in Wahrheit jedes Weſen 
ein blofer Automat, d. h. ein Spiel mechanifcher, phyſilaliſcher und 
chemiſcher Kräfte, zu diefem Phänomen zufanmengebracht entweder 
durch Zufall oder durch die Abficht eines Künftlers, dem es jo ber 
liebt hat.“ 

Schopenhauer hebt außerdem hervor, daß bie Pebenstraft nicht, 
wie die Kräfte der unorganifchen Natur an dem bloßen Stoff, fondern 





2 


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ww. Zur vu mn: un = 


z — 2 


154 


hiriafeiien: ialich une unhalibar binzegen it die Verriſch 
Uricrĩchiertẽ rer Kızurlräte, tie Surüdfübrumg der ganzen rer 
artigen Criheinungemedt auf das graue Cinerlei ver bed me 
wirleneen Materie. 

veien Zie in Zcherenbauer's Schrift „lieber ren Billn 
Natur“ vie beiven Abſchnine „Vergleichende Anatomie” und „PR 
phyſielegie“, ferner in feinem Haurtwerk „Melt ale Wille m 
ſiellung“, im zweiten Bande, vie beiten Capitel: „CT Ejectivat 
Willens im :thieriſchen Organiemus“ une „Objective Anfict | 
tellecte”, je werten Sie den greken Unterſchied finden, welcher ei 
swifcben ver materialiftiihen une ter Schrpenbauer’jchen Er 
tes Lebens und ter Seele, und antererjeits zwiſchen der | 
Liftifchen une ter ZSchepenhauer'ichen Beitebt. 

Tas Leben ift nah Schepenbauer function bee durch bie 
fraft, welche an jich Yebenswille ilt, gebilreten Urganiemue, und 
halb tes organiſchen Yebene tritt bie Seele als Gehirnfuncti 
ta ein, wo infolge ter complicirtern Berürfniffe der Craaniemn 
Apparats betarf, ter jeine Beziehungen zur Außenwelt regelt ım 
Schritte in derſelben lenkt, alje erft in ver Thierwelt. Mus | 
unerganijchen Körpern bie Empfänglichkeit für blos phyfifalife 
chemiſche Urſachen iſt, das ijt bei den Pflanzen tie Cmpfän; 
für Reize une bei ten Thieren die Empfänglichkeit für Motive 
„genau genommen ift das Alles blos dem Grade nach verſch 
Tenn ganz allein infolge davon, taß beim Thier, nah Maßga 
ner Berürfniffe, Die Empfänglicheit für äußere Cintrüde fich ge 
hat bie dahin, wo zu ihrem Behuf ein Nervenjyitem und Gehi 
entwideln muß, entfteht als cine Function dieſes Gehirns Das B 
fein und in ihm die objective Welt, deren Formen (Raum, Zeit 
ſalität) Die Art find, twie dieſe Junction volljogen wird. Wir 
aljo die Erkenntniß urſprünglich ganz auf das GSubjective bei 
blos zum Dienfte des Willens beftimmt, folglich ganz fecundär: 
untergeordneter Art, ja gleichjam nur per accidens eintrete 
Beringung der auf der Etufe ber Thierheit nothwendig gewo 
Einwirkung bloßer Motive ftatt der Reize. 

Wie mit jedem Organ und jeder Waffe zur Cffenfive ode 
fenfive, hat fih nah Schopen* Auch in jeder Thiergeſta 





— Eon Be 


De TäCR.T 25 1 
mur nm mn 2 mm 


Ta. 0. DB 772 


154 


thatialeiter. Halb me zrbelker Normen iſt Die Bermwifhung M 
Untericbiered rer Nxurfraie, v2 Suraffabrung ter ganzen verjctee 
artigen Criheimazemdt act tus arune Üimerlei ver blos meh 
wirteneen Marcrie. 

veſen Zie in Sbdereriuur't Schrift „lieber ren Willen m x 
Natur“ vie keiten Abichrirre Feraleichende Anatemie“ und „Pfluns 
rhpjiclegie”“, ferner in jenen Saurwert „Wer ale WRilfe- und I 
jtelfung“, im zweiten Vande, vie beiven Capitel: „I bjectivatien N 
Willens im :bieriicen Organismus“ unde, Obiective Anficht bee $ 
tellecis, je werten Zie ten arcken Unterſchied finden, welcher einerie! 
zwiſchen rer murertaliftiichen une ter Scherenhauer ſchen Grilänm 
bes Lebens unt ter Seele, und andererſeits zwiſchen der ſpirimn 
liſtifchen und rer Schepenbauer'ichen Beitebt. 

Das Leben iſt nad Schepenbauer Functien des Durch Die Lebe 
fraft, welche an jich Lebenswille iſt, gchilteten Trganiemue, und in 
balb tes organiſchen Yebene tritt die Zeele ale Gebirnfunctien ai 
da ein, we infolge ber cemplicirtern Berürfnifle der Organismus ei 
Apparats bedarf, der jeine Bezichungen zur Außenwelt regelt und fex 
Schritte in derjelben lenkt, alje erit in ber Thierwelt. Was bei do 
unorganijchen Körpern die Empfänglichfeit für blos phyſikaliſche w 
chemijche Urjachen ift, das iſt bei den Pflanzen tie Empfänglicle 
für Reize une bei ten Thieren tie Empfünglichfeit für Motive, m 
„genau genommen ift das Alles blos tem Grade nach vwerjchieher 
Denn ganz allein infolge davon, taß beim Thier, nach Maßgabe je 
ner Berürfniffe, die Empfünglichkeit für äußere Eindrücke fich gejteiga 
hat bis bahin, wo zu ihrem Behuf ein Nervenſyſtem und Gehirn fi 
entwickeln muß, entfteht als eine Function diefes Gehirns das Bewnf 
fein und in ihm die objective Welt, deren Formen (Raum, Zeit, Ca 
falität) die Art find, wie diefe Junction vollzogen wird. Wir fink 
alfo die Erfenntniß urjprünglih ganz auf das Subjective berechne 
blos zum Dienfte des Willens beſtimmt, folgli ganz fecundärer m 
untergeordneter Art, ja gleihjam nur per accidens eintretend a 
Beringung der auf der Etufe der Thierheit nothwendig geworden 
Einwirkung bloßer Motive ftatt der Reize. 

Wie nit jedem Organ und jever Waffe zur Uffenfive over D 
fenfive, bat ſich nach Schopenhauer auch in jeber Xhiergeftalt d 


156 


frei und jteigert fi) zum Genie, welches die Welt rein object 
auffaßt. 

Dieſe hier ſtizzirte Schopenhauer'ſche Erklärung tes Lebens mt 
ter Seelenthätigkeit iſt wahrlich nicht materialiſtiſch-atomiſtiſch, ſie ü 
aber ebenſo wenig fpiritualiftifh. Sie erklärt Das Leben und it 
Ecelenthätigfeit nicht aus den blos materialiftifch und chemiſch wire 
ben Stoffatomen, wie bie die Lebenskraft lengnenden Materialiſten, ft 
Härt es aber auch nicht aus einer vem Leibe entgegengefegten imm 
teriellen Subftanz, wie bie Spiritualiften. 

Was das Letztere betrifft, jo mögen Sie, wie wenig fpiritualiitiid 
bie Schopenhauer'ſche Erklärung des Lebens und der Seele ijt, ned 
beſonders aus folgenden Worten erjehen: „Wer macht das Hühnche 
im Ei? etwa eine von außen fommenbe und durch Die Schale dringen 
Macht und Kunft? D nein! Das Hühnchen macht fich felbft, um 
eben die Kraft, welche dieſes über allen Ausdruck complicirte, weht: 
berechnete und zwedmäßige Werk ausführt und vollendet, burchbrik, 
jobald ce fertig it, die Schale und vollzieht nunmehr, unter der %: 
nennung Wille, Die äußern Handlungen des Hühnchens. Beides ;r 
gleich konnte fie nicht Teiften: vorher mit Ausarbeitung des Trganismei 
befchäftigt, hatte fie feine Beforgung nach außen. Nachdem nun akt 
jener vollendet ift, tritt Dieje cin, unter Yeitung des Gehirns umd fe: 
ner Fühlfäden, der Sinne, als cines zu biefem Zweck vorhin bereite: 
ten Werkzeugs, dejfen Dienft erft anfängt, wann es im Bewußtſein 
als Intelleet aufwacht, der die Laterne der Schritte des Willens, fein 
nyepovexov und zugleich der Träger ver objectiven Außenwelt ift, fe 
befchränft auch der Horizont biefer im Bewußtfein eines Huhns fer 
mag. Was aber jegt das Huhn, unter Vermittelung dieſes Organd, 
in der Außenwelt zu leiften vermag, iſt al8 durch ein Secundäre 
vermittelt, unendlich geringfügiger al8 was es in feiner Urjprünglid- 
teit Teiftete, da es ſich ſelbſt machte.” („Welt ale Wille und Ser: 
ſtellung“, II, 292.) 

Die Seele iſt alfo nach Schopenhauer nicht ein Primäres, for 
tern ein Secundäres, fie ijt das Probuct Der den Organiemms bildenten 
Lebenskraft, ein Apparat zur Regelung feiner Beziehungen zur Außen 
weit, oder wie Schopenhauer es auch nennt, ber Ort der Motim, 
ericheinend als Gehirn und Nerverinftom, Sie ijt die Laterne, bie 





158 







welcher in ter einen wie in ber andern ter Wille des Indieda 
it, ſondern allein im Zecimrären, im Intellet, im rate mE 
fenntnigfraft, welcher beim Menſchen turb Das hinzugelemment & 
mögen abitracter Erfennmiß, genannt Vernunft, ein ungleich bc 
ijt, jedech erweislich nur vermöge einer grẽößern cerebrafen Gntwidds 
alje ter jomatijchen Verſchiedenheit eines einzigen Theile, des Gröm 
und namentlih jeiner Tuantität nach. Pingegen ift des Gfeicarig 
zwiſchen Zbier une Menſch, ſewohl pfochiſch ale jematifch, ohne an 
Vergleich mehr. So einem occidentaliſchen, judaiſirten Thierrerik 
und Vernunftidolater mug man in Erinnerung bringen, daß wir 
von feiner Mutter, fe auch rer Hunt von ter jeinigen gefäugt wırs 
iſt.“ (Vergl. „Tie beiten Gruntprobfeme ber Ethif“, 2. Aufl., S. 3 
Oben (im 11. Briefe) habe ich bereits gejagt, was biergegen eins 
wenden iſt. 

Durch feine comparative Zuſammenſtellung des Menſchen = 
dem Thier, die nur einen graduellen, aber feinen weſentlichen ii 
terſchied zwiſchen beiden macht, ſteht Schopenhauer offenbar x 
Materialiſten unſerer Zeit, z. B. einem Karl Vogt, der im je 
„Bildern aus dem Thierleben“, in dem Abjchnitt über ,Ihierjeder 
ebenfall8 nur einen grabuellen Unterſchied zuläßt, weit näher ale ra 
fpiritualiftifchen Naturforſchern, Die, wie z. B. Karl Guſtav Car 
in feiner „Qergleichenden Pſychologie oder Geſchichte Der Seele in me } 
Reihenfolge der Thierwelt“, einen abfoluten Gegenfaß zwiſchen Dienid | 
und Thier machen, und deshalb auch nur dem Menfchen Unfterklit ‘ 
feit zuerfennen, dem Thiere fie aber abſprechen. 

An Carus, deſſen „Vergleichende Pſychologie“ übrigens cu 
höchft interejjantes und lehrreiches, auch anziehend gefchriebenes Bud 
ift, läßt fich fo recht wieder fehen, in welche Wiberfprüche und Salt 
heiten ber Spiritualismus ſich verwidelt. Einerſeits geht Carus gan 
naturwiffenfchaftlich zu Werfe, faßt die Natur in ihrer Gontimuiti. 
in ihrer auffteigenden Reihenfolge won belebten und befeelten Meier 
anf, läßt aus dem Unbewußten das Bewußte durch allmälige Steig 
rung bis hinauf zur denfenden Seele des Menſchen ſich entwideln, 
erflärt es darum für ſchwer, feite Grenzen zwifchen den verfchiebene 
Stufen zu ziehen, und nimmt ftellenweife zwiſchen Menſch und Thier 
nur einen guantitativen, nur einen gratuellen Unterſchied an. Ande⸗ 





“BGE sa a5 EEE. AS EEE AED o—D— 


Eu 


Adtundzwanzigfer Brief. 


Schopenhauer's Stellung zu dem Materialismus. (Schluß) — a 
ergebniß. — Bertheidigung Cchopenbauer'3 gegen Profeſſor Epnur 
Zeller. 


— — — 


Das Ergebniß von allem Ihnen über Schopenhauer's Begriff de 
Diaterie und über feine Ableitung der Dinge aus der Materie Daı 
gelegten ift folgendes. Die reine Materie, d. h. das Wirkende ühe 


haupt, noch abgefehen von der ſpecifiſchen Art des Wirkens, ijt ei 
bloßer Gedanke, eine Abftraction. In der realen Körperwelt treffe 


wir fie nirgends an, jondern hier finden wir überall ſchon fpecifik 
wirfende Stoffe, aljo Materie mit bejtinnmter Form und hbejtimmte 
Qualität. Demnach laſſen ſich tie Dinge nicht aus ter reinen Mi 
terie ableiten; denn das hieße fie ans einen bloßen Begriff, eim 
abftracten Borftellung ableiten. Wohl aber laffen fich Die Din; 
ans ber empiriſch gegebenen Materie, d. h. aus den ſpecifiſch wirfent: 


“ Kräften ableiten; jedoch nicht fo, Daß dabei die qualitativen Unterſchiet 


biejer Kräfte verwijcht und auf blos Ouantitatives zurückgeführt we 
den, fondern fo, daß jeder befonderen Claſſe von Erſcheinungen au 
eine beſondere Kraft zu Grunde gelegt wird, die Yebenserfcheinung. 
alſo nicht aus ben in der nnorganiſchen Natur wirkenden Kräften al 
geleitet werden, obwohl fie wegen ver burchgängigen Continnität pi 
Natur nit diefen in Zuſammenhang ftehen, ſondern aus einer eigent 
Kraft, ver Yebensfraft. 

Kraft aber ift an fih Wille, une fo ijt die Ableitung d 
Dinge aus der Materie ſchließlich Ableitung aus dent Villen, a 
ven ſpecifiſch verſchiedenen Weußerungsweifen des Willens. Die Mi 






teriafität ift mir die Erſcheinung, nur die Sichtbarkeit — 
den Kern der Materie bildenden Willens. Das a priori Beftimm- 
bare an alfer materiellen Erſcheinung entfpringt aus ben Formen bes 
Intelleets; dagegen das nur a posteriori Erlenubare aus deni 
Willen, dem Ding an ſich. 

Schopenhauer löſt alſo die Materie in Wille und Vorftellung 
auf, wie dies fpäter auch €. von Hartmann in feiner Weife ger 
than hat. Hieraus ergiebt fich aber, bafı es ebem fo falfch ift, ihn 
‚zu beſchuldigen, daß er ivealiftifch die Materie in bloße Vorftellung ver 
flüchtige, wie es falſch ift, ihm zum puren Materialiften zu ſtempeln. 
Bor der idealiſtiſchen Verflüchtigung der Materie bewahrt ihn die Er- 
Tenntnif des venlen Kerns der Materie, des im ihr erſcheinenden 
Willens, als ihres Weſens an fih, vor der realiſtiſchen Verfelbftän- 
digung der Materie die Erkenntniß, daf die Materie nicht fehlechthin 
ein Unbedingtes, ein Ding an ſich ift, fonbern daß fie eine erfcheinende 
Seite hat, bedingt durch die Formen des vorftelfenden Cubjecte. 

Eben darum ift es aber auch falſch, ihn des Cirkels zu beſchul⸗ 
digen, daß er die Materie aus der Vorſtellung und wiederum bie 
Vorftellung aus der Materie ableite. Denn eine andere Seite ber 
Materie ift es, bie er aus der Vorftelfung ableitet, und wieder eine 
ambere, aus der er die Vorftellung ableitet. Die erſcheinende 
Seite der Materie, die a priori bebingt ift, leitet er aus ber Vor— 
ftelfung ab; Hingegen die Vorftellung felbft leitet er aus der realen 
Seite der Materie, aus dem Willen auf der Stufe des animaliſchen 
Lebens ab. Wo ftedt hier ein Cirlel? 

Hätte Brofeffor Zeller dieſes bedacht, fo hätte er nicht in feiner 
„Geſchichte der deutſchen Philofophie feit Leibniz“ gefchrieben: „Dort 
(im erſten Theil feines Spftems) konnte uns Schopenhaner wicht 
dringend genug einfchärfen, in der ganzen objectiven Welt, und vor 
alfem in ber Materie, nichts anderes zu fehen, als unfere Be ü 
Iegt (im zweiten Buche) ermahnt er uns eben fo dringend, unſere 
——— a 
unfers Gehirns; und hieran 
dieſes ſelbſt weiterhin eine, 







162 


ift aber dieje beitimmze Mxerie, alie nd Schersubaner: rvieie ke E 
ſtimme Zeritim: Zir beñndea er temzab in dem greiflun 
Girfel, daß rie Zerftellung en Ereruc vei Gehirn und das Gen 
en Preruc ter Teritellumg jean ich, — ea Bideripruch, für we 
Lõiung ver Khileſerh auch nid: das Gerinaite gaben bar” S. W. 

Tieſer „greiibare Cirlel” wird erit von Zeller in die Schere 
hauer' jche Lehre bineingetragen. An ſich liegt er nicht in derſelbe 
Denn wie tie Materie, ie it auch das Gehirn nah Schopenhaun 
nicht ganz und gar nur Zerftellung, jenrern beide Haben auch em 
reale Eeite, nämlich ven in ihnen zur Erſcheinung kommenden il: 
fen. Tas Gehirn feiner idealen Zeite nad), d. 5. jeiner anfchar 
lihen Erſcheinung nad, it allertings Product ter Berftellung, jeine 
realen Seite nad aber, d. h. nach dem, was es an jich iſt (nämlid 
Erienntnigwille ever Borjtellungswille , ift e8 Erzeuger ver Br 
ftellung. Wo jtedt ta der BWiberjprub? Das Gehirn ift ja nad 
Schopenhauer nit in bemielben Sinne Erzeugniß der VBorftellug 
als es Erzeuger terjelben iſt; fondern Erzeugniß der Vorftellung it 
es als Object der äußern Anfhauung, Erzeuger der Vorftellug 
bingegen ift es feinem innern Wefen nad, d.h. al8 Erkeuntniß— 
wille. (Vergl. „Welt ald Wille und Vorftellung“, II, 294.) Ans 
brüdfich fagt Schopenhauer: „Was von Innen gefehen das Grfenntnif: 
vermögen ift, das ift, von Außen gefehen, das Gehirn. Diejet 
Gehirn ift ein Theil eben jenes Leibes, weil es ſelbſt zur Objectivation 
bes Willens gehört, nämlich das Erfennenwollen beffelben, feine 
Richtung auf die Außenwelt, in ihm objectivirt if. Demnach ift aller- 
dings das Gehirn, mithin der Intellect, unmittelbar durch ben Leib 
bedingt, und biefer wiederum durch das Gehirn, — jedoch nur mittel: 
bar, nämlich) als Räumliches und Körperliches, in der Welt der An- 
ſchauung, nicht aber an fich felbjt, d. H. als Wille. Das Ganze 
alfo ift zuletzt der Wille, der fich felber Vorftellung wird, und iſt 
jene Einheit, die wir durch Ich ausbrüden. Das Gehirn ſelbſt if, 
jofern es vorgeftellt wird — alfo im Bewußtfein anderer Dinge, 
mithin ſecundär —, nur Vorftellung. An fih aber und fofern 
e8 vorstellt, ift e8 der Wille, weil dieſer das reale Subftrat ber 
ganzen Erfcheinung ift: fein Erfennenwollen objectivirt fih als Gehirn 
und deſſen Functionen.“ (Dafelbft.) Wo ftedt bier der Cirkel? 

















- gang vom mecpanifcher Caufalität, in beffe 


165 


zu leiſtenden Reft auf ihre unmittelbare Action übernimmt, „Diefer 
Unterſchied darf micht überfehen werden; er ift deutlich genug aus. 
gefprochen, und ift groß genug, um bie Naturiwiffenfchaft zu einem: 
energifchen Proteft gegen ben elwaigen Verſuch zu veranlaffen, durch 
metaphyſiſch⸗teleologiſche Auslegung der Caufalität zugleich ven unmit- 
telbaren teleologifchen Eingriff mit einſchmuggeln zu wollen. Läßt man 
ſich den Leteren einmal gefallen, fo ift das Wunder feinem Begriff 
nach (als metaphyſiſcher Eingriff in den gefegmäßigen Gang der phy-— 
ſiſchen Canfalität) acceptiet, und es ift dann nur noch eine Differenz 
dem Grade nad), welche das theologiſche Wunder (infofern es nicht 
naturwidrig gefaßt wird) von dieſem metaphyſiſchen unterfcheidet; — 
ob der umbewußte Wille Atome verfchiebt und dadurd Ströme im 
Organismus erzeugt, welde den Wachsthumsproceß in eine neue 
Richtung drängen, ober ob Gott in der Transfubitantiation die Ur— 
atome fo umlagert, daß die chemijchen Elemente ſich in andere ver⸗ 
wandeln, das ift Fein Unterfchied mehr im Wefen der Sache, ſon— 
ne a a ee 
(S. 16— 19.) 

Die Urfache eines folhen Abfalls von der naturwiſſenſchaftlichen 
Anſchauungsweiſe findet der anonyme Kritifus in den Antecedentien der 
deutſchen Philofophie, die von jeher gewohnt gewefen fei, ber Idee 
einen maaßgebenden Einfluß auf die Yebensprocefje der Organismen 
zuzufchreiben, welche als Träger ber Nealifationen ber Idee gelten 
folften, Bei Schelling, Schopenhauer und Hegel finde ſich nir- 
gends eine genügende Würdigung der Materie als einer felbftändigen, 
jedes metaphyſiſchen Eingriffs in ihre Gefege umd Nechte fpottenben 
Macht; überall würden vielmehr die organifchen Weſen als unmittels 
bare individuelle Realifationen der Idee behandelt. (S. 19.) 

Diefe teleologiſche Erklärung der Organismen wird mach dem 
Kritiler durch die Darwin ſche Lehre von ver natürlichen Zuchtwahl 
bejeitigt. „Denn bie natürliche Ausleſe im Kampf ums Dafein, 
das Zugrunbegehen bes minder Zweckmäßigen und das ueberleben nut 
Sichweitervererben des Pafjenbften und Zwechnäf 












lichkeit nirgends ein teleı 
ihes Princip eingreift, 






167 


‚matüvliche Zuchtwwahl“, die „ualürliche Mustefe im Kampf ums Da- 
fein, die der anonpme Kriuter der teeofogifchen Erllärung fubfitutt, 
ein Zwecke verfolgendes Princip. Die natürliche nebſt 
der Anpaffung und Vererbung hat nicht blos das m und ſich 
Weitervererben des Paſſendſten zum Reſultat, ſondern fie bezweckt 
es auch, wenngleich nicht auf bewußte, ſondern auf unbewußte Weife; 
ift alfo ein zwedmäßig agirendes Princip. 

Nicht minder falſch jedoch, als es ift, Zwedmäfiigfeit im Reful⸗ 
tat anzunehmen, ohne fie im Princip vorauszufegen, — nicht minder 
falfch wäre es, das zwechmäßig bildende Princip fich wie eine unmit- 
telbar oder übernatürlich wirkende Wundermacht zu denfen, bie 
zur Realiſirung der zwedmäßigen Organismen weiter nichts, als die 
Idee ihres Typus brauchte. Der anonyme Kritiker Hat darum ganz 
Recht, fich gegen jene Philofophen zu wenden, welche die organiſchen 
Weſen als unmittelbare Nealifationen der Idee betrachten. Unrecht 
hat er aber, Schopenhauer zu dieſen zu rechnen, 

Es ift fehlerhafte Teleologie, ber bloßen Idee, d. h. ber blofen Bor⸗ 
ftellung eines zwedmäßigen Organismus ſchöpferiſche Kraft zuzufprechen. 

Aus der dloßen Idee des Leibes iaßt fich fein Leib ſchaffen, aus der blofen 
Idee des Auges, der Hand u. f. w. fein Auge und feine Hand. 
Ueberall gehören zur Hervorbringung eines wirklichen Organismus 
wirlliche, d. h. wirkende Kräfte. Ueberall, wie die Erfahrung zeigt, 
ift die bloße Vorftellung (Idee) eines hervorzubringenden Zwed- 
mäßigen bei der Hervorbringung deſſelben ganz ohnmächtig, wer 
feine wirfenden Kräfte zur Hervorbringung vorhanden find, theils 
Kräfte, mittelft welcher, und theils Kräfte, durch welche das Ber 
zweckte hervorgebracht wird. Der vorgeftelte Zwed des Schreibens 
3 B. nützt mir zum wirklichen Schreiben gar nichts, wenn ich Weber 
Feder, Tinte und Papier, noch eine Hand habe, bie Feder im bie 
Tinte einzutauchen und auf das Papier zu führen. Material, das 
dem zu verwirffichenden Zwed entfprechend bildſam ift, ımb bildende 
Kraft, welche das Material dem Zweck entſprechend br Ab überall 
zur Realifivung zwedmäßiger Gebilde erforderlich. Die te 
ftellung en vor ber —— iſt feine ı 
bei den — Werfen der — 
— 
— —— — 
near dt 

















* — 
hauer-Legifon: Erklärung und Aetiologie.) Das ara u 


Die fo gefaßt Tefeologie Hat, benfe-id, Mit, was bie Natur 
wiſſenſchaft perhorreseiren müßte, Sie ift eine moniſtiſche; denn 
fie erklärt Alles aus immanenten Naturkräften. Die Zweckurſache 
ift ihr fo gut eine gefegmäßig wirkende Urſache, eine Kraft, wie bie 
fogenannten wirkenden Urfachen. Jene ift blos eine Höher wirkende | 
Urfache, eine dominirende, die mechanifchen und chemifchen in ihren | 
Dienft nehmende Urfadhe. Und wer till beweifen, daß es in ber 
Natur nicht herrſchende Kräfte, bominirenbe Urfachen giebt, welche 
bie niedern in ihren Dienft nehmen? 

Damit Sie nun aber nicht etwa meinen, daß dieſe Auffaflung 
der Teleologie blos die meinige ift, Schopenhauer aber mit Recht 
der Vorwurf treffe, ben ber oben citirte anonhme Kritiler ihm ſowohl, 
als auch Schelling und Hegeln macht, daß er die Lebensprocefje und 
die lebeudigen Organismen als ımmittelbare Realifationen der Idee 
betrachte, alſo das Wunder (im theologifchen Sinne) auch bei ihm 
noch nicht eliminirt ſei; fo will ich Ihnen nun Schopenhauer's Lehre 
vom organifch Lebenden überfichtlich mittheilen, und Sie werden 
daraus entnehmen, wie unbegründet jener Vorwurf ift. | 

Die Lebenskraft, welde Schopenhauer für das Princip ber 
Organismen erffärt, und bie er gegen ihre Leugner und gegen bie 
materialiftifche Erklärung der Organismen aus den blos mechanifch 
und chemiſch wirkenden Kräften der Materie vertheibigt, ift nach ihm 
feine bloße Idee; oder da bie Ideen ihm überhaupt gleichbedeutend 
find mit den Naturfräften, die Stufenfolge ver Ideen nach ihm 
die Stufenfolge der Naturkräfte ift (vergl. Schopenhauer-Lerifon unter 
Natur: die Stufen derr Natur), fo ift ihm bie Idee des Lebens 
gleichbedeutend mit ber das Leben bewirkenden Naturkraft; fie ift 
alſo feine bloße Vorftellung, fondern, gleich den wirfenden Naturs | 
fräften, ein wirfendes Princip. Wenn nicht, Ichrt er, eine eigen- 
thümliche Naturfraft, der es jo wejentlich ift, zwetmäßig zu verfahren 
wie der Schwere wefentüich, die Körper einander zu nähern, das ganze 
complicirte Getriebe des Organismus dann 
it das Leben ein falſcher Schein, ei 














171 


wirkende Kraft iſt. Dies geht auch aus Dem, was — 
hauer über ihre drei Erſcheinungsformen: Reproductiouskraft, Irrita- 
bilitãt und Senſibilität lehrt, hervor. Dieſe, lehrt er, ermüden und 
bedürfen der Ruhe, weil ſie allererſt mittelſt der Ueberwindung der 
niedrigern Naturkräfte den Organismus hervorbringen, erhalten und 
5 beherrfchen. Die Lebenskraft kann micht gleichzeitig unter ihren brei 
Formen ganz und ungetheilt, alfo mit voller Macht wirken, ſondern 
immer nur unter einer. Daher die Notwendigkeit des Schlafs, 
e Ir Schafe, wo die Irritabilität und Senfibifität ruhen, nimmt bie 
. Lebenskraft durchweg bie Geftalt der Reproductionskraft a. 
& Darum geht bie Bildung und Ernährung der Theife, namentlich die 
F Nutrition des Gehirns, aber auch jebes Wachsthum, jeder Erſatz, jede 
Heilung, hauptjächlich im Schlafe vor ſich. („Parerga“, IL, 174.) 
Sie erfehen hieraus, wie falſch es wäre, Schopenhauer vorzu⸗ 
werfen, daß er bie Lebenskraft im Sinne einer unbedingt und ger 
ſetzlos wirkenden Kraft, gleich einem alfmächtigen Gott, auffaffe. So 
wenig, als er die organifchen Individuen als unmittelbare Realifas 
tionen der Idee des Lebens betrachtet, eben fo wenig die Arten; 
denn er lehrt das Hervorgehen der höhern aus den niebern Arten 
und zufegt des Menfchen aus dem Affen. Die höhern Arten haben 
nach ihm die niedern zur Vorausſetzung. (Vergl. Schopenhauer ⸗ Lexi⸗ 
fon: Generatio aequivoca u, Affe.) Die Natur macht überhaupt 
nad Schopenhauer feinen Sprung, fängt nicht bei jebem Erzeugniffe- 
don vorn am, aus Nichts fchaffend; fondern, gleichfam im felben Stile 
fortfchreibend, Mnüpft fie an das Vorhandene an, benutzt die frühern 
Geftaltungen, entwidelt und potenzirt fie höher, ihr Werk weiter zu 
führen. Als Beleg dafür führt Schopenhauer die Metamorphofe ber 
Pflanzen, ebenfo die Steigerung ber Thierreihe, auch die Steigerung in 
Hinficht auf den Intelleet an. Auch jedem Abfterben geht nach Schopen- 
hauer entfprechend dem „natura non facit saltus“, eine allmälige 
Deterioration vorher, (Bergl. — Lexilon unter Natur: 












Dreißigfter Brief. 


Schopenhauer's Stellung zur Teleologie. (Hortfegung.) — Bertheivigmg 
Scopenhauer’3 gegen Thilo. — Realismus der Schopenhaueride 
Zeleologie. 





Nachdem ich, verehrter Freund, in meinem vorigen Briefe we 
Schopenhauer’fche Teleologie gegen den Vorwurf der Cinmifchung ie 
WBunders in die Erklärung der zwedmäßigen Naturprobucte vertke: 
digt habe, gehe ich nun bazu über, fie gegen einen andern Vorwuj 
zu vertheidigen, nämlich gegen den Vorwurf, daß ein Widerfpruc ke 
ſtehe zwifchen Schopenhauer’8 ibealiftifcher Behauptung, daß erft unje 
Intellect die Zwedmäßigfeit in die Natur bineintrage, und anbera- 
jeits feiner realiftifchen Ableitung bes Intellects als eines Organ 
aus dem zwedmäßig bildenden Naturwillen. Einerſeits fei ihm ve 
Intellect die Borausfegung der Zwedmäßigfeit, und andererfeits ve 
Zwedmäßigfeit die Vorausfegung des Intellecte. 

Diefen Widerſpruch Hat bejonders Thilo in feiner Kritik be 
Schopenhauer’jchen Philofophie („Zeitfchrift für eracte Philoſophie“, 
VII, 4, 336 fg.) hervorgehoben. 

Thilo fagt: „Schopenhauer ift wenigftens jo ſcharfſichtig um 
ehrlich, daß er dem gefammten Wollen, alfo dem Willen an fich, kei— 
nen Zweck zugefteht. Da er aber bie befondern zwedmäßigen Formen 
nicht Tengnen kann, jo verlegt er die Zwedmäßigfeit in Die einzelnen 
Willensacte. Nun geräth er aber in eine fonderbare Klemme. Die 
Zwedmäßigfeit, meint er nämlich, verftche fich für dieſe einzelnen 
Acte, Formen oder Ideen von felbft, da die verfchiedenen Vorgänge, 
3. B. in einem Organismus, nur die in Zeit und Raum auseinander: 


— 


| 


Einen Willensacte an ſich, ſondern wird nur durch unſern fubjectiven 


Intelfect hineingetragen, der das art ſich Eine in den Formen des 
Raums, der Zeit und der Caufalität als ein vieles ſchaut. Im bem 
wirllich Einen kann ja auch feine Zweckmaͤßigkeit liegen, fondern nur 
im dem zu Einem Zwece zufammenftimmenden Mannigfaltigen, Diefe 
Anficht, daß im Intelleet allein der Grund Liegt, weshalb etwas als 
ʒweckmaßig angeſchaut wird, ift auf dem Kant’fchen Standpunkte con- 
fequent. Nun aber Läft Schopenhauer den Intelfect felbft erft aus 
einem teleologijchen Grunde entftehen und giebt überhaupt feinen an—⸗ 
dern Grund für das Entftehen deſſelben an, als daß er zur Selbft- 
erhaltung ber Thiere und Menfchen nothwendig fei. So wird alfo 
bald der Intelfect der Zweckmäßigleit als Vorausfegung vorgefchoben, 
bald aber wiederum das zwedmäßige Verhalten des Wollens als Vor— 
ausfegung für bie Entftefung des Intelfects angefehen.“ (S. 352.) 
Diefer „unvereinbare Widerſpruch“, wie es Thilo nennt, Löft 
ſich durch Unterfcheidung der realen und idealen Seite der Zwed- 
mäßigfeit. Aus dem ar ſich zweckmäßigen Wirken bes Naturwillens 
geht der Intelfect als Organ hervor, und aus bem durch die reale 
Zwedmäßigkeit erzeugten Intelfeet wiederum geht die Auseinanber- 
Tegung des einheitlichen, confpirirenben Naturwwirfens in Zwed und 
Mittel, alfo die vorgeftellte Zwecmäßigfeit hervor. Diejenige Seite 
der Zweckmaßigleit alfo, die in dem Naturwilfen ihren Urfprung hat, 
ift eine andere, als bie, welche in dem Intelleet ihren Urfprung hat. 
Schopenhauer unterſcheidet beide Seiten in ber Schrift „Ueber den 
Willen in der Natur” (©. 56 fg.), indem er fagt: „Das wahre 
Weſen jeder Thiergeftalt ift ein aufer der Vorftelfung, mithin auch 
ihren Formen Naum und Zeit, gelegener Willensact, der ebendeshalb 
fein Nach⸗ und Nebeneinander kennt, ſondern bie untheilbarfte Ein- 
heit hat. Erfaßt nun aber unfere cerebrafe Anfchauung jene Geftalt 
und zerlegt gar das anatomijche Meſſer ihr Inneres, fo tritt an bas 
Licht der Erfenntnig, was urfpränglic und an ſich dieſer und ihren 
Geſetzen fremd ift, in ihr aber mın auch ihren Normen und 
gemäß ſich darſtellen muß. Die urfprüngliche Einheit und 
barkeit jenes Willensacts, dieſes wahrhaft N 









15 


| Doch Thilo macht noch andere Einwendungen gegen die Schopen- 
hauer'ſche Teleologie, Er jagt: „Ienes blinde, unbewußte Wollen, 
das Ding an ich, ſchafft ſich nach ihm felbft die Mittel, feinen Drang 
zu befriebigen, oder — nad) der idealiſtiſchen Seite feiner Lehre — 
der Intellect ift es, welcher die Zweclmäßigleit in die Dinge hinein- 
trägt, indem er mittels feiner Formen, Zeit, Naum und Caufalität, 
den einen untheilbaren Willensact, welcher einer befondern organifchen 
Form zugehört, in zeitliche und räumliche zuſammenſtimmende Urfachen 
und Wirkungen auseinanderlegt. Aber zunächſt bleibt e8 bei ihm, wie 
bei Allen, welche es leugnen, daß die vorhandene Zwedmäßigfeit auf 
eine fhöpferifche Intelligenz hinweiſe, bei der bloßen Behauptung, daß 
der immanente Zweck ſich ſelbſt die Organe feiner Ausführung ſchaffe. 
Es heißt wohl: Zähne, Schlund, Magen u. ſ. w. find ber objectivirte 
Hunger, die Genitalien find der objectivirte Gejchlechtstrieb, der Or- 
ganismus überhaupt ift die objectivirte Idee des Lebens u. dergl,, 
aber den Nachweis, daß dergleichen mehr als Ieere Phrafen find, Hat 
noch Niemand geführt. Denn wo und wie liegt denn im Begriffe 
eines Triebes die Nothwendigfeit, daß er fich jelbft ſolche Mittel ſchaffe, 
welche zu dem Zwecke feiner Befriedigung pafjen? Vielmehr find ſolche 
Organe die Vorausfegung, unter der allein ſolche Triebe als möglich 
gedacht werden Fönmen. Die gegentheilige Behauptung ift nur ein 
Nefultat jener ſehr wohlbefannten Metaphyſik, welche Abftractionen 
realifirt, hypoſtaſirt und wohl gar apotheofirt.” (Vergl. „Zeitfchrift 
für exacte Philoſophie“, VIII, 1., 21 fg.) 
Es ift eine völfige Umkehrung bes wahren Verhäftniffes von 
Zweck und Mittel, deren fih Thilo hier ſchuldig macht, indem er bie 
Organe zur Boransfegung der Triebe macht, zu deren Befriedigung 


fie dienen. Sollte dieſes Verhältniß gelten, fo müßte z. B. auch 


Thilo's Feder die Vorausſetzung feines Triebes zu ſchreiben fein. 
Hätte er feine Weber, fo würde es ihm nicht im den Sinn 
fommen, zu fchreiben. Die Abfurbität der Abhängigmaduug ber 
Triebe von ben zu ihrer Befriedigung dienenden Organen Liegt auf 
ber Hand. Alle tiefern Denker Haben bisher noch immer zwar bie 
Ausführung des Zweds von den Mitteln abhängig gemacht, aber 
nicht das Wollen des Zweds. Diefes Haben fie vielmehr zu 
Vorausjegung bes Hervorbringens der Mittel ‚gemacht, Dem- 


M 


Eat J .— 
ne Ted 


116 


gemäß haben fie zwar das wirkliche Sehen, Sören, Teer ı :: 
abhängig gemacht zen ten entipredbenten Urganen, bite 
tiefe Organe ſelbſt wiererum betingt fein lajjen vırrdb res In 
Willen zu jehen, hören, taften u. f. w., ganz; wie zmar zes mc#ı 
Schreiben beringt ift durch tie Feder, die Feder ſelbſt aber & 2. 
ſein dem Willen zu ſchreiben zu verdanken hat. 

Ben ter Thilo' ſchen Behauptung, daß im Begriñe mes Ta 
bes nicht die Nothwendigkeit liege, daß er ſich ſelbſt die sn ie 
Befrietigung dienenden Mittel ſchaffe, gilt das gerate Kun 
theil. Ueberall, we ein lebentiger Zrieb ijt, jeben wir ik : 
ſchäftig, tie Mittel zu jeiner Befrietigung zu fhaffen. Kann r' 
auch nicht ter Materie nach ſchaffen, fontern ift an tie gen 
Materie gebunben, fo fchafft er fie roch ber Form nad. Die ix 
ift ja aber gerabe das, mas bie Materie erſt zum geeigneten W= 
für den Zwed macht. Tie Materie der Feder wirb erft nnd ı 
ihr gegebene Term zum Mittel für den Zwed Des Schreibene. % 
bie „Intelligenz, die etwa zum Sormiren ber Materie, damit fie Mt 
für den Zweck werde, nöthig ift, empfängt ihren Impuls erft ven n 
Zriebe, der auf ben Zwed gerichtet ift, und fo ift für pas Schr 
ber Mittel zu einem Zweck immer der Trieb das Erfte und Weſe 
lihfte. Mag ber Trieb tie Mittel unmittelbar oder mittelbar ſchañt 
immer ift er es, der fie fchafft, immer geht die Initiative von ibm = 

Schwach, wie das ift, was Thilo gegen bie realiftifche Eeite d 
Schopenhauer'ſchen Teleologie vorbringt, ift auch das, was er gez 
bie idealiſtiſche Seite derſelben einwendet. Cr ſagt: „Unſer Intell 
ſoll es (nach der idealiſtiſchen Anſicht) fein, welcher, indem er ten: 
ſich untheilbaren Willensact, der fich in der Erfcheinung eines Thier 
barftellt, mittels feiner eigenen Formen Raum, Zeit und Caufalit 
als Object auffaßt, die Vielheit und Verſchiedenheit der Theile u 
ihrer Functionen erſt hervorbringt und dann über die aus der urſprün 
lichen Einheit hervorgehende vollkommene Uebereinſtimmung und Ge 
ſpiration derſelben in Erſtaunen geräth und alſo in gewiſſem Sin 
ſein eigenes Werk bewundert, da der Organismus ja blos pie i 
Gehirn zu Stande gefommene Sichtbarkeit des hier vorhanden 
Willens ift! Aber zumächft ift gar nicht abzufehen, wie der Stelle 
wenn ihn nur etwas Alntheilbares, Unterſchiedsloſes gegeben ift, dara 





das an fich Einfache Knnen die Formen des Raums, der Zeit 

Be Genf 5 PAR Pa, oe dB EINE 

Verſchietenheit hen vorausfegen. Wo mır Eins ift, faın von 

Verhaltuiſſen micht bie Rede fein; N 

Bermen aufefoßt werben.“ (Berg. „Bfgrift für egace Be 

ie“, VIR,.1,.23),  . ‚ 

Diefe Polemif berußt auf der falſchen Anfict von dem Cchopen- 

ſchen Monismus, als hebe derſelbe alle Unterſchiede im Realen, 

Am Willen, auf und verlege die Unterſchiede lediglich in den Intellect, 
Bir falſche Anficht ift ſchon oben widerlegt worden, Der Intellect 
} ‚bringt nah Schopenhauer nicht die Uebereinftimmung ber Theile uud 
Functionen der Organismen, bie er bewundert, hervor, fonbern er 
„Bringt nur bie falſche Auslegung biefer Uebereinftimmung hervor, in— 
|dem er bie urfprüngfiche Quelle dieſer Uebereinftimmung im eineit- 
lichen Willensact verlennend meint, bie Uebereinftimmung fei auf dem 
——* ber Reflexion zu Stande gefommen. Er bringt alſo nur bie 
Bewunderung berjelben hervor. Dies ift ber Sinn ber Schopen- 
hauer ſchen Lehre, daß bie bewunderte Zweckmäßigleit ber Natur erft 
durch unfern Verſtand in. biefelbe lomme. Nicht bie Zweckmäßigteit 
an ſich, ſondern die Art, wie wir fie uns bewirlt denlen, iſt hier 
—— 

Angenommen aber auch, Schopenhauer äußerte ſich wirklich in 
widerſprechender Weiſe über die Zweclmaͤßigleit, das eine Mal idea⸗ 
liſtiſch, und das andere Mal realiſtiſch; fo wäre hier wieder mein 
ſchon früher. ausgeſprochener Sat anzuwenben: Wo ein Philoſoph 
einander wiberfprechende Behauptungen aufſtellt, können nicht beide für 
feine eigentliche und wahre Meinung gelten, ſondern mm eime von bei- 
den; und bie andere muß daun als durch feine, wahre Meinung auf- 
gegeben betrachtet werben, 

Nun Habe ich ſchon gezeigt, daß Schopenhauer’s urſprünglicher 
Ipealismus als durch die fpätern realiſtiſchen Ausführungen feiner 
Philoſophie aufgegeben betrachtet werden müffe. Die Objectivations- 
ftufen des Willens find ja feine bloßen Vorftellungen, fonbern, 

Erlennbaren gehörig, find fie reale 
Da ihrer aber 














Ra 







if, welche hinterher wieder in Abrede geſtellt Naked Es iſt ein 
mit Begriffen, wenn man ein Sutelfigentes annimmt ofme eine 
igenz. Ein Imtelligentes giebt es nicht ohne eine Intelligenz, 
diefe in uns, ober aufer ung fein; in bem einen alle ift auch 
Intelfigente nur in uns, in dem andern aber auch außer ung als 
eine Thatſache, welche durch die Gefegmäßigfeit und die Planmäßig- 
feit ber Naturerfcheinumgen conftatirt wird. Auch Kant kennt nichts 
Intelligentes ohne eine Intelligenz, da uns ber Begriff eines Natur- 
zwecls nur möglich wird durch bie Annahme eines intellectus arche- 
typus, wodurch wir auch allein bie Eigenthümlichteit unferes Verſtandes 
begreifen können. Ein Wille zumal, ber Intelligentes bewirkt, iſt nicht 
a Intelligenz, wenn biefe gleich nicht unfer Bewußtfein iſt.“ 
Profeſſor Harms Hält alfo ein zweclmäßiges Wirken ohne eine- 
Intelligenz, bie den Zweck vorher weiß, für undenkbar; Schopenhauer 
Dagegen lehrt: Das organifirende Wirken der Natur läßt fich durch 
die Inftinete und Kunfttriebe der Thiere erläutern. Es ift, als hätte 
die Natur zu ihrem Wirken nach Endurſachen und ver dadurch her⸗ 
beigeführten bewunberumgswürdigen Zweckmäßigleit ihrer organifchen 
| Probuctionen dem Forſcher einen erfäuternden Commentar an bie 
Hand geben wollen in den Inftincten und Kumfttrieben ber Thiere, 
Denn fo, wie in biefen die Thiere auf einen Zweck hinarbeiten, ohne 
ihn zu erfennen, gerade fo wirft auch bie organifirende Natur, 
weshalb fi) von der Endurſache in diefem Wirfen der Natur bie 
paraboge Erffärung geben (ft, daß fie ein Motiv fei, welches wirkt, 
ohme erkannt zu werden. Und wie im Wirken aus dem Kunfttriebe 
das darin Thätige augenfcheinlich der Wille ift, fo ift er es auch im 
organifchen Wirken der Natur. Die Inftinete und bie thieriſche Or- 
ganifation exfäutern einander wechfeffeitig, befonders auch durch die in 
beiden hervortretende Anticipation des Zufünftigen. (Vergl. 
Schopenhauer-Lerifon unter Inftinet: Wechfelfeitige Erläuterung des 
Inftinets und bes organifirenden Wirkens ber Natur.) 

Was die zulett erwähnte Anticipation des Zulünftigen 
betrifft, fo — hen 
und Kunfttriebe bie Thiere für | 
forgen, bie fie noch nicht, 









l 
J 
| 
] 


182 


fogar ter künftigen Brut. Sie arbeiten alfo auf einen ihnen ıd 
unbefannten Zwed bin; dies geht, wie das Beiſpiel bes Bomber k 
weiſt, jo weit, daß fie vie Feinde ihrer Fünftigen Gier fchon ja 
voraus verfelgen und törten. „Eben jo nun ſehen wir in ber ga 
Kerporijation eines Thieres jeine kimftigen Bebürfniffe, feine einſte 
Zwede, durch bie erganijchen Werkzeuge zu ihrer Erreichung und & 
frietigung anticipirt; weraus dann jene volllommene Angemefjaki 
des Baues jebes Thieres zu feiner Nebensweife, jene Ausrüftunz it 
jelben mit ven ihm nöthigen Waffen zum Angriff feiner Beute m 
zur Abwehr jeiner Feinde, und jene Berechnung feiner ganzen Gew 
auf das Element und bie Umgebung, in welcher er als Berfolger = 
zutreten bat, hervorgeht, welche ich in der Schrift „„Lieber den Ki 
in der Natur“ unter ver Rubrik „Vergleichende Anatomie“ ausfük 
lich gefchilvert habe. — Alle tiefe, jowohl im Inftinct, ale in m 
Drganifation der Thiere hervortretenden Anticipationen könnten ® 
unter ben Begriff einer Erfenntniß a priori bringen, wenn denſelbe 
überhaupt eine Erkenntniß zum Grunde läge. Allein dies ift, m 
gezeigt, nicht der Fall: ihr Urfprung liegt tiefer, al8 das Gebiet 
Erfenntniß, nämlich im Willen als dem Dinge an fich, der als folk 
auch von den Formen ber Erfenntniß frei bleibt; daher in Hin 
auf ihn die Zeit feine Bedeutung hat, mithin das Zufünftige ihm | 
nahe liegt, wie das Gegenwärtig.” („Welt ald Wille und Bor 
ung“, II, 397 fg.) 

Wer hat num im diefer Streitfrage Recht, Schopenhauer 1 
feiner Behauptung, daß das zwedmäßige Wirken der Natur ohne | 
fenntniß des Zweckes vor ſich gehe; oder feine Gegner, welche 
zwedmäßiges Wirken ohne Erfenntniß des Zwedes für unmöglid ı 
Hären? 

Hierüber ift meine Anficht diefe. Ich ftinme Schopenhauer h 
baß ber Urfprung der zwedmäßigen Korporifation tiefer Liegt, als 
Gebiet der Erkenntniß, nämlich im Willen als Ding an ſich. A 
daraus folgt nad) meiner Anficht nicht, daß fie ohne alle Erkenn 
niß zu Stande komme. Schopenhauer hat zivar das Berhält: 
zwifchen Wille und Erkenntniß (Vorftellung ) ganz richtig dahin | 
ftimmt, daß jener das Primäre, dieſe das Secundäre ſei. A 
er hat, wie ich Ihnen bereits früher bargethan, ven Fehler begang 





184 


Beine, um waten zu können, ohne zu ertrinfen ober naß zu wertn, 
und demgemäß Hals und Schnabel fehr Tang, letztern ſtark ce 
ſchwach, je nachdem er Reptilien, Fifche oder Gewürme zu zermalme 
hat, und dem entfprechen auch ftetS die Cingeweide; dugegen hate 
die Sumpfvögel weder Krallen, wie bie Raubvögel, noch Schwimn 
häute, wie die Enten; denn die lex parsimoniae geftattet fein übe: 
flüffiges Organ. Gerade diefes Gefek, zufammengenommen bumt, 
baß anbererfeits feinem Thiere je ein Organ abgeht, welches fe 
Lebensweiſe erfordert, fondern alle, auch die verfchiebenartigften, über 
einftimnmen und wie berechnet find auf eine ganz ſpeciell beftinmte 
Lebensweiſe, auf das Clement, in welchem fein Raub fich aufhält, af 
das Verfolgen, anf das Befiegen, auf das Zermalmen und Verdauci 
beffelben, beweift, baß die LXebensiweife, die das Thier, um feim 
Unterhalt zu finden, führen wollte, e8 war, die feinen Bau beftimmt, 
— nicht aber umgefehrt; und daß die Sache gerade fo ausgefallen in 
wie wenn eine Erfeuntniß der Zebensweife und ihrer äufen 
Bedingungen bem Bau vorausgegangen wäre.” (Daſelbf, 
©. 41 fg.) 

Ich bin mn der Meinung, daß von dem, was „wie ein Dotir“ 
wirft, was wirft, „wie wenn eine Erkenntniß davon borausgegangen 
wäre“, wirklich eine Art von Erkeuntniß vorausgegangen fein muf. 
Mag immerhin ver Trieb zu leben an fich ein blinder, erfenntnif- 
fofer fein; — Die äußeren Umftänte und Verhältniffe, nach denen der 
Tebenstrieb fich bei ver Bildung der Organismen richtet und Denen er 
ſich anpaßt, müfjen doch irgendivie von ihm percipirt fein. 

Schon das fih Suchen und Flichen der Stoffe in Der unorgani- 
hen Natur läßt ſich nicht als ein abfolut blindes, ohne alfe Percep— 
tion des Andern, mit bem fie fich zu verbinden, oder von dem fie fih 
zu trennen ftreben, benfen; noch weniger aber das Affimiliren und 
Secerniren in ber erganifchen Natur. Ueberall ift allerdings Wil, 
Trieb, das Primäre, die willenbewegenden Urfachen das Secunpäre; 
aber die willenbewegenden Urfachen müffen, um zu wirfen, irgend wie 
percipirt, wahrgenommen fein. Folglich ift auch das zweckmäßige 
Wirken der Natur nicht ohne alle Verftellung; vie „wie ein Motiv“ 
auf dafjelbe wirkenden äußeren Umftände, denen e8 ſich anpaßt, ge 
hören, wie das Motiv, in das Gebiet der Erfenntniß. 





186 


alfo das Ebenbilb der menfchlichen. Wenn Hingegen vie atheiftijce 
Bhilofophie die zwedmäßigen Probucte der Natur als Beweiſe de 
Intelligenz ber Natur betrachtet, fo ift ihr Darum dieſe Iutelfigen; 
noch feine anthropomorphiſche, überlegende und berathenbe. 

Die überlegende, berathende Bntelligenz ift ja nur eine befcn- 
bere Art von Intelligenz, und daß gerade biefe befonbere Art von 
Intelligenz die nothwendige VBorausfegung alled zweckmäßigen Wirken 
ſei, das wäre doch erft zu beweiſen. So lange bies nicht bewieſen 
ift, wird man zwar zugeben müffen, daß ein intelligentes Wirlen 
ohne Intelligenz undenkbar fei, man wird aber nicht genöthigt fein, 
baraus zu folgern, daß die Intelligenz, welche im intelligenten Wirlen 
und Schaffen ſich äußert, eine discurſive ſei. Es giebt ja aufer 
ber biscurfiven auch eine intuitive Intelligenz, und wer leugnet, daß 
das zweckmäßige Wirken der Natur eine überlegende Intelligenz zu 
Vorausſetzung babe, der behauptet barum nod nicht, daß es ohne 
alle Intelligenz zu Stande komme. 








1 Zweiunddreißigſter Brief. 
BE vun Aeh detit. Shovenhauers. — Wiverfprub, yeigen ber 
iſchen Willensfreibeit und dem äfthetiihen Wohlgefallen — 


itit der Schopenhauer’ihen Loſung diejes Widerſpruchs. — Urfprung ber 
Objectivität des äfthetijchen Erfennens. 


— 


Ich gehe nun, verehrter Freund, nach Erledigung der wichtigſten 


me 2 0 


nhauer gerieth, nachdem ex bie äftfetifche Contempfation 
als veines, willensfreies Erkennen in Gegenſatz geſtellt Hatte zu dem 
im Dienfte des Willens ftehenden Erkennen, mit ber Thatſache ber 
äfthetifchen Freude in Conflict, da doch alle Freude einen Willen 
dorausfegt. Er bemüht fich zwar, dieſen Widerſpruch zu Löfen; aber 
es will ihm nicht gelingen. Er fagt nämlich: „Das eigentliche Pro- 
blem der Metaphyfil des Schönen läßt fich fehr einfach fo-ansprüden: 
wie ift Wohlgefallen und Freude an einem Gegenftande möglich, ohne 

irgend eine Beziehung deſſelben auf unfer Wollen? Jeder nämlich 
aus 


ihrem Berhäftniß zu unſerm Willen, oder, wie man es gern ausbrüdt, 
zu unſern Zweden entfpringen lann; fo daß eine Freude ohne 
gung des Willens ein Widerfpruch zu fein 
ganz offenbar, das Schöne als ſolches unfer Wohlgefalten, 
Freude, ohne daß es irgend eine Beziehung auf unfere perſönlichen 
Zwede, alfo unfern Willen hätte. Meine Löſung ift gewefen, daß 











Dreinnddreißigfter Brief. 


Kritit des Schopenhauer'ihen Gegenfages zwilhen der Aftbetifchen Br 

trahtung der Pinge und ihrer Betrabtung nah dem Gap von 

Grunde — Die Schopenhauer’ he Ideenlehre und ver Darei: 
nismus. 


Es iſt, verehrter Freund, noch ein anderer Gegenſatz, den Schoper 
hauer in ber Aeſthetik macht, ebenfalls zu berichtigen. Das äfthetifde 
Erfennen bat e8 nämlich nach ihm nicht mehr mit den Relationen 
der Dinge zu thun, fondern mit bem reinen Was berfelben, mit ve 
platonifchen Ideen. Dadurch trete das äfthetifche Erkennen in Gegen: 
fa zu dem an den Sat vom Grunde gebundenen Erkennen. Der 
zur äfthetifchen Anſchauung fich erhebende Intellect verlaffe, indem fr 
nicht mehr auf das einzelne Ding, fondern auf die Idee, Die gan 
Gattung deffelben gerichtet ift, eben damit alle Relationen, vie der 
Sap vom Grund ausbrüdt, alfo Die ganze Betrachtung der Dinge 
nach Raum, Zeit und Caufalität. Darum fei e8 3. B. bei Betrach— 
tung eines Baumes für die Auffaffung feiner Idee ohne Bedeutung, 
ab es tiefer Baum ober fein vor taufend Jahren blühender Vorfahrt 
MR. und ebenfo, ob der Betrachter dieſes, oder irgend ein anderes, 
zgeatwann und ivgenbivo lebendes Individunm ift. Und nicht allein 
ze Icit, fondern auch dem Raum fei die Idee enthoben; denn nicht 
vit re derſchwebende räumliche Geftalt, fondern ihr innerftes Wefen 
id die Idee und könne ganz das Selbe fein bei großem 

u der räumlichen Verhältniffe der Geftalt. (Vergl. Schopen: 
ya gi“: Aefthetifch und unter Idee: Die Erkenntniß ber 
zu iu Ne komme weder och Wechjel zu. Während 


ia 


191 


Individuen, in benen fie ſich darſtellt, unzähfige find und unauf- 


haltſam werben und vergehen, bleibe fie unverändert als bie eine und 
> felbe ftehen, und der Sag vom Grunde Habe für fie feine Bebeutung. 
6, Welt als Wille und Vorſtellung“, I, 200.) 
Gemäß dieſer Anficht hat Schopenhauer das dritte, die Aeſthetil 
umfaſſende Buch der „Welt als Wille und Vorftellung“ überfchrieben: 
„Die Borftellung, unabhängig dom Satze des Grundes.“ 
So wie ich aber in meinem worigen Briefe die von Schopens 
Hauer behauptete Willensfreiheit des äfthefifchen Subjects Fir 
5 feine abfolute Halten Tomte, fo kann id nun in biefem auch die 
u don ihm behauptete Nelationslofigkeit des äfthetijchen Ob— 
eets für feine abfolute anfehen. So wenig als bie äfthetifche 
Auffaffung der Dinge den Willen abſolut ausfchlieft, eben fo wenig 
ſchließt fie bie Relationen des Objects nach dem Satze vom Grunde, 
alfo nach Raum, Zeit und Caufalität, abjolut aus. So wie es dort 
nur ber perfönliche Wille ift, von dem das Erfennen frei wird, 
aber nicht der objective Wille; fo find e8 bier nur die unver 
| fentlihen Relationen, bie es verläßt, nicht aber die weſentlichen. 
Um das Schopenhaner’fche Beifpiel vom Baume beizubehalten, fo 
ift es für bie äfthetifche Auffaſſung zwar allerdings gleichgültig, ob es 
biefer Baum, oder fein vor taufend Jahren blühender Vorfahr ift; 
aber es ift nicht gleichgüftig, ob ber Baum in biefem ober jenen 
Boden wurzelt, unter biefem oder jenem Himmelsſtrich wächſt, ob er 
in diefem, ober jenem Stabium feiner Entwidelung fteht, ob er alt 
ober jung ift, ob er im biefer ober jener Umgebung fteht u. ſ. w. 
Dies find aber lauter Relationen nad dem Sa vom Grunde, nach 
Räumlichteit, Zeitlichleit und Caufalität. Sagt doch Schopenhauer 
felbſt, wo er von der Pflanze im Allgemeinen fpricht: Jede Pflanze 
ſpricht mit Naivetät ihren ganzen Charakter durch die bloße Geftalt 
ans und Legt ihn offen dar, ihr ganzes Sein und Wollen offenbarend; 
wodurch die Phyfiognomien der Pflanzen fo intereffant find. Dede 
Pflanze erzählt zumächft von ihrer Heimath, dem Mima derfelben und 
der Natur des Bodens, dem fie entfproffen iſt. („Welt als Wille 
und Vorftellung“, I, 186.) ft num bie äfthetifche Betrachtung einer 
beftimmten Pflanze etwa frei von der Auffaſſung diefer, im ber Ge» 
ftalt, dem Klima, Boden u. ſ. w. ausgefprochenen Relationen? 


7 





193 


Charakter der Dinge gehörigen und von demſelben untrennbaren 
Beziehungen, ſowohl räumlichen und zeitlichen, als caufalen. 

Uebrigens wird die Schopenhaner’fche Lehre von ven Ideen als 
den ewigen, unwanbelbaren species rerum (,„‚Welt als Wille und Bor- 
ftelfung“, IT, 414) durch die Darwin'ſche Theorie von der Ent- 
ftehung der Arten, wenn man dieſe gelten läßt, widerlegt, Schopen- 
bauer macht zwar einen Unterſchied zwiſchen Idee und Art, indem 
er fagt: „Was nun, als blos objectives Bild, bloße Geftalt, betrach 
tet und dadurch aus der Zeit, wie aus allen Relationen, heraus: 
gehoben, die Platonifhe Idee ift, das ift, empivifch genommen und 
in der Zeit, die Species, oder Art: biefe ift alfo das empiriſche 
Correlat der Idee. Die Idee ift eigentlich ewig, die Art aber von 
unendlicher Dauer; wenngleich bie Erfcheinung derſelben auf einem 
Planeten erlöfchen Fan.“ (Dafelbft, S. 415.) Aber wenn die Idee 
ewig und ihr empivijches Eorrelat, die Art, von unenblicher Dauer 
ift, fo ift nicht einzujehen, wie bie Erjeheinung derſelben auf einem 
Planeten erlöfchen fann. Die Confequenz forbert hier vielmehr bie 
unendliche Dauer der erfcheinenden Arten. Die Annahme biefer aber 
widerſtritte nicht blos der Naturwiſſenſchaft, welche die Entftehung 
neuer unb ben Untergang alter Arten bezeugt, fei es nun, baf fie 
diefelbe nach Darwin’fcher, oder anderer Theorie erflärt, ſondern auch 
Schopenhaner’s eigener Naturphilofophie, welche die Abftammung des 
Menfchen vom Affen, überhaupt das Hervorgehen höherer Arten aus 
niebern und in Uebereinftimmung mit ber ganzen modernen natur⸗ 
wifjenfchaftlichen Entwidelungstheorie bie fucceffive Steigerung der Natur 
von ber nieberften bis zur höchften Stufe lehrt. (Vergl. Schopen- 
hauer⸗ Lexilon die Artikel Natur, Generatio aequivoca, Affe, 
und unter Form: Zeitlicher Urfprung der Formen.) 

Die Schopenhaner’fche Aefthetit mit ihrer Lehre von den ewigen 
(Platonifchen) Ideen harmonirt alfo nicht mit feiner Naturphiloiphie, 
die doch im Weſentlichen Entwidelungstheorie ift. Aber ich bin 
auch der Meinung, daß bie Aeſthetil jener Annahme der Ewvigfeit der 
been ober Thpen der Dinge gar nicht bebarf. Aeſthetil kann be- 
ftehen, auch bei der Annahme der Wanbelbarkeit der Arten. Die 
Schönheit und Erhabenheit der Natur hängt nach meiner Anficht wicht 

Franentädt, Reue Briefe. 13 


194 


von ber Ewigkeit und Unwanbelbarleit ihrer Formen ab. Schön 
Pflanzen, Thiere und Menfchen kann e8 geben, auch wenn bie in 
ihnen zur Erfcheinung kommenden Typen nicht von ewiger Dauer fint. 
Das Schönfte ift ja oft das Flüchtigſte. Im Begriff der Schönhei 
liegt uur Angemeffenheit der Form zum innern Wefen ober Zwed 
ber Erfcheinung; aber daß dieſes Weſen ein ewiges, unvergängliches, 
und daher relationsloſes ſei, iſt nicht erfordert. 


197 E 
feit), cheils in ber Species (Gefchechtsticb). Zeifiches Dafein wollen 
und immerfort wollen ift Leben. Das BVerfehrte davon liegt darin, 
daß wir nicht merfen, daß biefes zeitliche Dafein, indem es gewonnen | 
auch wieder zerronmen ift, daß es feiner Natur nach flüchtig, beftand- | 
108 ift, ein unhaltbarer Schatten, ein Faden ohue Dicke, ohne Eonfir 
ftenz, eine mathematifche Linie, die auch durch unenbliche Ränge feine | 
Die gewinnt. Dies merken wir nicht, werben nicht mübe, das Sieb | 
der Danaiden zu füllen, dem Hunde im Bratenwenderrabe zu gleichen. 
Wir wähnen durch Succeffion das zu erhafchen, was nur mit Einem 
Schlage ergriffen werben kam, durch das Uebertreten ans der Zeit 
in die Ewigfeit, aus dem empirifchen ins beffere Bewußtſein. Wir 
laufen raſtlos am ber Peripherie herum, ftatt zum ruhigen Centrum 
zu dringen, Jener Grundirrthum erzeugt praltiſch Sündhaftigfeit, 
theoretiſch Mangel an Genialität, Polymathie ſtatt Philofophie.” 

Dresten 1814. „Plato Hat die hohe Wahrheit gefunden: nur bie 
Ipeen find wirkich, d. h. die ewigen Formen der Dinge, die anſchau—⸗ 
lichen ädaquaten Nepräfentanten der Begriffe. Die Dinge in Zeit 
und Raum find hinſchwindende nichtige Schatten: fie und die Geſetze, 
nach denen fie entftehen und vergehen, find nur Gegenftand der Wiffen- 
ſchaft, ebenfo auch die bloßen Begriffe und ihre Ableitung auseinander. 
Aber Gegenftand der Philofophie, der Kunft, deren blofes Material 
die Begriffe find, ift nur die Idee: die Ideen alles deſſen, was im 
Yeruftfein liegt, was als Object erſcheint, faffe alſo der Philoſoph 
auf, er ftehe wie Adam vor ber nenen Schöpfung und gebe jebem 
Dinge feinen Namen: dann wird er bie ewigen lebenden Seen in dem 
todten Begriffen nieberlegen und erftarren Taffen, wie ber Bildner bie 
Form im Marmor, Wenn er bie Idee alles beffen, was ift und lebt, 
gefunden und bargeftellt Haben wirb, wird für bie praftifche Philoſo⸗ 
phie ein Nichtſeinwollen fich ergeben. Denn es wird fich gezeigt 
Haben, wie bie Idee des Seins in der Zeit die Idee eines unfeligen 
Zuftandes ift, wie das Sein in der Zeit, die Welt, das Reich bes 
Zufalls, des Irrthums und der Bospeit ift; wie der Leib ber fichte 
bare Wille ift, der immer will und nie zufrieden fein lann; 
Feben ein ftets gehemmtes Sterben, ein Kampf | 



















© einen Biffenfoft zu erheben. on ben 





folglich nicht fo werthlos fein, wie es nach Schopenhauer’s gering: 


— 








202 


ſchichte verhalte fi) zur Poefie wie Porträtmalerei zur Hiftorienmal: 
rei; jene gebe das im Einzelnen, biefe das im Allgemeinen Bahr, 
jene habe die Wahrheit der Erfcheinung, diefe die Wahrheit ver It. 
Der Dichter ftelle mit Wahl und Abficht bedeutende Charaktere u 
bedeutenden Situationen bar, ver Hiftorifer nehme beide, wie fie Iem- 
men. Ya, er babe die Begebenheiten nicht nach ihrer innern, cchien, 
bie Idee ausbrüdenden Bedeutſamkeit anzufehen und auszuwählen, 
fondern nach der äußern, fcheinbaren, relativen, in Beziehung auf we 
Berfnüpfung, auf bie Folgen wichtigen Bedeutſamkeit. Denn jene 
Detrachtung gehe dem Sage vom Grunde nach und ergreife bie E 
jheinung, deren Form biefer fei. Der Dichter Hingegen fafje vi 
Ideen auf, das Weſen der Menſchheit, außer aller Relation, aufe 
aller Zeit. 

Sogar ben Biographien legt Schopenhauer in Hinficht auf ie 
Erfenntniß des Wefens der Menfchheit einen größern Werth bei, a 
ber Gejchichte, theils weil bei jenen bie Data richtiger und vollftir 
diger zufammenzubringen find, als bei dieſer, theils weil in ver Ge 
ihichte nicht Towohl Menjchen, als Völker und Heere agiren, und die 
einzelnen, welche noch auftreten, in fo großer Entfernung erfcheine, 
mit fo vieler Umgebung und fo großem Gefolge, dazu verhüllt u 
fteife Staatöfleiver oder ſchwere unbiegfame Harniſche, daß es ſchwer 
halte, durch alles Diefes hindurch die menfchliche Bewegung zu erken 
nen. Hingegen zeige das treu gefchilderte Yeben des Einzelnen, in einer 
engen Sphäre, die Handlungsweife der Menſchen in allen ihren Ru: 
ancen und Geftalten. Dabei fei e8 ja in Betreff der innern Beden⸗ 
tung des Erfcheinenden, auf die c8 doch allein anfomme, ganz gleid- 
gültig, ob die Gegenftände, um die ſich die Handlung dreht, relativ 
betrachtet, Kleinigkeiten oder Wichtigleiten, Bauerhöfe oder Königreick 
find; denn alles Diefes, an fi ohne Bedeutung, erhalte folche nur 

durch feine Beziehung zum Willen. Wie ein Kreis von einem Zoll 
Durchmeſſer und einer von 40 Millionen Meilen Durchmeffer viefelben 
geometrifchen Eigenfchaften vollſtändig haben, fo jeien die Vorgänge 
und die Gefchäfte eines Dorfes und die eines Reiches im Wefentlichen 
biefelben, und man könne am einen wie am andern bie Menſchheit 
ſtudiren und kennen lernen. 


Plan waltet, der bie ganze Entwidelung beftimmt 
es don Werth fein, die Vergangenheit: zu lennen, um a 
Gegenwart zu deuten und aus beiben die Zukunft zu amt 
Hänger, ſchwerer und verworrener Traum ift der Rüderinnerung 
werth und. Käft feine Deutung zu. 










Können nicht beftehen. _ Freilich Tiefe fih dom 

Standpunfte aus erwidern, die Rückerinnerung an ben 

ven und veriworrenen Traum der Menfchheit fei darum wertfvoß, 
weil durch diefe Nüderinnerung eben die Menfchheit es fi zum Be- 
wußtſein bringe, daß fie bisher geträumt habe, und dieſes Bewußtfein 
die Bedingung zum Erwachen fei. Mit andern Worten: Das Ber 
wußtwerden bes Unheils, welches die in der Gefchichte zur Erſcheinung 
Tommende Bejahung des Willens im Gefolge Habe, fei die Selbft- 
erlenntniß des Willens im Spiegel der Gefchichte, und diefe Selbft- 
erlenntniß fei die Bedingung zur Verneinung des Willens, in welcher 
allein das Heil zu finden. „Der Wille allein ift. Seine Selbjt- 
erlenntniß und darauf fich entjcheivende Bejahung oder Verneinung ift 
die einzige Begebenheit am ſich.“ 

So freilich wäre ber oben bemerkfich gemachte Widerſpruch im 
Sinne Schopenhauer's gelöft. Der Werth der Gefchichte würde dann | 
darin beftehen, daß fie zur Erlenntniß der Werthloſigleit und Ver- | 
werflichleit des ganzen gefchichtlichen Thuns und Treibens und bamit 
zur Anfgebung und Aufhebung ber Gefchichte, zum Nirwana, führt. 

Daß biefe Anficht ein nothwendiges Ergebnif ber Schoperhauer. 
ſchen Grundgedanlen mit ihrem den metaphyſiſchen Gegenfat bes 
Ewigen und Zeitlichen in einen moraliſchen Gegenſatz verwandelnden 
ea en be a a 


: 
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j 
- 
5 
1 

Il 

Ba 











Sechsunddreißigſter Brief. 
Ernit Otto Lindner's Kritit der Shopenpauerden Aeſthetil. 





Eine eigenthümliche und beachtenswerthe, gewiſſermaßen ergän— 
zende Stellung zur Aeſthetil Schopenhauer's hat einer feiner eifrigſten 
Anhänger, Ernft Otto Lindner, ber Verfaffer der „Vertheidigung“ 
Schoperhauer’s in dem von mir nach feinem Tode herausgegebenen 
Memorabilienwerf: „Arthur Schopenhauer. Von ihm, über ihn 
u. ſ. w.“, eingenommen. 

Bei allem Eifer, den Lindner für Schopenhauer an ben Tag 
fegte, war er doch leineswegs ein unfelbftändiger Anhänger des- 
felben. Er war nicht, wie die Schüler Hegel’s und anberer philofo- 
phiſcher Meifter, in ben Banden des Shitems gefeffelt, ſondern 
bewegte fich frei. Ueberhaupt ift dieſes das Kennzeichen der Schüler 
Scopenhauer’s, wodurch ſich diefelben vor den Schülern anderer Phir 
loſophen vortheilhaft auszeichnen, daß fie bei aller Verehrung bes Mei- 
fters und bei aller Anhängerfchaft doch auch ihren eigenen Kopf Haben, 
Es gereicht dies ebenfo dem Meifter, wie den Schülern zur Ehre, 
Ein Selbftbenfer, wie Schopenhauer war, lonnte feine Schüler nicht 
zu Nachbetern machen, fondern mußte in ihnen das Selbſtdenlen weten, 
mußte befreiend auf ihren Geift wirken. | Y einen 

Schriften 






LEE BEE 75 u un) Eu 7— 
„m... -. -_. 


214 


„Aeſthetik ver Tonkunſt“ zu fchreiben, zu ber er als grünblicher Mıfl 
fenner befonders befähigt war. Aber e8 kam nur zu einer Sum 
lung von Abhandlungen, die unter bem gemeinfchaftficyen Titel „Zr 
Tonkunft“ erft nach Schopenhauer’8 Tode erfchienen (Berlin, Gut: 
tag, 1864). 

In tiefer Sammlung nun iſt das bedeutendfte und umfangradk 
Stüd die Schlußabhanplung: „Leber künſtleriſche Weltanſchaum 
(11 Druckbogen ftark), und in biefer Abhandlung hat Lindner Schepa 
hauer's zehn Jahre früher ausgefprochenen Wunſch, feine Mietaphet 
ber Muſik zu berüdfichtigen, erfüllt. Ya, Lindner Hat in biefer % 
handlung nicht blos Schopenhauer’s Metaphyſik der Muſik, fenen, 
ba dieſe mit deſſen Metaphufif des Schönen und der Kunſt ie 
haupt zufammenhängt, auch biefe im Ganzen berüdfichtigt und eim 
Prüfung unterworfen. j 

Der eigentliche Gegenftand der Abhandlung ift Die Geneſis da 
fünftlerifhen Weltanfchauung, ihr Urfprung aus tem Leben, am 
dem Eindruck, den das Leben auf Geift und Gemüth macht. 

Wer über künftlerifche Weltanſchauung fchreibt, kann Diefelbe nad 
ihrem Inhalt und nach ihrer Form betrachten. Lindner betrachte jr 
nach beiden: vorzugsweiſe ift e8 aber boch der Inhalt, ver ihn fd 
jet. Man findet baber bei ihm feine Unterſuchungen über if 
Schöne und Erhabene, wie fie fonft in Aeſthetiken üblich find, fer 
bern in ber Erwägung, daß es das Leben ift, was bie Zunft ver 
ftellt, Tegt er feiner Unterfuhung die Frage zu Grunde? Was ft 
bas Xeben? „Iſt das Wefen und bie Bedeutung Des Kebeng richtig 
erkannt, fo wird es auch weniger ſchwierig fein, die einzelnen Erſchei 
nungsformen beffelben und ihre Fünftlerifche Darftelung zu erklären 
geht man aber nicht auf biefen Punkt ein, dann wird es kaum miy 
lich fein, über bloße Gefühlseindrüde und mehr oder weniger willfür. 
liche Borftellungen hinauszukommen.“ 

Nun Führt Lindner aus, daß weder der Materialismus, noch der 
Spiritualismus uns eine verftändliche Antwort auf Die Frage nad 
dem Wefen und der Bedeutung des Lebens geben, fonvern lediglich 
die Erfahrung, die der Menſch von ſich und ſeinem Verhaältniß zu 
Welt macht. „Der Menſch hält das Leben für das, was er von ihn 
erfährt. Dieſe Erfahrung, wodurch er ſich und die umgebende Wel 





fprechend? Lindner erwidert hierauf, daß, fo verſchieden auch bie eins 
zelnen Sätze, ja ganze Syſteme Lauten mögen, durch bie ſich bie 
Menſchen bie Erfahrung auslegen, doch überall eine und biefelde Er 
fahrungsart ſich geltend macht und gewiffe grundweſentliche Erfah 
rungen von Jedem gemacht werben müſſen. 

Jedes Wefen, fo lehrt nach Lindner die Erfahrung, ift bereits 
bei feinem Cintritte in bie Welt ein beſtimmtes, von andern inter» 
ſchiedenes, und der Zweck feines Lebens iſt zunächft nur ber, biefe 
feine beftimmte Art zur Geltung zu bringen, ſich auszuleben, ober, 
wie man auch jagen Könnte, fein Leben zu genießen, indem es fich 
zeitlich und räumlich entfaltet. Jedes Wefen bringt vermöge feines 
zeitlichen Lebens fein Sein zum Dafein; auf biefer feiner Selbſt-⸗ 
bethätigung beruht fein Wohlbefinden, und je ungehinberter, ungeftörter 
es ſich ausleben lann, befto mehr erſcheint ihm das Leben als höchftes, 
ja als einziges Gut. 

Diefer Grundzug geht, wie Lindner zeigt, durch bie ganze Natur. 
„Altes, was ins Leben der Erſcheinungöwelt eingeht, ſtrebt 2. nur 








216 






weniger Bewußtfein, als unfehlbar, unbebingt bereditigt ud m; 
betrachten — das ift das wefentlihe Kennzeichen alles Lebenix 
Jedes Wefen, das in der Erfcheinungswelt auftaucht, fuct zuiät 
und vor allen eben fich felbft zum Dafein zu bringen, fucht geriſte 
maßen fich felber, und als der Grunbzug alles Lebens erſchem r 
nach rein und ohne alle fchlinnme Nebenbebeutung die Selbitjud‘ 

Aber bald macht jedes Selbft die Erfahrung, daß boch dus Ye 
nicht fo ſchön ift, wie es in feinem natürlichen, unbefangenen Tr 
mismus anfangs glaubte Der Menfh wird gar bald aus vem fr 
rabiefe, in dem er anfangs lebt, vertrieben. Das goldene Zeitahr 
nimmt gar bald ein Ente. Denn was das Selbft fucht, wem # 
fich ohne weiteres vollkommen berechtigt glaubt: Die Befriedigung je 
nes DBerlangens, die Bejahung feiner Bebürfniffe, Die nie verfagente 
Mittel zur Erfüllung feines natürlichen Dafeing — welchem Weje 
würde dies je völlig zutheil! Daffelbe Leben, in welches das Einzix 
bineintritt, in welchem es fich zum fröhlichen Dafein entfalten wi, 
hemmt fein Emporblühen, droht allerwegen mit Hinvderniffen, venrer 
beit bie Freuden bes Genuffes in Qualen der Entbehrung und jet 
an Stelle fortvauernd erhöhter Bejahung der Selbftfucht vie entſchi 
benfte Verneinung berfelben: den Tod. 

Daher fchlägt dann der anfängliche Optimismus ſo leicht u 
Peſſimismus um, in jene Klagen, tenen Hiob, Sophokles und anker 
Dichter der alten und ber neuen Zeit fo ergreifenden Ausdruck ge 
geben. Lindner citirt mehrere derartige poetiſche Herzensergießunge 
über bie Nichtigkeit und ben Jammer bes Lebens und fügt dann hinzu: 
„Es find dies alles Gedanken, die in einer oder der andern Weil 
an jeben Lebenden gelegentlich herantreten. Jeder macht Die Erfab: 
rung, daß das Leben in ben meiften Fällen nicht hält, was es ;u 
verfprechen ſcheint; Alter und Tod verfchont Keinen, den körperlichet 
Schmerzen gefellt fih Enttäufhung und Kummer ber verfchiebenita 
Art, und daraus entwidelt ſich eine ber erfterwähnten völlig ent 
gegengejette Weltanſchauung: Die Welt ift nicht gut, ſondern ſchlecht 
bas Leben fein Gut, fondern ein Uebel, das ganze Dafein der Müb 
nicht werth, bie man fi) darum giebt; das einzig Nichtige ift dem 
nad das Einfchlagen eines Weges, der am ficherften wieder aus b 
Leben Hinausführt.” 

















214 


„Aeſthetik der Tonkunſt“ zu fehreiben, zu ber er al8 grünblicher Muftl: 
fermer befonvers befähigt war. Aber e8 fam nur zu einer Som: 
lung von Abhandlungen, die unter dem gemeinfchaftfichen Titel „Zur 
Tonkunſt“ erft nach Schopenhauer's Tode erfchienen (Berlin, Gutten- 
tag, 1864). 

In tiefer Sammlung nun ift das bebeutendfte und umfangreicfte 
Stüd die Schlußabhandlung: „Ueber Tünftlerifche Weltanfchauumg“ 
(11 Druckbogen ſtark), und in biefer Abhandlung hat Lindner Schoper 
hauer's zehn Jahre früher ausgefprochenen Wunfch, feine Metaphyſi 
ber Muſik zu berüdfichtigen, erfüllt. Ia, Linpner Hat in biefer A: 
Handlung nicht blos Schopenhaner’s Metaphyſik ver Muſik, fonvern, 
ba biefe mit deſſen Metaphyſik des Schönen und der Kunft übe: 
haupt zufammenhängt, auch biefe im Ganzen berüdfichtigt und einer 
Prüfung unterworfen. 

Der eigentliche Gegenftand der Abhandlung ift Die Gencfis ver 
fünftlerifchen Weltanfchauung, ihr Urſprung aus tem Leben, au 
dem Eindruck, den das Leben auf Geift und Gemüth macht. 

Wer über künftlerifche Weltanſchauung fchreibt, kann dieſelbe nad 
ihrem Inhalt und nad ihrer Form betrachten. Lindner betrachtet jie 
nach beiden: vorzugsweife ift es aber doch ber Inhalt, ver ihn feſ— 
jet. Man findet daher bei ihm feine Unterſuchungen über das 
Schöne und Erhabene, wie fie fonft in Aeſthetiken üblich find, fen- 
bern in ber Erwägung, baß c8 das Leben ift, was Die Kunft var- 
ftelit, Tegt er feiner Unterfuchung die Yrage zu Grunde? Was ift 
bas Leben? „ft das Weſen und die Bedeutung des Lebens richtig 
erfannt, jo wird es auch weniger ſchwierig fein, bie einzelnen Erſchei— 
nungsformen befjelben und ihre Fünftlerifche Darftellung zu crflären; 
geht man aber nicht auf biefen Punkt ein, bann wird c8 kaum mög— 
(ich fein, über bloße Gefühlseinprüde und mehr oder weniger willfür- 
liche Vorftellungen hinauszukommen.“ 

Nun führt Lindner aus, daß weder der Materialismus, noch der 
Spiritualismus uns eine verſtändliche Antwort auf die Frage nach 
dem Weſen und der Bedeutung des Lebens geben, ſondern lediglich 
die Erfahrung, die der Menſch von ſich und ſeinem Verhältniß zur 
Welt macht. „Der Menſch hält das Leben für das, was er von ihm 
erfährt. Dieſe Erfahrung, wodurch er ſich und die umgebende Welt 





216 


weniger Bewußtfein, als unfehlbar, unbebingt berechtigt und gut a 
betrachten — das ift das weſentliche Kennzeichen alles Lebenbigen. 
Jedes Wefen, das in der Erſcheinungswelt auftaucht, fucht zunädit 
und vor allem eben fich felbjt zum Dafein zu bringen, fucht gewiſſer⸗ 
maßen fich felber, und al8 ber Grundzug alles Lebens erfcheint je 
nach rein und ohne alle fchlimme Nebenbeveutung die Selbitfudt“ 

Aber bald macht jedes Selbft die Erfahrung, daß Doch das Yeba 
nicht fo fchön ift, wie es in feinem natürlichen, unbefangenen Opti: 
mismus anfangs glaubte Der Menſch wirb gar bald aus tem Pr 
radieſe, in dem er anfangs lebt, vertrieben. Das goldene Zeitalte 
nimmt gar bald ein Ende. Denn was das Selbft fucht, won di 
ſich ohne weiteres vollfommen berechtigt glaubt: die Befriedigung fer 
nes Verlangens, die Bejahung feiner Bebürfniffe, die nie verfagenten 
Mittel zur Erfüllung feines natürlichen Dafeins — welchem Weſen 
würbe dies je völlig zutheil! Daffelbe Leben, in welches das Einzeln 
bineintritt, in welchen es fich zum fröhlichen Dafein entfalten wil, 
hemmt fein Emporblühen, droht allerivegen mit Hinderniffen, verwen 
belt die Freuden des Genuffes in Dualen ber Entbehrung und fek 
an Stelle fortvauernd erhöhter Bejahung der Selbftfucht vie entſchie 
benfte Verneinung derfelben: ven Tod. 

Daher fchlägt dann der anfängliche Optimismus fo Teicht in 
Peffimismus um, in jene Klagen, denen Hiob, Sophokles und andere 
Dichter ber alten und ber nenen Zeit fo ergreifenden Ausprud ge 
geben. Lindner citirt mehrere derartige poetijche Herzensergießungen 
über bie Nichtigkeit und ben Sammer bes Lebens und fügt dann Binzu: 
„Es find dies alles Gedanken, die in einer ober ber andern Weile 
an jeden Lebenden gelegentlich herantreten. Jeder macht die Erfah 
rung, daß das Leben in ben meijten Fällen nicht hält, was es zu 
verjprechen ſcheint; Alter und Tod verfchont Keinen, ben Törperlichen 
Schmerzen gejellt fich Enttäufchung und Kummer ber verſchiedenſten 
Art, und baraus entwidelt fi) eine ber eriterwähnten völlig ent: 
gegengefegte Weltanfchauung: Die Welt ift nicht gut, fondern ſchlecht, 
das Leben fein Gut, fondern ein Uebel, das ganze Dafein ver Mühe 
nicht werth, die man ſich darum giebt; das einzig Richtige ift dem- 
nah das Einfchlagen eines Weges, der am ficherften wieder aus dem 
Leben hinausführt.“ 


217 


An fhärfften tritt dieſer Peffimismmus im Bubbhaismus auf, ber 
ſich im dem Gegenfage von Sanfara und Nirwana bewegt. Min- 
der ſcharf tritt ber Gegenfag von Bejahung und Verneimung in ber 
geiechifch-römifchen Weltanfhauung auf, in welcher die vergänglichen 
Güter des Lebens gefchieden werben von dem höch ſten Gut, weldes 
im Allgemeinen in der männlichen Hingabe an ben Staat, unter Ueber- 
windung individueller Empfindungen und Begehren, ſowie in bem uns 

ſterblichen Nachruf und dem Aufenthalt der Verftorbenen am Sige 
I ver Seligen befteht. Das Chriftenthum ift durch feine Betonung ber 
Sinmesläuterung, der Reinheit des Merzens, der Barmperzigfeit und 
Nächitenliebe dem Buddhaismus verwandt. Es führt folgerichtig zur 
vöolligen Weltentfagung, zur Affefe, zum Mönchsthum. 
| „Was aber“, fragt Lindner nach Durchmufterung. der derfchiebe- 
‚men Welt- und Lebensanſchauungen, „zeigt ſich überall als der Kern 
| jener (wie aller) Weltanſchauungen? Daß das ummittelbare ſelbſtiſche 
„Leben im Leben felber, während es feine Befriedigung fucht, auf Vers 
„meinung ftößtz die Genüffe und Freuden haben Feine Dauer, gewähren 
‚micht die erwartete Befriedigung; Leiden und Schmerz find ihr um- 
vermeidliches Gefolge, und es bedarf einer Erhebung über die 
Selbſtſucht, um dauernden Frieden, untrügliches Glück zu erlangen. 
Das Leben iſt ſomit ein Kampf, als deſſen Ziel die ſittliche Erhebung 
über die Selbftfucht erſcheint. 
5 Mehr oder weniger fei dies ber Inhalt jeder religisfen Welt- 
euſchauung. Die mythiſche Verſchiedenheit der Religionsſhſteme bes 
„rühre das Praltiſche nicht. Selbſtſüchtig handeln gelte überall für 
ſgieht Ueberwindung der blinden Begierden und Leidenſchaften, Vers 
' — bes ſelbſtiſchen Wollens in Wohlwollen überall für gut, 
„Bejahung des unmittelbaren Daſeins, der urſprünglichen Selbft- 
| fucht, — Verneinung berfelben in Erfahrung von Leid und Schmerz, 
, Kranffeit und Ted, — Erhebung über beides durch Brechung bes 
| Eigentillens und bamit ein neues Dafein, eine neue andere Be— 
 jahung der Welt, das ift der Inhalt des Lebens. Das Leben ift 
der fittlide Proceß des Einzelnen wie der Gejammtheit.“ 

Dies ift nad) Lindner die allgemeine Erfahrung von dem, was 

" pas geben fei, die Erfahrung, weiche das Leben felber einem eben. 
I entgegenbringt, mag das Dogma feiner Religion, feiner 





218 


noch fo verfchieven lauten. Eine theoretiihe Erklärung ver Welt ſei 
bisher ſtets mißrathen; praftifch Hingegen ſei das Räthſel gelöft ven 
Anbeginn an, wiewohl Jeder für fi von neuem es zu Iöfen hate. 
Daß dem fo fei, daß das Leben feiner innerften Natur nach eine fitt- 
liche Aufgabe, nicht ein Verſtandesräthſel ftelle, das bebürfe keiner 
fünftlichen, weit bergebolten Beweiſe. 

Die Erfahrung, die wir über unfer eigenes Wollen und fein 
Verhältniß zur Außenwelt machen, geftalte fih nah und nach zu einer 
mehr oder weniger umfafjenden Weltanfchauung im Großen und Gan- 
zen, unb hierauf beruhe es, daß biefelbe niemals eine bloße Natır: 
wifjenfchaft fein könne, fonbern ſtets auf bie Frage nach dem fittlichen 
Endzweck hinauslaufe. Da aber die Erfahrung eben nur allmälig zu 
Stande komme, fo fei Har, daß die Weltanfchauung jebes Einzelnen 
vermöge ber Erfahrung fo lange einer ftetigen Umbildung unterworfen 
fei, als er über das Wefen und die Beichaffenheit des Lebens zweifel- 
haft bleibe, ober nur feinem Eigenwillen nachlaufe; ganz abgejchen 
von ber Eigenthümlichkeit eines Jeden in Bezug auf feine befonvern 
Reigungen wie auf den Grad feines Erfenntnißvermögens. Je nah 
dem Grade der Bildung müffe der gefammte Vorftellungstreis des 
Einzelnen unendliche Verſchiedenheiten an fich tragen. Derſelbe Menid 
ſehe die Welt anders an als Knabe, ale Mann und Greis; bus 
Weib anders, als der Mann; ganze Gefchlechter, ganze Völker weichen 
wefentlich von einanber ab. „Nichtsdeſtoweniger wird Jeder durch bie 
unmittelbarfte Erfahrung über die Nichtigleit des bloßen Cigenmwillene 
durch Schmerz und Leiden aufgeflärt, und die Orundfrage des Lebens: 
was ift gut? allenthalben praftifch, d. h. ohne Rüdficht auf die Form 
der Erfenntniß, übereinftimmend in bie Selbftüberwindung gefekt. 
Hier, inmerhalb unjers eigenjten Weſens allein, ijt ein wirklicher Ab- 
ſchluß der Erfahrung möglich; nach außen Hin gerichtet, lediglich als 
ver Kreis unferer Vorftellungen betrachtet, ift die Reihe der Wahrneh: 
mungen endlos, in fteter Veränderung begriffen, und eine fertige 
Wiffenfchaft dafür giebt e8 nicht. Die Frage bes Pilatus: Was ift 
Wahrheit? hat daher zu aller Zeit nur in Betreff der Wahrhaftig⸗ 
feit, d. h. der Tugenphaftigfeit, der fittlichen Güte des Menſchen cine 
ebenfo einfache, als allgemein verftänvliche Antwort erfahren; in Be 
zug auf das Wiffen aber ift diefelbe vermöge ber in fortwährenbem 


219 


Wechſel befindlichen, in unficerer Begrenzung ſchwanlenden Borftel- 
Lungen nie vollftänbig zu erlebigen.“ 

Ich übergehe die pſhchologiſchen Erörterungen, durch die Lindner 
in einem befondern Abfchnitt die allmälige Entwidelung des Einzelnen, 
das Werben und Wachfen des Selbſt- und Weltbewußtfeins, zu zeigen 
fucht, wobei er mit Schopenhauer auf die Anfhauung als das Fun- 
dament aller Erleuntniß großes Gewicht legt, ſowie auch ven Einfluß 
des Willens auf ben Imtelfect darlegt. Ich lomme zur Hanptfache, 
zur Ableitung dev Künftlerifchen Weltanfhauung aus ber Lebenserfahs 
rung, aus der Erfahrung von ber fittlichen Bedeutung des Lebens, 

Die Lebenserfahrung geftaltet ich zumächft zu einer Religion. 
Der Menfh, der nur durch die Erfahrung nach und nach mit fich 
ſelber befannt wird, fucht eine Urfache, fucht nach einen Erfärungs- 
grunde feines Schidfals, durch die Borftellung eines fremden, ihn 
und die umgebende Welt beeinflufenden Willens. Diefe Vorftellung 
bifvet den Abſchluß feiner gefammten Weltanſchauung; alle einzelnen 
BVorftellungen, die er von fich und ber Welt nach und nach gewonnen 
hat, erhalten dadurch einen allgemeinen, auf die innere (moralifche) 
Befchaffenheit der Welt bezüglichen Hintergrund, Und, ber Bildungs- 
ftufe des Geſchlechts eutſprechend, bildet diefe Grundlage einer bes 
ſtimmten Weltanſchauung feine gemeinfchaftliche Ueberzeugung. Diefe 
Ueberzeugung aber wird den Nachgeborenen gegenüber Tradition, 
Ueberlieferung, fie werben in eine beſtimmte Weltanſchauung hinein- 
geboren, und diefer Vorftellungsfreis wirkt von vornherein aufer- 
ordentlich ein auf die Art ihrer Vorftellungsweife überhaupt. 

Feſie Geftalt aber, eine beftimmte Form, vermöge deren fein 
Inhalt Gemeingültigleit und die Möglichleit der Uecberlieferung ex- 
Tangt, biefes gewinnt jener gemeinfame Vorftellungsfreis mr dadurch, 
daß er aus bem beweglichen Fluffe innern Vorſtellens und Empfin- 
dens in bie feftbegrenzte Form gegenftänblicher Vorftellung gebannt 
wird. Die burch bie gegenftändliche Welt gewonnenen Anfchanungen, 
das dadurch gewvedte Bervuftfein des Menfchen von fich felbſt amd 
ver Gegenftändlichfeit, werben vermöge ber Ein bildungskraft zu einer 
angeblich objectiven Weltanſchauung geftaltet, bie ihrerfeits für vie 
allein wahre und wirkliche Darftellung ver Welt gelten will. Dieſe 
Geftaltung aber, dieſes Formgeben umd Firiren ift micht das gemein- 


220 


fame Werk der Gejellfchaft; fie liefert nur die Elemente, das Mate 
rial dazu; — nein, jene® objective Anfchauen der fubjectiven Welt- 
anfchauung ift Sache einer geftaltungsfähigen, fchöpferifchen 
Einbildungskraft, welche in hHervorftechendem Maße eben nur als 
Eigenfchaft einzelner Menfchen fich geltend macht. Der Dichter 
ift e8, der den gefammten Gebankeninhalt feiner Zeit geftaltend zu: 
fammenfaßt und für feine Zeitgenoffen in gegenftänbliche Form bringt, 
ſo daß fie fich felbft darin wieverfinden, ihrer eigenen Weltanfchaums 
ſich dadurch Harer bewußt werden. Der Stoff ift durch Die Gemein 
ſamkeit Aller hernorgebracht, die bleibende Geftalt verleiht ihm bie 
bichterifche (verdichtende) Einbildungskraft eines Einzelnen. Hieraus 
erflärt fi, warum man fagen Tann: die Dichter find bie erften 
Lehrer des Menſchengeſchlechts, und fie haben ihm feine Götter ge- 
macht. J 

Was aber von der Dichtung, das gilt nach Lindner auch von 
den andern Arten fchöpferifcher Einbildungskraft. Gegebener Inhalt 
erhält Form; biefer Inhalt befteht in dem, was ber Menſch von fid 
und ber Welt vernommen; bie Form aber beruht in ber Umbildung 
jenes vernünftigen Inhalts in beftimmte Vorftellungen. Die Einbil- 
dungskraft des Dichters und Künftlers faßt die gefaminte innere Bar: 
ftellungswelt, in ver Bilder und Gedanken undeutlich durcheinander⸗ 
wogen, und giebt ihr eine den Anfchauungen der wirklichen, gegen: 
ſtändlichen Welt ähnliche Beftimmtheit der Form. Sie ift alfo Feine 
bie äußere Welt nachahmende, fondern eine [höpferifche Thätig- 
feit; fie fchafft eine zweite, neue Welt, inde fie, was im Innern des 
Menſchen als Refultat feiner gefammten Erfahrung und Erfenntnif 
lebt, gegenftänblich, in beftimmter Geftalt, zur Anſchauung bringt. 
Lindner ehrt daher das Goethe'ſche Wort: 


Und was in ſchwankender Erfeheinung ſchwebt, 
Befeftiget mit dauernden Gedanken 


um, indem er fagt: „Die ſchwankenden Gedanken werben in dauernder 
Erſcheinung befejtigt.” 

Die alfo wirkende fchöpferifche Einbildungskraft ift nach ihm 
bie Fünftlerifche, und Kunft im Allgemeinen ift das Vermögen, bie 
innere, gebanfenhafte Weltanfchaunung in bie anfchauliche Gegenftänd- 


Tichfeit beſtimmter Vorftellungen umzubilven, oder: anſchauliche Ge- 
danlen zu ſchaffen. Das Wefen der Kunſt als ſolcher, im Gegenfag 
zu anbern Thätigfeiten des bewußten Menſchen, ift daher nach Linduer 
in die Formgebung zw fegen; nicht einen neuen, bis dahin uner⸗ 
hörten Inhalt bringe die Kunft hervor, ſondern einen bereits vorhau⸗ 
denen Inhalt menfchlichen Bewußtſeins geftakte fie in anſchaulicher 
Form und ftelle ſomit dem Menfchen feine eigene Weltanſchauung als 
gegenftänbfiche Vorftellung gegenüber. 

Bei dieſer Formgebung ift die künſtleriſche Tätigkeit an bie brei 
Grundformen bes menſchlichen Vorftellens: Raum, Zeit und Cauſa⸗ 
lität, gebunden; denn aus biefen kaun ber Menſch überhaupt, aljo 
auch der Künftler, nicht herans, Was bie Vernunft als Ergebniß der 
GSefammterfahrung allgemein Hinftellt, das Erzeugniß ber zeitweiligen 
Bildung, — das wandelt bie künſtleriſche Einbilbungsfraft vermöge 
jener drei Grunbformen in anſchauliche Geftalten um, nicht aber in 
ſolche, welche den Erſcheinungen der Außenwelt durchweg entfprächen, 
einen Abllatſch der Wirklichkeit gäben, fondern in folche, die den Inhalt 
des menfchlichen Bewußtſeins durch ihre durchſichtigen Formen hin- 
durch erlennen Lafjen. 

Ich kann nun Lindner Hier nicht in die Ableitung ber einzelnen 
Künfte aus ben drei Grundformen: Naum, Zeit und Caufalität, 
folgen, obwohl es in dieſem Theile feiner Abhandlung an treffenden 
Bemerkungen nicht fehlt. Mir war es Hier nur darum zu thum, feine 
Grundanficht von der Kunft und ber künſtleriſchen Weltanſchauung 
darzuſtellen. 

Vergleichen wir dieſe Anſicht mit der Schopenhauer'ſchen, fo fiu— 
ben wir einen bemerfenswerthen Unterſchied. Schopenhauer's Kunſt⸗ 
auffaffung Fnüpft ſich an feine Lehre von den (Platonifchen) Ideen 
als den allgemeinen, babei aber doch durchgängig beftimmten und an 
Thaulihen Wefenheiten der Dinge, Diefe find es, bie uns bie 
Kunft zur Anſchauung bringt, und demgemäß ift bie Kunft, wie bie 
Phitofophie, eine Lehrerin der Wahrheit; denn fie bringt uns, wenn⸗ 
gleich in einem andern Material als die Philoſophie, nämlich nicht in 
Begriffen, fondern in anſchaulichen Geftalten das wahre mb 
eigentliche Wefen der Welt zum Bewußtſein. Lindner dagegen faßt 
die Kunft mehr gefchichtlich auf. Ihm ift fie bie Verförperung des 


x 


222 


jevesmaligen Welt- und Selbitbewußtfeins der Menſchheit, alfo nid 
eine Lehrerin ber objectiven Wahrheit, fondern eine Darftellerin ve 
jubjectiven Bewußtfeinsinhalte. Schopenhauer faßt die Kunft au 
nach bem, was fie fein foll; Lindner Hingegen nach dem, was ſie 
factifch ift; jener faßt fie nach ihrer Idee, diefer hingegen nach ihra 

geſchichtlichen Wirklichkeit auf. 

Diefe doppelte Auffaffung läßt aber auch jedes andere Gehin 
geiftiger Tätigkeit zu. Auch die Religion, auch die Philofophie, aud 
bie Wiſſenſchaft kann entweder nach ihrer Idee, nach dem, was fir 
fein ſoll und was fie in ihrer Vollendung ift, oder nach ihrer ge- 
ſchichtlichen Entwidelung aufgefaßt werben. Beiderlei Auffai 
jungen müſſen fich, dünkt mich, ergänzen. Man hat ftets die geſchicht 
liche Wirkichleit von der Idee ber Sache zu unterfcheiden und jew 
an diefer zu meſſen. 

Ich kam daher in der Lindner'ſchen Kunftauffaffung nicht em 
Widerlegung der Schopenhauer'ſchen, ſondern nur eine Ergänzung 
berjelben fehen. Es ift, wie wenn mir Einer jagt: Die Philofopkt 
ift Erfenntuiß der Wahrheit, und nun ein Anderer fommt und fag: 
Die Philofophie ift, was bie Philofophen für wahr Halten. Ina 
Ipricht von ber Philofophie nach ihrer Idee, biefer von ihr nach ihrer 
geichichtlichen Wirklichkeit. Hat Lebterer den Erſtern wiberlegt? 
Nein, denn er hat von ber Sache nach einer ganz andern Beziehus 
gefprochen. So hat denn auch Lindner Schopenhauer’s Kunſttheori 
nicht widerlegt, fondern hat von ber Kunft nur nach einer andern Be 
ziehung als Schopenhauer gefprochen. Schopenhauer Hat Recht, vie 
Kunft nach ihrem wahren Wejen, aber auch Lindner Hat Recht, die 
Kunſt nach ihrer gefchichtlichen Erjcheinung zu befiniren. 

Doch Lindner faßt die Kunft nicht blos im Allgemeinen von einem 
andern Stanbpunft aus auf, als Schopenhauer, ſondern er polemiſin 
auch im Einzelnen gegen biefen. Die Schopenhauer’fche Ideenlehrt 
mit ihrem angeblichen Nunc stans der Platonifchen Ideen will ihm ; 
nicht in den Sinn. Er nennt das „Nunc stans der angeblicen 
Ideen“, mit denen die Kunft zu thun haben foll, eine „völlig unfaß 
bare Annahme.” Schon in feinem dem Werke „Arthur Schopenhauer. 
Bon ihm, über ihn‘ einverleibten „Wort ber Vertheidigung“ fagt a 
(S. 129): „Die ganze Ideenlehre Schopenhauer’s ift meiner Anfic 


nach unhalthar, und zwar darum, weil Schopenhauer das Weſen der 
Phantafie fo gut wie gar wicht unterſucht Hat, dagegen hier im deu⸗ 
felben Fehfer abftracter Gonftruction verfaffen ift, den er an Andern 
mit Necht fo Bitter tadelte.“ 

Lindner vermißt an ben „Ideen“ die Bejtimmtheit, die doch 
das Weſen jeder künſtleriſchen Darſtellung fei. Selbſt Schopenhauer 
hebe hervor, daß es das Auszeichnende der Idee der Menſchheit, alſo 
der höchſten auf der Stufenleiterxter Ideen ſei, daß in ihr der Im- 
dividunlcharafter mehr als anf den imtergeorbneten Stufen her- 
vortrete, bie Kunſt alſo Hier nicht mehr den bloßen Gattungs-, ſondern 
den Individualcharaller darzuftellen habe. Zwiſchen Schopenhauer’s 
Ideenlehre und feiner Pehre vom Individualcharalter fei daher ein 
Widerſpruch. Selbſt diejenige Kunft, welche nach Schopenhauer bie 
alfgemeinfte, bie unbeftimmtefte, weil die Willensbeweguugen amt nit 
mittelbarften darftelfende ift, die Tonfunft, drücke nicht, wie Schopen- 
hauer behauptet, die Freude, die Betrübnig, das Entfegen ze. in 
ihrer abftracten Allgemeinheit aus, ſondern eine ganz beftimmte 
Freude, Betrübniß ꝛc. „Wie Hätten wir uns Freude, Betrübniß ıc. 
vorzuftellen im Willen an fh, d. h. bevor wir ihn als Eigenwillen, 
als beftimmtes Inbividinm finden? Es ift Mar, daß hierauf gar feine 
Antwort möglich ift, ſondern die Freude, die Betrübniß find eben 
nichts weiter, als der allgemein menſchliche Ausdruck der Freude, der 
Betrübuiß. Nun aber Haben wir bereits bemerkt, daß auch diefe Zur 
ftände, dieſe Stimmungen erfahrungsgemäß ſehr verſchieden fin, bie 
nindliche Freude wird von dem ftürmifchen Piebesjubel, von dem Be— 
hagen ber Weinfeligfeit am und für fich fehr verſchieden fein, — wo 
aber in alfer Welt, im welchem Tonwerfe wäre die Freude, das 
Entfegen 2c. aucgeſprochen? Es iſt bezeichnend, daß Schopenhauer 
gerade Roffini als ben Hauptbarflelfer ber ber Dufil eigenen 


alferbings allgemein, aber auch gar ſehr oberflächlich, und 
di tanti palpiti in Wirllichteit bie Freube « 
das höchfte Picbesentzücen ausbrüde, wird wohl 
zugeben wollen. Nein, tiberall, wo ber 








224 


haben aber außerdem auch gefunden, daß dieſe Stimmungen ftets mi 
beftimmten Vorftellungen in Verbindung ftehen, daß ber Zuftand ve 
Willens immer ein befonderes Verhältniß zur Weltanfchanmg te 
Einzelnen bat; daß, joweit der Wille ins Bewußtfein tritt, fofort cine 
beftimmte Beziehung beffelben zur Gegenftänblichfeit fich bemerkbar 
macht. Schon aus biefer Erfenntniß im Allgemeinen ergiebt fi, daß 
das Verhältniß der Tonkunſt zur Vorjtellungswelt nicht fo als ren 
nebenjächlich behandelt werben Tann, wie Schopenhauer von feinem 
Stanbpunft aus ganz folgerichtig thut.“ 

Außerdem findet Lindner einen Widerſpruch darin, daß einerſeits 
nach Schopenhauer bie Mufil, als ein Bild des Willens an fich ge: 
bend, und nie Leiden verurfacht, ſondern auch in ihren fchmerzlichiten 
Accorden noch erfreulich bleibt und wir gern in ihrer Sprade bie 
geheime Gejchichte unſers Willens und aller feiner Regungen um 
Strebungen, mit ihren mannigfaltigen Verzögerungen, Hemmniffen und 
Qualen, ſelbſt noch in ben wehmüthigften Melodien vernehmen, — 
daß aber andererſeits doch nah Schopenhauer das Anfich des Lebent, 
ber Wille, das Daſein felbft, ein ftetes Leiden und theils jänmerlid, 
theils ſchrecklich iſt. „Und die Darftellung biefer Jämmerlichkei 
und biefer Schreden burch die Muſik“, fragt hier Lindner, „ſollte uns 
auch noch in den fehmerzlichiten Accorven erfreulich fein?‘ 

Wenn bies aber ein Widerſpruch wäre, daß ver Gegen: 
ftand, den die Muſik darſtellt, fchrediih, die Darftellung Hingegen 
erfreulich ift, fo müßte es ja auch ein Widerſpruch fein, wenn 


Goethe fagt: 
Was im Leben uns verbrießt, 
Man im Bilde ger genieft. 


Und auh das Wohlgefallen am Tragiſchen müßte ein 
Widerſpruch fein. Dennoch ift es thatfächlich der Fall, daß, was im 
Leben tragifch erfchütternd, Furcht und Mitleid erregend ift, in ter 
Kunftdarftellung uns gefällt. Alfo Tann dies Tein Widerfpruch fein. 
Das Gefallende, Erfreuende, ift ja nicht ber Gegenftand, ſondem 
bie Fünftlerifche Darftellung defjelben, die uns contenplatie 
ftimmt und daher über den Jammer des Lebens erhebt, wie ich dies 
ſchon früher in meinen „Aeſthetiſchen Fragen” auseinandergefegt habe. 

Was bie andern bereits angeführten Punkte der Lindner'ſchen 





il 


heit des Begriffs und der conereten, 
der Idee. Die Meen find ihm die ewigen, von allem Unweſent⸗ 
lien, Zufäligen gereinigten Typen ber Dinge, und wer möchte 
leugnen, daß es diefe find, welche die Kunſt in den einzelnen Gegen- 
ftänden, die fie darftellt, zur Anſchauung zu bringen Hat? Linbner 


feit fei. Nun, daſſelbe meint Schopenhauer, wenn er. es für Aufgabe 
ber Kunft hält, im Einzelnen, Anfhaulichen die Ideen, die volllom⸗ 
menen Ur und Mufterbilver der Dinge zur Anfchauung zu bringen. 

Zweitens fehlt es bei Schopenhauer nicht an einer Exrfennt- 
niß amd Angabe des Wefens der Phantafie. Denm die Phan- 
tafie iſt ihm eben diefes Vermögen, in den Dingen nicht das zu 
jehen, was die gemeine, nadte Realität in ihrer Zufälligfeit und Un- 
volllommenheit barbietet, ſondern etwas Höheres und Beſſeres, ihr 
ideales Urbild, oder das, was die Natur eigentlich gewollt, aber 
wegen ftörenber Zufälligfeiten nicht zur Erſcheinung bringen gefonnt hat. 
Schopenhauer erflärt ausprüdlich. bie Phantafie für einen wefentlichen 
Veftanbtheil der Genialität (f. „Welt als Wille und Vorſiellung“, 


find, die Erlenntniß der Idee aber nothwendig anſchaulich nicht ab⸗ 
firact ift, jo würde (nach Schopenhauer) die Exfenntniß des Genius 
bejcpränft fein auf Die Ideen der feiner Perfon wirklich gegenwärtigen 
— und abhängig von der Verlettung —— 






Fraueuſtadt, Reue Briefe, 





226 


Lebensbilder an fich vorübergeben zu laſſen. „Zudem finb bie wirf- 
lichen Objecte faft immer nur fehr mangelhafte Exemplare ber in ihnen 
fich darftellenden Idee: daher ber Genius ver Phantafie bebarf, um 
in ben Dingen nicht das zu feben, was die Matur wirklich gebilbe 
bat, fonbern, was fie zu bilden fich bemühte, aber wegen bes Kampfet 
igrer Formen untereinander nicht zu Stande brachte. Die Phantafie 
alfo erweitert ben Gefichtöfreis des Genius über bie feiner Berfon ſich 
in der Wirklichkeit barbietenben Objecte, fowohl der Qualität, als ber 
Quantität nach. Deswegen nım ift ungewöhnliche Stärfe ver Phan 
tafie Begleiterin, ja Bebingung ber Genialität.‘ 

Wenngleich aljo Schopenhauer feine befondere Abhandlung über 
bie Phantafie gefchrieben, fondern von berfelben nur innerhalb vet 
Syſtems an ber Stelle, wo fie in Betrachtung kommt, gefprochen hat; 
fo Hat er doch an dieſer Stelle jo von ihr geſprochen, daß beutlid 
genug daraus hervorgeht, wie hoch er bie Phantafie in künſtleriſcher 
Hinſicht anfchlägt, welche große Bedeutung er ihr beilegt und wie 
richtig er ihr Wefen erkennt. In dem Kapitel Vom Genie“ („Welt 
als Wille und Borftellung“, LI, Cap. 31, ©. 431) fagt er nod: 
„Wäre unfere Anſchauung ſtets an bie reale Gegenwart der Dinge 
gebunden, fo würde ihr Stoff gänzlich unter ber Herrſchaft bei 
Zufalls ftehen, welcher die Dinge felten zur rechten Zeit her 
beibringt, felten zwedmäßig orbnet und meiftens fie in ſehr man- 
gelgaften Eremplaren uns vorführt. Deshalb bedarf e8 ber Phan— 
tafie, um alle beveutungsvollen Bilder des Lebens zu vervoll⸗ 
ftänbigen, zu orbnen, auszumalen, feftzuhalten und beliebig zu wieber: 
holen, je nachdem e8 bie Zwede einer tief einbringenden Erkenntniß 
und des bebeutungspolfen Werkes, dadurch fie mitgetheilt werden fell, 
erfordern. Hierauf beruht ver hohe Werth der Phantafie, als melde 
ein bem Genie unentbehrliches Werkzeug ift. ‘Denn nur vermöge ber: 
felben kann dieſes, je nach ven Erforberniffen des Zuſammenhanges 
feines Bildens, Dichtens oder Denkens, jeden Gegenftand oder Bor: 
gang fich in einem lebhaften Bilde vergegenwärtigen unb fo ftets 
frifche Nahrung aus ber Urguelle aller Erkenntniß, dem Anfchaulichen, 
ſchöpfen. Der Phantafiebegabte vermag gleichfam Geifter zu citiren, 
bie ihm, zur vechten Zeit, die Wahrheit offenbaren, welche die nadte 
Wirklichkeit der Dinge nur ſchwach, nur jelten und dann meiftene 


zur Ungeit darlegt. Zu ihm verhäft ſich daher der Phantafielofe, wie 
zum freibetveglichen, ja gefligeften Thiere die an ihren Felſen ge 
Hittete Muſchet, welche abwarten muß, was der Zufall ihe zuführt. 
Denn ein ſolcher kennt feine andere, als die wirkliche Sinnesanſchauung: 
bis fie fommt, nagt er an Begriffen und Abftractionen, welche bad) 
nur Schalen und Hülfen, nicht der Kern der Erfenntniß find. Er 
wird nie etwas Großes leiften; e8 wäre denn im Rechnen und der 
Mathematit. Die Werke der Bildenden Künfte und ber Poefie, int 
gleichen die Peiftungen der Mimik, Fönnen auch angefehen werden als 
Mittel, denen, die feine Phantafie Haben, diefen Mangel möglichſt zu 
erfegen, denen aber, die damit begabt find, den Gebrauch derſelben 
zu erleichtern.“ 

Der Unterfchied zwifchen Lindner’s und Schopenhauer’s Auffaſ⸗- 
fung der Phantafie ift nur diefer, daß jener von feinem Stanbpunfte 
aus, wonach bie Kunſt Darſtellung des fubjectiven Bewußtſeinsinhalts 
ift, fie als das Vermögen betrachtet, biefem im Innern noch unbe⸗ 
ſtimmt, in ſchwanlenden BVorftellungen Lebenden Bewußtſeinsinhalt 
äußerlich feſte, beſtimmte Form zu geben; während Schopenhauer von 
feinem Standpunkte aus, wonach die Kumft Darftellung der objectiven 
Veen der Dinge ift, die Phantafie als das Vermögen betrachtet, diefe 
objectiven Ideen, die in ben realen Dingen wegen ihrer Mangelhaftig ⸗ 
feit nur unvolllommen erfcheinen, innerlich (gewifjermaßen a priori) 
zu Schauen und äußerlich zur Anſchauung zu bringen. 

Bei Lindner ift alfo die Phantafie, fowie bie Kunſt überhaupt, 
ein fubjectiv, bei Schopenhauer ein objectid gerichtetes Vermögen. 
Bet Lindner hängt die fünftlerifche Phantafie noch mit der religiöfen, 
möthenbifvenden zufammen, weshalb er auch ausbrüclich auf das 
Heramswachfen der Kunſt aus ber Religion hinweiſt. So fagt er 
3 B.: „Das Götterbilo, — dies ift e8, was die unmittelbare Vers 


bindung der Baulunſt mit der Kunft des Bildhauers am deutlich⸗ 


ften aufweift. Alle Kunft, Haben wir gefagt, ift Darftelluug menſch⸗ 

licher Weltanſchauung, Darftellung der gemeinfamen Bildung eines 

beftimmten Gefchlechts in einer beftiummten Zeit, Das erſte Gemein- 

fame und Algemeinfte, was noch über die Gemeinfamfeit des gefelligen 

Zufammenfeins Hinausreicht, ift der Abſchluß der Gefammtoorftellung 

von ber Welt durch einen bem Warum des Gaufalitätsgefehes ein 
16* 


228 


Ziel fegenden Mythos. Die Vorftellung biefes Mythos, bie feiter 
Geftaltung deſſelben zunächſt durch die dichteriſche Einbildungskraft, 
wird aber je nach der beſondern Anſchauungs- und Denkweiſe bes 
befondern Volles, auch zur räumlichen Darftellung führen, und mit 
dem Tempel entjteht das Götterbild.“ 

Schopenhauer betrachtet die Kunft nicht in dieſem ihrem gefchict- 
lichen Zufammenhange mit der Religion, fondern nad ihrem objer: 
tiven Wefen an fi. Deshalb ift, wie ich bereits gejagt habe, die Lin: 
ner'ſche hiſtoriſche Auffaffung eine die Schopenhauer’fche ergänzende. 





Siebenunddreißigfter Brief. 


Uebergang zu den ethifchen Fragen. — Vertheidigung Schopenhauer’s 
gegen Profeffor Friedrih Harms. — Schopenhauer's BES 
nerung des Ethiſchen. — Vorgänger und Nachfolger hierin, 


Nachdem ich, verehrter Freund, bie wichtigſten, an das britte, 
äfthetifche Buch der „Welt als Wille und Vorftellung“ ſich nüpfen- 
den Fragen erörtert habe, lomme ich nun zu ben am das vierte, 
ethiſche Buch ſich kuüpfenden Fragen. Auch Hier werbe ich wieder, 
wie bisher, Schopenhauer gegen ungerechtfertigte ober ſchlecht gerecht- 
fertigte Angriffe feiner Gegner vertheibigen, werde Ihnen aber auch 
zeigen, in welchen Punkten ich felbft als Gegner Schopenhauer's auf- 
zutreten mich genöthigt fühle. 

Buerft will ich hier bie Anklage erörtern, daß Schopenhauer das 
Ethiſche zu einem phhſiſchen Proceß degrabire. Diefe Anklage hat 
Profeffor Friedrich Harms in feinem Vortrage: „Arthur Schopen- 
hauer’s Philofophie“ (Berlin, 1874, Verlag von W. Herk) erhoben. 
Der Wille, fagt er, will nah Schopenhauer in alfen animalen Weſen 
Daſſelbe, fich ſelbſt erhalten und ben Genuß bes Lebens. Alle Ber- 
anftaltungen bes Lebens, alle Vorftellungen, Erlenntniſſe und Wiffen- 
ſchaften ſollen nad) Schopenhauer im Dienfte biefes Lebens ftehen, 
welches fich ſelbſt erhalten und genießen will. Der blinde Wille bringe 
das Bewußtſein nur für feine Zwecle hervor. Die Vernunft Fönne 
nichts Anderes, als abftracte Vorftellungen aus ben — 
bilden. 

Im dieſer Auffaſſung, a einen nd X 
nur Mittel feien zur Befriedigung ber 





230 


Schopenhauer völlig überein mit ber Moral der gallifanifchen Schule 
und bocumentire darin von Neuem den Standpunkt der Philoſophie 
des gefunden Menſchenverſtandes. Schopenhauer Habe, wie die galli- 
kaniſche Schule, ven Willen, wie er ift, in feiner Yacticität, den be 
gehrlichen Willen zum Weſen des Menfchen gemacht und die Vernunft 
begrabirt, indem er ihr ihren praftifchen Charakter abfpricht, den ver 
Allen Kant und Fichte geltend gemacht haben. Sie bringe nur Bid: 
heit der Bebürfniffe, und Erkenntniſſe nur zu ihrer Befriedigung ker: 
vor, befige aber burch ihre Gedanken und Ideen Teine geſetzgebende 
Macht über dieſes vielbebürftige und begehrliche Leben. „Dieſe ui: 
faffungen Schopenhauer’8 haben daher auch feine Ankräpfungspuntt 
in dee beutfchen Philofophie feit Kant, zu deren Weſen vie ethilce 
Richtung gehört, welche Kant mit der ganzen Strenge feines Charal: 
ters ihr gegeben bat, im Gegenfate zu der gallifanifchen, wie auch za 
ber anglilanifchen Schule, ver fi Schopenhauer in einem Puntte 
nähert.” (©. 25 fg.) 

Weiter führt nun Harms aus, daß nah Schopenhauer bie 
Freiheit nicht im Handeln (operari), fondern im Sein (esse) 
beftebe. Schopenhauer’8 Anficht fei ein Präbeterminismus; denn er 
lehre, daß ber Wille vor allem Bewußtfein in feiner Richtung, in 
bem, was und wie er will, ſchon vor dem Beginne bes individuellen 
Lebens, durch die Geburt des Menjchen, beftimmt fei, und daß dem: 
nach alle Vorftellungen und Erfenntniffe keine Macht über den Wilfen 
haben. Im Leben und Handeln des Menjchen fei daher Alles eine 
nothwenbige Folge dieſer urfprünglichen ‘Determination des Willene. 
Hierin bejtehe der dem Menſchen angeborene Charakter, den er nicht 
ändern Eönne, und ber mit Nothwenbigleit im Handeln und Leben bes 
Menfchen fich verwirflide. Warum ber Eine boshaft, der Andere 
gut ift, das hänge nicht von Motiven und äußern Einwirkungen at, 
etwa von Lehren und Predigten, und fei daraus ſchlechthin unerklär- 
lich. Nur mobificiren können die Motive das Handeln nach den Um- 
ftänden und Verhältniffen im Raume und in ber Zeit, aber nicht bie 
urfprünglicde Richtung des Willens beftimmen. 

Um nun aber, fährt Harms fort, nicht zugleich alle Verani⸗ 
wortlichkeit zu tilgen, nehme Schopenhauer’s Präbeterminismus eine 
Vreiheit Des Seins an. Diefe Theorie negire aber bie Freiheit 


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Ei ii Hl ze: rt: Bu: ; 


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———— 


232 


geſetzte Behauptung von ter Freiheit der That in ber Luft. Tie 
umviberleglichen Gründe, aus denen Schopenhauer bie Handlungen für 
nothwendig, alfo für nicht frei, nicht anders fein könnend, erklärt, 
find folgende: Jede Handlung ift das nothwendige Product zweier 
Factoren. Wie jede Wirkung in der unbelebten Natur ein nothwen 
diges Probuct zweier Factoren ift, nämlich ver Hier fich äußernder 
allgemeinen Naturfraft und der biefe Aeußerung bier hervorrufenden 
einzelnen Urfache; gerabe fo ift jeve Hanblung eines Menſchen das 
nothwenbige Probuct feines Charaktere und des eingetretenen Mo; 
tivs. Sind dieſe beiven gegeben, fo erfolgt fie unausbleiblich. Da: 
mit eine andere entftände, müßte entweber ein anderes Motiv, ober ein 
anberer Charakter gefett fein. Auch würbe jede Handlung fich mit 
Sicherheit vorher fagen, ja berechnen laffen, wenn nicht theils ber 
Charakter ſehr fchwer zu erforichen, theils aud das Motiv oft ver- 
borgen und ftetS der Gegenwirkmg anderer Motive, Die allein in ber 
Gedankenſphäre des Menfchen, Anbern unzugänglich, liegen, bloßgeftellt 
wäre. (Vergl. Schopenhauer-Lerilon: Handlung.) 

Wenn Harms meint: „Probuetivität aus dem Bewußtfein“ allein 
verfeihe den Handlungen den Charakter der Freiheit, fo irrt er. 
Denn, ob man nun das Bemwußtfein zum Urheber ver Han 
lungen macht, oder, wie Schopenhauer, ven Willen, immer find bie 
Handlungen nothwendig, können nicht nicht und nicht anders er: 
folgen. Denn was heißt nothwendig fein? Es Heißt Folge aus 
einem Grunde fein. Wenn nun die Handlungen Folge des Be: 
wußtfeins als ihres Grundes find, fo find fie ja nicht minder notb- 
wendig, als wenn fie Folge des Willens find. Es ift alfo nur 
Täuſchung, wenn Harms der von Schopenhauer behaupteten Noth— 
wenbigfeit der Handlungen dadurch zu entgehen meint, daß er bie 
Duelle derſelben aus dem Willen in das Bewußtfein verlegt. 
Um nicht nothwenbig zu fein, müßten die Handlungen überhaupt 
feinen Grund Haben, müßten grundlos, müßten unbebingt fein. 
Dies widerfpräche aber ihrem Begriff. Denn die Handlungen fallen 
unter bie allgemeine Kategorie des Gefchehens, jedes Gefchehen aber 
hat al8 Veränderung einen Grund. 

Was nun zweitens bie Folgerung aus ber von Schopenhauer be: 
baupteten Nothwenbigkeit der Handlungen betrifft, daß Schopenhauer 


233 


dadurch das fittfiche Leben zu einem phYfifchen Proceß mache; fo 
ift Dies zum Theil wahr, zum Theil falſch. Wahr ift es infofern, 
als Schopenhauer in allem Gefchehen, alſo in dent ethifchen fo gut, 
wie in bem phhfifchen, in formeller Hinficht Homogeneität, näm- 
lich Entfpringen aus einem innern und einem äußern Factor, aus 
dem Willen und den wilfenbewegenden Urſachen, annimmt, Falſch 
hingegen iſt jene Anklage infofern, als fie überfieht, daß Schopen- 
hauer ebenfo, wie einerfeits die formelle Homogeneität bes Phy⸗ 
ſiſchen und Ethiſchen, anbererfeits aud den qualitativen Unter- 
ſchied zwifchen Beiden Hervorhebt. Denn zieht nicht Schopenhauer 
eine feharfe Scheivelinie ſchon ziwifchen Handlungen überhaupt und 
bloßen ph yſiſchen Bewegungen, obgleich ex jene fir ebenfo noth- 
wenbig erllärt, wie diefe? Zieht er nicht zweitens eine ſcharfe Scheibe: 
Ginie zrifchen rein khierifchen und fpecififch menfchlichen Hand- 
tungen, obgleich er beide für gleich nothwendig Hält? Zieht er endlich 
nicht drittens innerhalb ber menſchlichen Handlungen eine ſcharfe 
Scheibelinie zwifchen tugendhaften und egoiftifchen, obgleich er auch 
hier beide für gfeich nothwendig erklärt? Hat er nicht überall das 
Geſetz der Speeification eben fo, wie das ber Homogeneität 
angewendet? 

Die Anklage, daß er das Ethifche zu einem vein Phhſiſchen ve 
grabive, wäre nur daun begründet, wenn er über der formellen 
Gleichheit alles Geſchehens den qualitativen Unterfchied zwifchen dem 
phyſiſchen Proceffe und den ethiſchen Handlungen überfefen Hätte, 
Da dieſes aber nicht der Fall ift; fo Tann von Degradation des Ethi- 
fchen zu einem blos Phhfifchen bei ihm nicht die Rede fein, oder es 
lann nur im demjenigen Sinne davon die Rede fein, im welchem die 
Ioentität des Ethiſchen mit dem Phpfifchen eine unfeugbare Wahr: 
Heit ift. 

Während Harms Schopenhauer befchulbigt, das Ethiſche zu 
einem Phyſiſchen herabzufegen, fo rühmt Schopenhauer felbft von 
ſich, umgefehrt, daß ex das Phyſiſche durch Zurückführung auf dem 
Willen zu einem Ethifchen erhoben und dadurch bie ethiſche Auffaf- 
fung erweitert, fie über da® ganze Univerfum ausgebehnt habe. Daß 
die Welt blos eine phyſiſche, eine moralifche Bedeutung habe, ſei 
ber größte, verberblichjte Irrthum. Durch den Nachweis, daß bie in 


j 


234 


ber Natur treibende und wirkende Kraft identiſch ift mit bem 
Willen in uns, trete die moralifche Weltorbnung in unmittelbaren 
Zuſanmenhang mit der das Phänomen ber Welt Hervorbringente 
Kraft. Denn der Befchaffenheit des Willens mäſſe feine Erſchei— 
nung genau entfprechen. Hierauf berube Die ewige Gerechtigleit, 
und bie Welt, obgleich aus eigener Kraft beftehend, erhalte burchise 
eine moralifche Tendenz. (S. Schopenhauer-Lerilon unter Mora 
liſch: Moraliſche Bedeutung der Welt.) 

In ver That Hat Schopenhauer das Ethifche nicht zu einem Phr⸗ 
ſiſchen Herabgefegt, fondern hat e8 verallgemeinert, und anfatı 
ihm hieraus einen Vorwurf zu machen, follte man es ihm vielmehr, 
wie bie Verallgemeinerung bes Willens, zum Verdienſt anrechnen 
Denn er hat dadurch unfere Erfenntniß erweitert, hat gezeigt, daß 
Das, was wir bisher nur in der engen Sphäre bes menſchlichen 
Willens und Handelns vorhanden glaubten, der ethiſche Grundunter 
fhied des böfen und guten Principe, bes Egoismus und der Sym⸗ 
pathie, ver Selbftfucht und ber Liebe, durch die ganze Welt gebe, ti 
ganze Natur von ber unterften bis zur Höchften Stufe hinauf durd- 
ziebe, und baß ber Unterfchied zwifchen dem Ethifchen in ver Mer 
fchenwelt und dem Ethifchen in der Natım nur ein grad ueller, fen 
fundamentaler, nur ein Unterſchied in der Art der Erfcheinung, 
nicht im Wefen fei. In der Natur ift die Sittlichkeit eine unbe: 
wußte, in ber Menfchenwelt eine bewußte. Der Natur alfe ethijde 
Dualität abfprechen, weil ihr das Bewußtfein des Ethiſchen abgeht, 
bieße ein unwefentliches Merkmal zu einem wefentlichen machen, 
und wäre gerabe fo, wie wenn man ber Natur die äfthetijchen 
Präbicate abjprechen wollte, weil ihr das Bewußtſein des Wejtheti: 
ſchen abgeht. Iſt etiwa eine fchöne Pflanze, ein fchönes Thier barum 
nicht ſchön, weil fie feinen Begriff von Schönheit Haben? — 

Wenn der Begriff ber fittlichen Güte die Duelle verfelben 
wäre, dann müßte ja Jeder, ber den Begriff hat, auch die Sache 
felbit haben. ‘Dies ift aber durchaus nicht der Fall Der Begriff 
ift, wie Schopenhauer mit Necht bemerkt, für die Tugend eben fo un 
fruchtbar, wie für bie Kunft. Daher vermögen auch alle Ethiken ver 
Welt eben jo wenig einen Tugenbhaften zu erzeugen, als alle Aeſthe⸗ 
tifen ein künſtleriſches Genie, 


235 


Mebrigens ſteht Schopenhauer mit der Veralfgemeinerung des 
Sittlichen nicht ifolirt da. Harms ſelbſt führt als feine Vorgänger 
bierin Plato und Fichte an, beren Weltanfchauungen burchweg 
etbifch feien. Aber auch Nachfolger Schopenhauer’8 in ber Verall- 
gemeinerung des Sittlichen laſſen fi anführen. Droßbad z. 2. 
in feiner Schrift: „Ueber bie verfchievenen Grade der Intelligenz und 
ber Sittlichkeit in der Natur” (Berlin, 1873, Verlag von F. Henfchel) 
und Koerner in feiner „Natur⸗Ethik“ (Hamburg, 1873, Otto 
Meißner) — Beide haben — Jeder in feiner Weife — das Sittliche 
als ein Allgemeines, die ganze Natur Durchziehendes aufgefaßt. 


Achtunddreißigſter Brief. 


Ein Bedenten gegen die Schopenhauer’fhe Berallgemeinerung des Ei 

fhen. — Löfung dieſes Bedenkens. — Verbindung der Freiheit mit ve 

Nothwendigkeit bei Schopenhauer. — Conjequenz der AU : Einheit: 

Iebre für die Zurechnungsfrage. — Kritik der Schopenhauer'ide 

Unterjheidung zwifhen dem empirifchen und intelligibeln Charalte. 
— Aſeität als alleinige Bedingung der Zurechnung. 





Sie finden, verehrter Freund, gegen bie Verallgemeinerung ve 
Sittlichen ein fehweres Bebenken in der Zurehnung. Wenn man, 
wie Schopenhauer, bie ganze Natur ethifch auffaßt, fo müſſe mas, 
meinen Sie, einen Tiger eben fo verantwortlid für fein Morden 
machen, wie in ber Menſchenwelt einen Tyrannen für feines; ober, 
wenn man ben Tiger für unverantivortlich hält, dann müffe man con- 
fequentertveife den Tyrannen auch fo anfehen; denn die Handlungen 
Beider feien ja nach Schopenhauer gleih nothwendig als Probud 
ihres angeborenen Charakter und ber auf biefen wirkenden Motive. 

Allerdings betrachtet Schopenhauer bie Handlungen der Menſchen 
für eben fo ftreng nothwenbig, wie die ber Thiere, ja wie das Falle 
eines Steine. Aber er ift nicht ber Anficht, daß bie Nothwendig— 
feit ber Handlungen bie Zurechnung aufhebe, weil jene fehr wohl 
mit der Freiheit des Willens, welche die alleinige Bedingung ber 
Zurechnung fei, zufammen beftehen Eönne. 

Anknüpfend an Kant, rühmt ſich Schopenhauer, in einem um 
faffenderen Sinne, als Kant, die Freiheit mit der Nothwendigkeit 
vereinigt zu haben, indem er nicht blos dem Menfchen, ſondern ber 
ganzen Natur, eben fo Freiheit, wie Nothiwenbigleit beilege. Neth Ä 


wenbigfeit fomme nämlich überall der Erſcheinung zu, Freiheit Hin- 
gegen überall dem Ding an fich, alfo dem Willen. 

nicht angenommen werben birfe, der Menſch fei von den übrigen 
Wefen in der Natur toto genere und von Grumd aus verfchieben, 
jondern nur dem Grade nad. (Vergl. ——— 
ſtellung⸗, II, 192; I, 595.) 

Demgemäß lehrt Schopenhauer: Jedes Ding ift als Erſcheinung, 
als Object, durchweg nothwendig; daſſelbe ift aber an ſich Wille 
und als ſolcher für alle Ewigkeit frei. Die Erfcheinung, das Object, 
ift nothwendig und unabänderlich in ber Verfettung der Gründe und 
Folgen beftimmt, die feine Unterbrechung haben Tann. Das Dafein 
überhaupt aber dieſes Objects und die Art feines Dafeins, d. h. bie 
Idee, welche in ihm ſich offenbart, oder mit andern Worten’ fein 
Sharafter, ift unmittelbar Erſcheinung des Willens. Im Gemäfiheit 
ver Freiheit dieſes Willens lonnte es alſo überhaupt nicht: da fein, 
oder auch urſprünglich und weſentlich ein ganz Anderes ſein; wo dann 
aber auch die ganze Kette, von der es ein Glied ift, die ſelbſt Er- 
ſcheinung beffelden Willens ift, eine ganz andere wäre; aber einmal 
da und vorhanden, ift es in die Reihe ber Gründe und Folgen ein- 
getreten, in ihr ftets nothwendig beftimmt und kann demnach weder 
ein Anderes werden, d. h. ſich ändern, noch auch aus der Reihe aus- 
treten, d. h. verſchwinden. (S. Schopenhauer-Lerifon unter Frei- 
heit: Vereinigung ber Freiheit mit der Nothwendigleit.) 

Schopenhauer hat hiermit den alten Dualismus zwifchen Menſch 
und Natur, demzufolge in der Natur Notwendigkeit, in ber 
Menſchenwelt Freiheit herrſcht, aufgehoben, indem er nachgewieſen 
hat, daß einerfeits das Handeln des Menfchen ebenfo ftreng noth- 
wendig fei, wie die Bewegungen und Veränderungen in ber Natur, 
unb anbererjeits, daß das Wefen an ſich ver Natur, ber Wille, 
eben fo frei fei, wie das Wefen an fich des Menſchen. Freiheit und 
Nothwendigleit vertheilen fich demnach bei ihm nicht mehr fo, daß bie 
eine dem Menſchen, die andere der Natur zufommt, fondern fo, daß 
die eine bem Wefen an fich aller Dinge, die andere der Erfchei- 
nung biefes Wefens zulommt. Der Gegenfag von Freiheit und 

ganze Welt anf allen Stufen, bildet die 






238 


zwei Seiten ber Welt. Ueberall liegt ven nach bem Satze vom Grumkx 
verfnüpften und folglih nothwendigen Erfcheinungen, zu welde 
bie Handlungen bes Menfchen ebenfo gut gehören, wie Die Bewegunger 
und Veränderungen in ber Natır, ein au fih freies Weſen, der 
Wille, zum Grunde. 

Freiheit ift nad Schopenhauer eigentlich ein negativer &- 
griff, indem fein Inhalt blos die Berneinung ber Nothwenbigfeit, d. h 
bes ale Folge Durch einen Grund Beftimmtfeins, ift. Freiheit beden 
tet alfo fo viel, als Grundloſigkeit, Urfprünglichleit. Der Bil: 
ift frei, weil er das grunblofe, urſprüngliche Wefen ift. ( Bergl 
Schopenhauer-Lerilon unter Freiheit: Begriff der Freiheit und Sub 
ject der Freiheit.) 

Nehmen Sie nun hierzu noch, daß nach Schopenhauer ber 
Wille, dem er als dem Ding an fich die Freiheit jufchreibt, einer 
ift, da Schopenhauer ben pantheiftifchen Grundgedanken des All: 
Einen fefthält und nur bie Benennung deſſelben als Gott verwift 
(vergl. Schopenhauer⸗Lexilon: Allseins-Lehre); fo beantwortet fd 
die Zurechnungẽfrage nad Schopenhauer’jchen Principien folgender 
maßen: 

Das Subject ber Zurechnung, d. 5. das Wefen, dem alle Gr 
ſcheinungen der Welt zuzurechnen find, ift der all-eine Weltiwilfe. Die 
ganze Beichaffenheit ber Welt ift feine Objectivation, feine Erſchei⸗ 
nung, feine Verwirklichung; ihm iſt fie alſo zuzurechnen. Er ift da⸗ 
für verantwortlich; denn er hat fie fo gewollt und will fie fortwährent, 
fo lange er fie bejabt, fo. 

Demnach ift Alles, was zur Erfcheinung gehört, Dbject ber 
Zurechnung, d. h. Das, was zugerechnet wird. Hingegen Subject 
ber Zurechnung, d. h. Das, dem es zuzurechnen ift, üft lediglich ber 
all-eine Wille. Diefer trägt die Schuld von Allem. 

Da nun die Ideen, d. 5. die fpecifiichen Natımftufen, nad 
Schopenhauer, wenngleih fie bie unmittelbare Erſcheinung des 
Willens find, doch immer noch zur Erfheinung gehören, und jee 
Erſcheinung als folde nothwenbig ift (vergl. Schopenhaner-Lerikon 
unter Erfcheinung: Unterfchieb zwifchen der ummittelbaren und mittel: 
baren Erſcheinung, und Nothwendigkeit der Erfcheinungen) ; fo folgt als 
Eonfequenz ver Schopenhauer'ſchen Grundgedanken biefes, daß uicht Bot 


die Individuen, ſondern auch bie Gattungen der Natur (bie 
Ideen) unverantwortlich find fir ihren Charakter. Sie fönnen nicht 
dafür, daß fie dieſen beftimmten, fei es bos / ober gutartigen Charakter 

hoaben; denn fie find nicht frei, d. h. wicht urfprünglich, nicht: grumb- 

los. Sie find das Object ber Zurechnumg, aber nicht das Sub» 

jeet derſelben. Und ver Menfch macht Hiervon feine Ausnahme, 

| So ftelft ſich die Sache, wenn man bie richtige Confeguenz aus 

der Schopenhauer'ſchen Lehre von ber Freiheit und don dent all- 


nahme, inden er Iehrt, daß beim Menfchen bie Freiheit in die Er- 
ſcheinung eintrete. Im Menſchen als ber volllommmenſten Erſcheinung 
des Willens Lönne der Wille zum völligen Selbftbernußtfein, zum deut⸗ 
lichen und erfchöpfenben Erfennen feines eigenen Wefens, wie es fich 
in ber ganzen Welt abjpiegelt, gelangen. Aus dem wirklichen Bor- 
handenfein diejes Grades von Erkenntniß gehe nicht mir die Kunft 





240 


(Berg. Schopenhauer» Lerifon unter Freiheit: Eintritt der Freie 
in bie Erfcheinung beim Menſchen.) 

Durch diefe Annahme widerfpricht Schopenhauer feiner fouftign 
Lehre, daß zwar der Wille frei fei, aber nur an fich felbft an 
außerhalb der Erfcheinung; in biefer Hingegen ftelle er fich de 
mit einem beftimmten Charakter dar, ber nur unter ber Bebins; 
nicht dafein, oder auch ein wefentlich anderer fein könnte, daß di: 
ganze Kette, von ber er ein Glied ift und die felbft Erfchenm 
befielben Willens ift, eine ganz andere wäre. Einmal ba und w 
banden, fei er in bie Reihe der Gründe und Folgen eingetreten, # 
ihr ſtets nothwendig beftinnmt und Tönme demnach weder ein anke: 
werben, d. 5. ſich ändern, noch auch aus ver Reihe austreten, t.k 
verſchwinden. (Bergl. Schopenhauer-Lerilon unter Freiheit: Be 
einigung ber Freiheit mit ber Nothiwenbigfeit.) 

Die richtige Confequenz aus biefer Lehre ift, daß ver Eittzeir 
feine Freiheit bat, nicht zu fein over ein wejentlich Anderer 3 
jein; ba er ein nothwendiges Glied einer, Kette ift und, jo lan 
ber Weltwille biefe in ihrem Dafein und ihrer Beſchafſerhä 
bejaht, eo ipso auch unauffeblih und unveränberlich if. & 
nicht blos das Individuum, fonbern auch die Idee, die in ihm ji 
darftellt, ift al8 Glied einer Kette unaufheblic und unveränderlid 

Es Hilft daher nichts, daß Schopenhauer, um vie Freiheit ii 
Individuums zu vetten, den intelligibeln Charakter als Princip de 
enipirifchen Charakters aufjtellt, jenem Freiheit, diefem Nothwer 
bigfeit zufchreibend. Was, lehrt er, durch die nothwendige Enwid 
lung in ber Zeit und das baburch bedingte Zerfallen in eingix 
Handlungen als empirifcher Charakter erfannt wird, ift mit W 
ftraction von biefer zeitlichen Form ver Erfcheinung, der intelfigiktt 
Charakter, nad dem Ausdrucke Kant's. Der intelligible Charakt 
fällt alfo mit der Idee oder noch eigentlicher mit dem urjprünglide 
Willensact, der fih in ihr offenbart, zufammen. Inſoferm ijt af: 
nicht nur der empirifche Charakter jedes Menfchen, fondern auch jew 
Thierfpecies, ja jeder Pflanzenſpecies und fogar jeder urfprünglic 
Kraft der unorganifchen Natur, als Erfcheinung eines intelligibch 
Charafters, d. h. eines außerzeitlichen untheilbaren Willensacts anzı 
ſehen. Der intelligible Charakter ift in allen Thaten des Inpivibımmd 





 mter Charakter: Berhältniß des mei. zum. empieifeen 

Charakter.) A | 
Es geht aus dieſer Beſtimmung des Gegenſabet 

intelligibeln und dem empiriſchen Charalter hervor, daß ber 

— —8 

Succeffion der einzelnen Handlungen Daſſelbe ausprägt, — 


Petſchaft und Siegel —— Her 
Gegenſatz ift durchaus nicht gleichbedeutend mit dem Gegenſatz zwifch 
Freiheit und Notäwendigkeit; denn ber, intelligible Charakter als 
einheitlicher Willensact, iſt, wie ie Act, nothwendig und iſt, iſt, wie 
ders ſein. Die An — Chopeuheuer, beilept, fan 
nur ‚eine velative fein; denn nur in Beziehung zu deu zeitlich fuccej- 
fiven einzelnen Handlungen, in benem er fich, als. das Brincip der» 
felben, ausprägt, fann er gewiſſermaßen außerzeitlich ober 
genannt werben. An ſich aber ift er als Willensact eben fo im 
der Zeit, wie jeber andere Act, 
Kunz, der intelfigibfe Charetter gehört — zur Erſchei⸗ 
mung, als der empirifche, und iſt daher nicht, minder, nothwendig- 
als diefer, Der gange Unterſchied zwifchen Beiden ift nur ber, daß 
jener bie unmittelbare, diefer Hingegen bie mittelbare Erfheimmg 
des Willens: ift. 
Alſo auch bei der Annahme des. intelligibeln Charakters, fommt 
Freiheit und Zurechnung nicht dem Individuum zu, fonbern in 
uͤch dent. all-einen Weltwillen, deſſen unmittelbare. Eiſcheinung der in- 
teligible Charakter ift. So wenig als das Petfchaft, das ſich in deu 
einzelnen, Siegen, ausprägt, barum frei, it, weil, «8. das befimmenbe 
Beet, en —— 








6 IE Kor 


242 


bes Menſchen in feinem Sein (Esse), d. 5. in feiner Eſſenz fie 
weil er ein Anberer hätte fein können, fcheint mir aufgegeben werben 
zu möüffen. Er folgt nicht aus dem pantheiftifchen Grundgedanler 
Schopenhauer's, weil nach dieſem Alles, was zur Erf cheinung ge 
hört, nothwenbig ift, und bie Effenzen ber Wefen, bie Ideen, nid 
minder zur Erſcheinung gehören, als ihre Actionen, von welchen Iet- 
tern fie fih nur wie die unmittelbare Erfcheinung von der mittelbar 
unterfcheiben. 

Aber fogar auch dem allseinen Weltwilfen kann Freihei 
nicht in dem Sinne beigelegt werben, daß feine Effenz auch eine an- 
bere fein Yönnte, als fie ift, fonbern nur in bem Sinne, daß fein 
Eſſenz die urfprüngliche, unabhängige, unbebingte if. Die Anmaber, 
daß der Weltwille ein anderer fein Tännte, als er weſentlich ift, 
wiberfpricht dem Grundgedanken Schopenhmer’s von dem Verhäliniß 
ber Essentia zur Existentia. 

Schopenhauer lehrt nämlich: Jede Existentia feßt eine Essentiz 
voraus, d. h. jedes Seiende muß eben auch Etwas fein, ein beftimm- 
tes Wefen haben. Es Tann nicht bafein und babei boch nichts fen; 
fonbern fo wenig eine Essentia obne Existentia eine Realität fe 
fert, eben fo wenig vermag dies eine Existentia ohne Essentia. 
Denn jedes Seiende muß eine ihm wefentliche, eigenthümfiche Natır 
haben, vermöge welcher es ift, was es ift. Eine Eriftenz om 
Effenz läßt fich nicht einmal denken. (Vergl. Schopenhauer-Leriten: 
Essentia und Existentia.) 

Die Willensfreiheit in dem Simme bes liberi arbitrii indifferen- 
tiae wäre nach Schopenhauer eine Existentia ohne Essentia. Die 
Erwartung, daß ein Menfch bei gleichem Anlaß, ein Mal fo, em 
anderes Mal aber ganz anders handeln werbe, wäre gleich der Er- 
wartung, daß ber jelbe Baum, der diefen Sommer Kirſchen trug, im 
nächjten Birnen tragen werde. Die Willensfreiheit bebeute, genau 
betrachtet, eine Existentia ohne Essentia, welches heiße, Daß Etwas 
ſei und dabei dech Nichts fei. (Daſelbſt.) 

Nun, ber Weltwille muß ebenfalls eine beftimmte Effenz Haben, 
aus ber feine Acte mit Notwendigkeit hervorgehen. Meinen, daß er 
auch wejentlich ein anderer fein Könnte, heißt meinen, daß er auch eine 








Uennunddreißigſter Brief. 


Db mit pantheiftiicher Metaphyſik Überhaupt eine Ethik vereinbar fei. — Gr 
genfag der pantbeiftifhen und individualiftiihen Ethik. — Welke 
von beiden bei Jedem thatſächlich über die andere fiegt. — Welche von bei: 
den die Wahrheit für fih bat. — Bereinbarleit des ethifhen Wertb: 
urtbeils mit pantheiftiiher Nothbwendigleitzlehre, 


— nn — 


Sie find, verehrter Freund, durch meine letzten Auseinander⸗ 
feßungen zwar überzeugt worben, baß bie Eonfequenz bes pau— 
theiftifchen Grundgebanfens des All-Einen, den auch Schopenhauer 
fefthalte, dieje fei, daß Freiheit und folglich Verantwortlichkeit nicht 
dem Individuum, fondern lediglich dem All-Einen zufomme. 
Aber Sie fragen, ob denn damit überhaupt noch eine Ethif vereinkur 
jei. Bei pantheiftifcher Metaphyſik fcheint Ihnen Ethik überhaupt 
nicht mehr beftehen zu können, wenigftens nicht in bem Sinne, in dem 
fie bisher beftanden hat. Denn die Ethik im bisherigen Sinne made 
den Einzelnen zum Subject der Zurechnung, bie pantbeiftifche Me 
taphyſik dagegen Tebiglih das All-Eine; die Ethif im bisherigen 
Sinne fordere vom Einzelnen Aenderung der Oefinnung, Befferung 
bes Charafters, die pantheiftifche Metaphyſik hingegen erflüre den an 
geborenen Charakter für unveränderlih und unverbefjerlih. Höchftens 
eine Verbefferlichkeit der Handlungsweije gebe fie zu, nicht aber eine 
bes Esse, d. i. der Eſſenz. 

Hieraus folgern Sie, daß entweder die pantheiftiihe Metaphufif, 
oder daß die bisherige Ethif aufgegeben werden müſſe. Denn Beide 
könnten nicht gleichzeitig Keftehen. Das pantbeiftifche All-Eine hebe 


die inbivibnelfe {Freiheit und — — 
hebe jenes auf. m 

Aber ——— 

Sie ſich nicht ausgeſprochen. Thatf äch lich weicht in einem ſolchen 
Streite bei Jedem Dasjenige, was ihm zweifelhaft iſt, dem Andern, das 
ihm wohl begründet und unwiderleglich ſcheint. Wem alſo der pan- 
theiftifche Grumdgebanfe des All-Einen feftfteht, der wird bie inbi- 
vidualiſtiſche Ethil aufgeben; wen dieſe hingegen feftfteht, der wird jenen 
fahren laſſen. Wer mit Schopenhauer überzeugt ift, daß alles Befon- 
dere und Einzelne in ber Welt, alfe Gattungen (Ideen) und Inbivis 
duen nur Erfcheinungen des Allwillens find, und daß biefer als das 
urfprüngliche Wefen allein frei, jene als fecunbär hingegen noth- 
wendig find und nicht anders fein Fönnen, ber wird es confequenter- 
weife aufgeben müffen, den Einzelnen für fein Wefen, feine Effenz 
verantwortlich zu machen und zu verlangen, daß er eine andere Effenz 
annehmen folle. Wer Hingegen überzeugt ift, daß ber Einzelne frei 
und für feine Effenz verantwortlich ift, der wird es aufgeben müffen, 
bie Welt moniſtiſch als Erſcheinung des altumfofenben Einen ie 
trachten. 

Wen e8 fich nun aber um die Frage handelt, — — 
beiden Seiten bie Wahrheit ſei, fo habe ich Folgendes zu fagen. 
Der pantheiftifche Grundgebanfe des All-Einen ift eine Denf- 
nothwenbigfeit; baher er in der Gefchichte ver Philoſophie immer 
wieberfehrt. Die Annahme der inbivibualiftiichen Ethil Hingegen, daß 
der Einzelne frei fei, ift ein bloßer Glaubensartikel, tem 
bie Erfahrung gar fehr entgegenfteht. Woher weiß denn bie inbibi- 
dualiſtiſche Cthit, daß der Einzelne frei fei und folglich auch einen 
wefentlich andern Charakter ſich geben könne, als den, den er don 
Haufe aus hat? Jeder Einzelne ift, wie bie Erfahrung lehrt, Glied 
einer Kette, lebt am einem beftimmten Orte auf ber Erde, ju einer 
beſtimmten Zeit der gefchichtlichen Entwickelung, fteht im eimem ber ⸗ 
ſtimmten phyſiſchen, intellectuellen und moralifchen Zufammenhange 
mit der Familie, dem Staat, ver Nation, dem Zeitalter, benen er att- 
gehört, und trägt folglich das Gepräge von allen biefen. Alle Welt: | 
mächte in Raum und Zeit haben ihm zu bem gemacht, ber er ift, und | 
ein ſolches durch und durch bebingtes und determinirtes Wefen, 





246 


eine ſolche Erfcheinung allgemeiner Mächte follte fich ver Kette, 
von ber e8 ein Glied ift, entreißen und feine Befchaffenheit nad Be- 
lieben ändern Können? Dem wiberfpricht nicht blos Die Logik, jonten 
ash die Erfahrung. Sollte der Einzelne ſich wefentlich (eſſentiell 
ändern, jo müßte das Ganze, deſſen Glied er ift, fich effentiell ändem 
Sollte die Frucht eines Baumes eine wejentlich andere werben, ie 
müßte ber ganze Baum ein iwefentlic anderer werben, müßte an: 
anderm Samen entfpringen, in anderm Boden wurzeln, in andern 
Klima wachjen u. f. w. 

Aber darum, verehrter Freund, hört noch nicht alle Ethik aui. 
Die Ethik bekommt auf pantheiftiich>metaphhfifcher Grundlage bios 
einen andern Charalter, als fie auf inbividnaliftifcher Hat. Das ethiſche 
Werthurtheil bleibt beſtehen, wenngleich wir überzeugt ſind, daß kein 
Einzelweſen, und keine beſondere Gattung von Weſen, ja, daß das Al: 
Eine ſelbft nicht wefentlich anders fein kann, als es iſt. Denn würben 
Sie etwa das äfthetifche Urtheil über bie verfchiebenen, theils häf- 
lichen, theils jchönen Geftalten aufgeben, wenn Sie einfähen, daß bie 
einen, wie bie andern, nothwenbige Probucte find und nicht an: 
bers jein innen? Würden Sie einem Budligen das Prädicat häß⸗ 
Lich nicht mehr beilegen, weil Sie den Buckel als nothwendige Folge 
der Urſachen erkennen, die ihn hervorgebracht haben? Und würden 
Sie das logiſche Verwerfungsurtheil über einen falſchen Sat auf 
geben, weil Sie ihn ald nothwendiges Erzeugniß des irrenden Intel: 
lects erfennen? Hört etwa ber Arzt auf, einen Kranken krank zu 
finden, wenn er bie Krankheit als eine nothwendige erkennt? 

Nun, eben fo wenig hört das ethifche Werthurtheit auf, wenn 
bie beurtheilten Charaktere und Handlungen ale nothwendige Folgen 
aus ben fie hervorbringenden Urſachen erkannt werden. Das Werth— 
urtheil iſt überhaupt ganz unabhängig von dem Gedanken der Frei— 
beit als der Möglichkeit des Anders⸗-ſein-könnens. Das Falſche, 
Häßliche, Schlechte bleibt, was es iſt, bleibt ein Verwerfliches, auch 
wenn es nicht anders ſein kann. 


Dierzigfler Brief. 


Ob mit der Schopenbauer/ihen Lehre von ber Unveränderlichleit des 
Charakters vie etbifhe Forderung der Befferung und die ethiſchen Beffe: 
rungsperfuche zufammen bejtehen können. 


Sie erwidern, verehrter Freund, auf mein Letztes, daß zwar das 
ethifhe Werthurtheil allerbings beftehen bleibe, auch wenn ber Cha- 
ralter und bie aus ihm folgende Hanblungsweife ala nothwendig 
erfannt werben. Aber anders, meinen Sie, verhalte es ſich mit bem 
ethiſchen Sollen, mit dem Pflichtbegriff. Die Ethil ftelle doch an 
den Egoiftifchen und Boshaften, an den Ungerechten und Schaben- 
frohen die Forderung, daß er fih beffere, daß er ein Anderer 
werbe. Wie könne ev aber Das, wenn fein Charakter ein nothwen- 
diger und unveränderlicher ift, wie Schopenhauer lehrt? Beſſerung 
habe doch die Veräuderlichleit des Charallers zur Vorausſetzung. Sie 
lnüpfen an mein Beiſpiel vom Arzt an und fragen, ob denn der Arzt 
noch verfuchen wirbe, einen Kranken zu heilen, wenn er feinen Zus 
ftand für unveränderlich, folglich für unverbefjerlich Hielte? Entweder 
alſo, folgern Sie, muß die Annahme ber Unveränderlichleit bes Cha- 
rafters, ober es muß bie ethiſche Forderung der Beſſerung und ber 
ethiſche Befferungsverfuch deſſelben aufgegeben werben. 

Hierauf nun habe ich Folgendes zu erwidern. Der Sab: ber 
Charakter ift unveränderlich, und ber andere Sat: die ſes In» 
dividuum ift unverbefferlih — find zwei gänzlich verſchiedene 
Sätze; fo wie es zwei gänzlich verſchiedene Säge find; biefe Krank- 
heit ift unheilbar, und: dieſes Inbivibuum iſt unheilbar. Aus bem 
erſten Sage folgt nad) nicht der zweite. Aus dem Satze, baß eine 


u 


248 . 


gewiſſe Krankheit unheilbar ift, folgt nur dann, Daß ein gewiſſes We 
dividuum unbeilbar ift, wenn biefes Individuum jene Krankheit hat: 
und eben fo folgt aus dem Satze, daß der angeborene Charalter m 
veränberlich ift, nur dann, daß ein Lafterhaftes Individuum unver 
befferlich ift, wenn das Lafter, mit dem wir e8 behaftet finten, u: 
feinem angeborenen Charakter entfpringt. 

Daß der Charakter unveränderlih ſei, folgt ſchon aus tem 
ftrengen Begriff des Charakters. DBerftehen wir nämlich unte 
Charakter das eigenthümliche Wejen eined Dinges ober viejenig 
herrſchende Eigenfchaft, die e8 zu Dem macht, was es im Linte: 
jchiede von andern Dingen ift, fo verfteht es fich won felbft, daß der 
Charakter unveränderlich it. Denn alle Veränderungen eines Dinge 
fönnen doch nur auf Grund feines Wefens vorgehen, Das Wefen felbit 
aber kann fich nicht ändern; denn es bildet ja die beharrliche Grundlage 
alfer Veränderungen. Würde das Wefen jelbft ein anderes, fo würte eo 
ipso auch das Ding zerftört, und es träte ein anderes an feine Stelle. 
Das Weſen kann alfo zwar aufgehoben werden, aber es kam, fe 
fange, als e8 dauert, fich nicht ändern. Das Wefen des Meſſers 
3. 2. ift, ein Inftrument zum Schneiden, beftehend aus Stiel m 
Klinge, zu fein. Diefer Charakter ift unveränderlih. Gin Meſſer 
kann groß oder Hein, ſcharf oder ftumpf, ein- oder zweiſchneidig fein. 
In dieſer Art von Eigenfchaften ift es veränderlih. Aber fein We: 
fen, feinen fpecifiichen Charakter, ein Schneibeinftrument mit Stiel un 
Klinge zu fein, behält es unveränderlich troß aller Berünberlichfeit in 
jenen Eigenſchaften. Berlöre e8 den Stiel, ober verlöre e8 die Klinge, 
jo wäre es Kein volljtändiges Meſſer mehr, fondern nur noch ein Theil 
eines Meſſers. Es kann alfo aufgehoben, zerftört werden, aber es 
kann, jo lange, als e8 bauert, feinen wefentlihen Charakter nict 
ändern. 

Daffelbe nun gilt auch von allen Naturbingen und zuletzt auch 
vom Menfchen. Die unwefentlichen Eigenfchaften eines Steines, einer 
Pflanze, eines Thieres, eines Menſchen können fi) ändern; aber alle 
biefe Veränderungen gehen nur innerhalb der Sphäre feines Weſens 
vor, das Wefen felbft bleibt, fo lange, als c8 bauert, unveränderlich 
duffelbe. Dies folgt fchon aus dem logischen Cake der Identität. 
Die Unveränberlichkeit des Charakters fteht alfo a priori feft. Wir 


fondern in jenem laxeren Sinne nimmt, wonach man den 

fännmtlicher fewohl angeborener, als erworbener Eigenfchaften eines 
Judividuums, durch die es fich von andern Judividuen unterfcheibet, 
feinen Charakter nennt, nur dann kann mar von Veränderlichleit des 
Charakters ſprechen. Denn aus diefem Compler von Eigenſchaften 
können einige austreten, anbere eintreten; das Individuum kann Eigen- 
ſchaften, die es bisher befeffen hat, verlieren und andere, bie es bis— 
her nicht befeffen Hat, eriwerben. I diefem laxeren Sinne faffen bie 
Darwinianer und mit ihnen der Philofoph des „Unbewußten”, E. von 
Hartmann, den Charakter auf. Zwar definivt E, von Hartmann 
in dem Kapitel: „Das Unbewußte in Charakter und Sittlichfeit“ 
(Abfchnitt B, Kap. IV) den Charakter noch in wefentlicher Ueber⸗ 
einftimmung mit Schopenhauer, indem er fagt: „Der Charakter ift 
der Reactionsmodus auf jede befondere Kaffe von Motiven, oder, was 
daſſelbe fagt, die Zuſammenfaſſung der Erregungsfähigteiten jeder be - 
fondern Kaffe von Begehrungen.“ („Philofephie des Unbewußten“, 
3. Aufl, S. 234.) „Wenn man eingeftehen muf, daf bie Erregung 
des Willens für ums ewig mit dem Schleier des Unbewußten bedeckt 
bfeiben wird, fo ift es nicht zu verwundern, daß wir auch die Urſachen 
nicht fo Leicht zu durchſchauen vermögen, welche die verfchiebene Er- 
vegungsfähigteit der verſchiedenen Begehrungen, oder bie verfdjiebene 
Reaction des Willens verfchiedener Inbividuen auf dieſelben Motive 
bedingen; wir müfjen uns eben vorläufig begnügen, in ihnen die innerfte 
Natur des Individuums zu fehen, und nennen darum ihre Wir- 
fung jehr bezeichnend Charakter, d. h. Merkmal oder Kennzeichen des 
Judividuums.“ (Daſelbſt, ©. 236.) Diefes ift doch nur mit andern 
Worten daffelbe, was Schopenhauer deutlicher fo ausbrüdt: „Die 
ſpeciell und individuell beftimmte Befchaffenheit des Willens, vermöge 
deren feine Reaction auf die ſelben Motive im jedem Menfchen eine 
andere ift, macht Das aus, was man befien Charakter nemit, 
Durch ihn ift die Wirlungsart ber werfchiebenartigen Motive auf den 
gegebenen Menfchen beftimmt. Denn er liegt allen Wirlungen, welde 


u 





250 







bie Motive hervorrufen, fo zum Grunde, wie bie allgemeinen Reiz 
fräfte den buch Urſachen im engften Sinne heroorgerufenen Bo 
fungen, und bie Lebenskraft ven Wirkungen der Reize.“ („Die beida 
Orundprobleme ver Ethik”, ©. 48.) 

Aber während Schopenhauer ben indivibuellen Charakter ji 
unveränberlich erklärt, indem er lehrt: „Die in den verſchieden 
Menfchen jo Höchft verfchiedene Eınpfänglichfeit für vie Motk 
des Eigennutzes, der Bosheit und bes Mitleid, worauf ber gay 
moralifche Werth tes Menſchen beruht, ift nicht etwas aus ein 
Andern Erflärliches, noch durch Belehrung zu Erlangendes und take 
in ber Zeit Entjtehendes und VBeränderliched, ja, vom Zufall # 
hängiges, fonbern angeboren, unveränberlih und nicht weiter ertlir 
ich“ („Die beiden Grundprobleme ver Ethik“, S. 258); fo um 
E. von Hartmann (Abfchnitt C, Kap. X, 2, „Der Impivibualdent 
ter“) vom Darwiniftifchen Standpunkt aus eine Bariabilität des indi 
viduellen Charakters an. Jedoch fieht auch er ſich gemöthigt, zuzugeben, 
baß ber Haupttheil bes Charakters unveränberlich ift, daß es mr 
bie unwefentlicheren, unwichtigeren Eigenichaften befjelben ſind, vie fi 
variiren laffen. Er jagt nämlih: „Nach der Desfcendenztheorie, ie 
ber Artbegriff etwas Flüffiges geworben ift, fteht ja jedes organic 
Individuum (alfo auch ber erſte Menſch) in einer organijchen Er: 
widelungsreihe, innerhalb deren er von feinen unmittelbaren Borjahrr 
einen ganzen Schatz charakterologifcher Eigenthümlichkeiten als Erbthei 
übernimmt, den er feinerjeitS wieder burch bie Eindrücke feines Leben: 
(bis zur Zeugung) modificirt feinen Nachkommen Binterläßt. Yet 
Menſch bringt demnach ven Haupttheil feines Charakters mit wi 
vie Welt; wie groß im Verhältniß zu biefem der Theil ift, ven er 
fih hinzu erwirbt, hängt von der Ungewöhnlichleit und abnormen Be 
ihaffenheit ver Verhältniffe ab, in benen er fih bewegt. In ve 
alfermeiften Fällen veicht die Gewohnheit eines Menfchenlebens nid: 
aus, um in dem everbten Charakter tief eingreifende Veränderungen 
bervorzubringen. Gewöhnlich befchränkt fich der erivorbene Theil ver 
Charakters auf neu hinzutretende unmwichtigere Eigenfchaften, oder Ber: 
ftärkung vorhandener, oder Schwächung anderer durch Nichtgebraud. 
Das leßtere findet relativ im geringften Maaße ftatt, denn wie von 
allem Lernen das ſchwerſte das Vergeſſen des Erlernten ift, fo von 


251 


‚allen Charakterveränberungen bie ſchwierigſte bie Unterbrüdung und 
Abfchwächung vorhandener Diefes ift ed befonbers, 
was Schopenhauer dazu veranfafte, bie Unveränderlichkeit des 
— Nleſephe des Unbenuften‘, 3. Auf, 

610 fg. 

Afo auch, weun man das Wort Charakter in weiterem Sinne 
nimmt und darunter nicht blos die angeborenen, fonberu auch die er— 
worbenen Eigenfchaften, durch bie fich ein Individuum don andern 
uunterſcheidet, verfteht, ergiebt fich, was den Hauptteil des Charal- 
ters, bie angeborenen Eigenſchaften betrifft, die Umveränderlichleit 
deſſelben. 

Aber dieſe Erlenntuiß dev Unveränberlichfeit bes Charakters hindert 
in praxi gar nicht, ethijche Befferungsperfuche zu machen. Denn, 
welches ber unveränberliche Charakter eines Iudividuums fei, das willen 
wir nicht a priori, ſondern fernen es erſt a posteriori, bei ben Ver— 
fuchen, es zu äubern umd zu befjern, fennen, Auch der Arzt wird ja 
durch die Erfenntniß, daß gewiſſe Srankheiten unheilbar find, nicht ab⸗ 
gehalten, an einem Patienten Heilungsverfuche zu machen, jo lange er 
noch nicht weiß, ob die Krankheit, mit ber ber Patient behaftet ift, zu 
den unheilbaren gehört. Erſt wenn er dieſes weiß, giebt er alle 
Heilungsverfuche auf. Und eben fo hätte der ethifche Erzieher erſt 
banı die moralifchen Befferungsverfuche an einem Individuum auf⸗ 
zugeben, wenn er weiß, daß bie Lafter deſſelben die nothwenbige Folge 
feines unveränderlichen Charakters find. Vielleicht find biefelben aber 
nur von Außen, durch Erziehung, Gewohnheit, Beifpiel u. ſ. w. er> 
worben, und die eigentlichen, beffern Eharaktereigenfchaften find bisher 
blos unterdrüct worden, find unentwickelt geblieben, haben nicht Ges 
Tegenheit gehabt, fih zu äußern und zu üben. Dann bedarf es bios 
einer entgegengefegten Erziehung, entgegengefetter Gewohnheit und ent- 
gegengefegten Beifpiels, um das Individuum zu beffern. 

Auch Schopenhauer Hat ſchon im feiner Weife gezeigt, da aus 
ber Umveränberlichfeit des Charakters nicht das Aufgeben der Verfuche, 
den Charakter zu beffern, folge. „Aus ber Unveränberlichfeit bes em⸗ 
pirifchen Charakters“, fagt er, „Lönnte fehr leicht bie Folgerung zu 
Gunſten der veriwerflichen Neigungen gezogen werben, daß es vergeb« 
liche Mühe wäre, an einer Befjerung feines Charakters zu arbeiten, 





252 






ober ter Gewalt böſer Neigungen zu wiberfteben, taber es gerutk: 
ner wäre, ſich tem Unabünberlidden zu unterwerfen unt jeter Ra 
gung, fei fie auch böfe, fofert zu wilffahren. Diefe Folgerung de 
ift falſch. Term obgleich unfere Thaten immer unferm Üharafe 
gemäß ausfallen, fo ijt und doch feine Einfiht a priori in tiefen x 
geben; fontern nur a posteriori, tur bie Erfahrung lernen ki, 
wie tie Andern, fo auch uns felbft kennen. Brachte ter intelfiukt 
Charakter e8 mit ſich, daß wir einen guten Entfchluß nur nach lanım 
Kampf gegen eine böfe Neigung fajfen fonnten; fo muß biefer Kam 
vorhergehen und abgewartet werten. Die Reflerion über tie Ume: 
änberlichleit des Charakters, über vie Einheit der Tuelle, ans welde 
alfe unfere Thaten fliegen, darf uns nicht verfeiten, zu Gumflen vi 
einen, noch bes anbern Theiles, ver Entſcheidung des Charaftert mr 
zugreifen; am erfolgenden Entjchluß werden wir fehen, welder An 
wir find, und uns an unfern Thaten fpiegeln.” (Vergl. Schopenhauer: 
Lerifen unter Charakter: Befeitigung einer falfchen Folgerung wi 
ber Unveränderlichleit des empirischen Charalters.) 





254 







von felbft auf uns eindringende, und zwar mit folcher Gewalt ı 
bringenbe fein, daß fie bie entgegenftehenben, riefenftarfen antimer: 
Lifchen Zriebfedern zu überwinden vermag. Dies könne mır d 
Mitleid, aber nicht der abftracte Pflihtbegriff, ver fategerike 
Imperativ. Der Begriff fei überhaupt ebenfo unfruchtbar für de 
Tugend, wie für bie Kunft. Daß das Mitleid, als die einzige uk 
egoiftiihe, auch die alleinige ächte moralifhe Triebfeder fei, wat 
durch die Erfahrung umd die Ausſprüche des allgemeinen Marie 
gefühls beftätigt. (Vergl. Schopenhauer» Lerifon unter Moralijd. 
Moralität: die moralifche Triebfeder.) 

Gegen dieſe Lehre Schopenhauer’8 nun haben Andere wieder ft 
Kant’jche Anficht vertheibigt. Ya, die philofophifche Facultät der & 
ziger Univerfität hat für bas Jahr 1869— 70 eine „,‚Unterfute: 
don Schopenhauer’8 Kritit des Kant'ſchen Fundaments ver Ethil wi 
Prüfung feines eigenen Moralprincips” zur Preisaufgabe gemacht st 
hat eine gegen Schopenhauer gerichtete, die Kant’fche Anſicht vertte 
bigenbe Schrift gefränt, welche alsdann ımter dem Titel erjchienen # 
„Ueber das Fundament ber Ethik. Eine kritifche Linterfuchung ie 
Kants und Schopenhauer’ Moralprincip. Bon E. M. Friedrie 
Zange. Gekrönte Preisſchrift.“ (Leipzig, 1872, Breitkopf und Härte) 

Daß ſich ber gekrönte Verfaffer biefer Preisfchrift vie beabfie 
tigte Widerlegung Schopenhauer’8 und Vertheidigung Kant’s rei 
ſauer hat werden Taffen, das wird ihm gewiß Niemand beftreiten 
Aber daß er mit feinen gewundenen und erfünftelten Beweiſen Schepe: 
hauer's fo einfache und einleuchtende Kritif ber Kant’fchen Lehre wirt: 
lich widerlegt habe, das muß ich beftreiten. Zange’ 2920 Seiten m: 
faffende Kritik kann gegen ben einfachen Grunbgedanfen der Schere: 
hauer'ſchen Kritif nicht auffommen. Wie furz und doch fchlagend fi 
nicht Schopenhaner’8 Kritik: „Mit jener Forderung Kamt's, daß jer 
tugenbhafte Handlung aus reiner, überlegter Achtung vor dem Gert 
und nach deſſen abftracten Maximen, falt und ohne, ja gegen al 
Neigung geichehen folle, ift e& gerade jo, wie wenn behauptet würk, 
jebes echte Kunſtwerk müßte durch wohlüberlegte Anwendung äſthetiſcher 
Regeln entftehen. Eins ift fo verfchrt wie ba8 andere,“ (‚Welt alt | 
Wille und Vorſtellung“, I, 624.) 

Man kann ſich in ber That das Falſche von Kant's Anficht nicht 


nicht minder Kraft und Trieb wie zur Kunft erfordert. Die bloße Vor- 


gungen und Triebe fünnen nur durch eine ihnen überlegene — 
Macht überwunden werden, und eine ſolche iſt wahrlich nicht der 


ſchehen ſoll, ift überhaupt in feinem praltiſchen Gebiete das Primäre, 
ſondern ift überall ſecundär, ift Folge eines Willens, der das will, 
was als ein Gejchehenfollendes vorgeftellt wird. Erſt wenn ich etwab, 
das noch nicht realifirt ift, entjchieden will, dann entfteht in mir. bie 
Vorſtellung, daß es realifirt werben ſoll. 

Man braucht alſo nur mit Schopenhauer das Verhältniß des 
Willens zur Vorftellung richtig zu erfennen, braucht nur einzufehen, 
daß der Wille das Primäre, die Vorſtellung fecundär ift, um das 
Unhaltbare der Kaut'ſchen Gründung der Moralität anf den Pflicht- 
Begriff zu erfennen. Aber eben an jen t fehlt es den Her⸗ 


.. 





256 





bartianern, und daher konnte ber berbartianifche Verfafſer ven Berk 
machen, Kant gegen Schopenhauer zu rechtfertigen. 

Diefer Verſuch ift aber in meinen Augen völfig misglüdt. Te 
was ber Verfaſſer gegen Schopenhauer’ Moralitätsprincip, des R 
leib, einmwenbet, trifft theils gar nicht zu, theils läßt fich daſſelbe = 
gegen das Kant'ſche, die Achtung vor dem Gefeß, einwenden. Te 
Verfaffer leugnet nämlich zwar nicht, daß das Mitleid, welches is 
Menfchen nicht kalt und gleichgültig am leidenden Nebenmenſchen w 
übergehen, welches aus ben Frauen bie „barmberzigen Schweſten 
hervorgehen läßt, welches überhaupt fchon jo viel Gutes geftiftet m 
ſich während bes legten Krieges von 1870— 71 wieber fo vortreifit 
bewährt hat, etwas fehr Wertvolles und für die Sittlichlet m 
großer fördender Bebentung fei. Dann aber fährt er fort: 

„Iſt e8 aber auch in dieſem Betracht eine fehr gute unt ir 
Sittlichkeit unter günftigen Umständen ſehr fördernde Negung de 
Herzens, fo ift es doch ein Probuct des Augenblids, abhängig m 
ven zufälligen oder natürlichen Umftänden und Verhältniſſen und da 
Wechfel unterivorfen wie biefe; es ift keine bleibenbe, über dem Weche 
der Erſcheinungen ſchwebende, beharrlidhe und jederzeit gegenwärtig 
Gefinnung.“ 

Hiergegen ift erftend zu jagen: Es ift nicht wahr, daß das we 
Schopenhauer zur Quelle der echten Zugend gemachte Mitleid am 
zufällige, dem Wechjel unterworfene Regung des Herzens fei; ei 
vielmehr eine bleibende, beharrliche Gefinnung, fo gut wie die Kant'k 
Achtung vor dem Gefeß. Denn das Schopenhauer’fche Mitleid iſt di 
ans ber Durchſchauung des principii individuationis, d. h. ans in 
intwitiven Erkenntniß ber Wefenseinheit der in ber Erſcheinung ge 
trennten Individuen entfpringende Millensrichtung, Die fih das „Ne 
minem laede, imo omnes quantum potes juva’” zum Grundſatz ie 
Handelns macht. Daher ift der Feind in dieſes Mitleid fo gut cin 
gefhloffen, wie der Freund, das Thier fo gut, wie ber Menſd: 
woraus ſchon herausgeht, daß dieſes Mitleid ein allgemeines, üba 
alle Wefen ſich erftrediendes, alfo Fein fubjectives, ſondern ein of 
jectine®, eine vorübergehende Anwandlung oder Laune, ſondern em 
fefte, beharrliche Geſinnung ift. Sieht fih doch der Verfaſſer fehl 
genöthigt, zu jagen: „Müffen wir uns num aber auch wundern, daß 


3 


im fo tief- und ſcharffinniger Philofoph wie Schopenhauer nach dem 
Vorgange Kant's, den er feinen Meifter nennt, wieder eine empiriſche 
Triebfeder wie das Mitleid zum Princip der. Ethik machen lonnte, jo 
würden wir doch Schopenhauer im Höchften Grade Unrecht thun, wenn 
wir meinten, ev habe mit feinem Mitleid nicht mehr bezeichnen wollen 
als die oben befprochene materielle oder empirifche Triehfeder. Er jagt 
vielmehr: „Alle Liebe ift Mitleid.“ Er hält fein Mitleid fir identiſch 
mit ber Liebe, welche der Apojtel Paulus in feinem hohen Lieb ver 
Liebe 1. Kor. 13 ſchildert, und welche Chriftus durch fein Leben und 
feinen Tod verfinbigte. Er hält deshalb feine Ethik für die eigent- 
lich chriftliche Philoſophie“ u. ſ. w. 

Nun, wenn das Schopenhauer' ſche Mitleid mehr ift, als eine 
waudelbare empirifche Triebfeder, — wozu alsdann ver ganze Gegenſatz, 
den der Berfaffer zwiſchen Kant und Schopenhauer aufftellt, daß jener 
eine bleibende Gefinnung, diefer Hingegen eine wandelbare Regung des 
un ya si Diefer Gegenſatz ift hin⸗ 

g. 

Zweitens aber, wenn gegen das Schopenhauer’iche Mitleid ein- 
gewendet wird, daß es eine Triebfeder fei, vie micht zu allen Zeiten 
und unter allen Umftänden wirkam jei, eine Quelle, die nicht immer 
fliege, fondern mitunter verfiege, fo läßt ſich ganz Daffelbe gegen die 
Kant'ſche Achtung vor dem Sittengeſetz einwenden. Denn es giebt 
überhaupt feine Triebfeder, die zu allen Zeiten und unter allen Um- 
ftänden wirlſam, fräftig, lebendig wäre, die nicht zu Zeiten und unter 
Umftänden von andern, augenblicklich ſtärlern Triebfedern überwältigt 
wilrde. Die Achtung vor dem Sittengeſetz ift jo wenig eine perenni⸗ 
rende Quelle wie das Mitleid oder die chriſtliche Liebe. Jene ver⸗ 
fiegt unter Umftänden jo gut, tie diefe. Denn es giebt pfychifche 
Zuftände, wo das Gittengejeß, trotz aller Achtung dor demfelben, ent 
weder gar nicht ‚oder nur ſehr ſchwach und verbunfelt zum Bewußt ⸗ 
fein gelangt, fo gut wie es Zuftände ‚giebt, wo das Mitleid nicht 
auſtounmt, ſontern durch Hartpergigteit überwältigt wirb. Auch ber 
Kunſttrieb it ja micht zu allen 
intermittivt bisweilen. So 
nen Werth rauben kann, daß 
entſprungen, nicht zu allen Sei 


Franenftädt, Reue Briefe, 










258 


ift, fo wenig kann es einer echt fittliden Handlung ihren Werth rer 
ben, daß die Quelle, aus der fie entjprungen, bisweilen intermitit 
Es ift Schulmeinung, die durch die Erfahrung widerlegt wird, daß ie 
fittliche Triebfeder etwas Beharrliches in dem Sinne fei, daß jie 7 
jeber Zeit und unter allen Umftänden wirke. Dafein und Wirffamjen 
ift zweierlei. ‘Die fittliche Gefinnung mag zwar immer ba fein, aa 
barum ift fie noch nicht immer eine fich wirffam äußernde, ſondern ü 
häufig, wie andere Kräfte, latent. Und dies begegnet der Kant’ide 
Achtung vor dem Sittengefeß nicht minder, ald dem Schopenhaner'jde 
Mitleid. Darum hielt auch Schopenhauer das Meitleid allein mic 
für ausreichend zu einem moralifchen Lebenswandel, fonvern hielt de— 
neben auch noch Grundfäge für nöthig. Obwohl nämlich Gruntfük 
und abftracte Erfenntniß überhaupt feineswegs Die Urquelle ober erſe 
Grundlage ver Moralität feien, fo feien fie doch zu einem moralifce 
Lebenswandel unentbehrlich, als das Behältniß, das Reſervoir, u 
welchem Die aus ber Quelle der Moralität (dem Mitleid), welche nid 
in jedem Augenblid fließt, entfprungene Gefinnung aufbewahrt wit, 
um, wenn ber Fall der Anwendung kommt, durch Ableitumgsfani: 
dahin zu fließen. Ohne feitgefaßte Grundſätze würden wir ven ai: 
moralijchen Zriebfevern, wenn fie Durch Äußere Eindrücke zu Affen 
erregt find, unwiderſtehlich preisgegeben fein. (Vgl. „Die beit 
Srundprobleme der Ethik“, ©. 214 fg.) 

Hieraus geht genugfam hervor, dag Schopenhauer ven Kerl 
ber Grundſätze, folglih der Vernunft, für die GSittlichkeit nicht eng: 
net, daß er in ihnen nur nicht die eigentliche Duelle derſelben 
fieht, ſondern nur ein Hülfsmittel. Und darin müffen wir ihm kei 
ftimmen. Auch der Künftler bedarf neben dem fchöpferifchen Produc 
tionstriebe der Grundfäße, um jenen zur freien, reinen Wirkſamkeit zu 
bringen und alle Eunjtwibrigen Neigungen zu unterdrücken. Aber die 
Grundfäge find darum noch nicht die Quelle feiner Productionen. 
Es käme ja gar nicht zum Faſſen ſolcher Grundfäge, wenn nicht fünft 
lerifcher Trieb in ihm vorhanden wäre, und eben fo wenig käme & 
zum Faſſen ethiſcher Grundſätze, wenn nicht ethifcher Trieb vorhanden 
wäre. Der Wille im Schopenhauer’ihen Sinne bleibt aljo im Ethi— 
ſchen, fo gut wie im Nejtgetifchen, das Primäre, der Intelfect mit feinen 
Grundſätzen das Secundäre. Wo fein Trieb, fein Wilfe zu einer 





260 






treten, wie ber Verfaſſer folgert, fondern fie folfen dem abgeirar: 
Mitleid zum Durchbruch verhelfen, follen e8 von feinen Genmsz 
befreien. 

Unverftänbig, wie das bisher vom Berfaffer gegen das Chem 
hauer’sche Mitleid Vorgebrachte, ift au ber Vorwurf, daß hi 
eine enbämoniftifche Triebfeber fei, weil es auf das fremde Ei 
gerichtet ift. Wohl und Wehe fein überhaupt in der Schopenhur' 
ſchen Ethik die erften leitenden Begriffe, feien Das Ziel, an media 
ber fittliche Werth gemefjen werde. Bezwecke die Handlung das der | 
Wohl des wollenden Subjects, fo fei fie egoiftifch, bezwecke fie i 
gegen das frembe Wohl, fo fei fie moraliſch. Damit aber lat 
Schopenhauer’jche Ethif die Entfcheidung über ven Werth ever Is 
werth einer Handlung in bie rein empirifchen, materiellen Trieben 
bes Willens, in das eigene oder fremde Wohl oder Wehe, wer. 
wie Kant und Herbart überzeugend nachgewiefen haben, immer nt 
wenbig Eudämonismus entftehen müffe. Schopenhauer ſuche zwar ve 
Eudämonismus durh die „Verneinung des Willens“ zu enigehe 
Aber das, worein Schopenhauer von biefem feinem ‚‚höbern Stat 
punkte” aus das Wefen der Tugend fett, ftehe fozufagen nur im cm 
trären, nicht im contrabictorifchen Gegenfaße zu dem, worein de 
offenfundigen Eudämoniſten jenes Weſen fegen. Diefe nämlich ba 
im Grunde die von Schopenhauer ſogenannte, „Bejahung“ ve Ei 
lens, Schopenhauer die „Verneinung“ deffelben, für das einzige Ietk 
Ziel der Tugend: „Der Begriff der Befriedigung oder Nichlbefri 
bigung des Willens ift der, von welchem beide ausgehen. So mit 
gerade das, wodurch Schopenhauer das Prädicat des Eubämonise! 
von feiner Yehre fern halten will, diefelde zu einer eubämoniftijte. 
Diefen Vorwurf fonnte er nur vermeiden, wenn er zeigte, daß Mm 
fittlihe Werth einer Handlung überhaupt gar nicht abhänge von ihr: 
Tauglichkeit zur Befriedigung oder Nichtbefrichigung des Willen 
fondern von etwas gänzlich hieven Verſchiedenem, daß das Bein 
ben, das Wohl Anderer zu fürdern, nicht deshalb fittlich werthvoll fi 
weil dadurch das Wohl des Andern wirklich gefördert wird — Ne 
ift gar oft nicht einmal der Fall, und doch kann ver Wille fittlis 
gut fein — fondern aus ganz andern Gründen.” 

Siergegen ift zuvörderſt zu fagen: Es giebt in Wirkfichteit fin 








Zweiundvierzigſter Brief. 


Verhaltniß der Ethik Schopenhauer's zu feiner Metaphvſit. — 
Realismus ke Ethit ala Gegenbeweis gegen den Idealismus — 
ner Metaphyſil. 


Als ich, verehrter Freund, Schopenhauer's Idealismus ber 
ſprach und Ihnen zeigte, wie falſch die Beſchuldigung ſei, daß er die 
Erſcheinung zum bloßen Schein, zum Gaulelbild im Kopfe des 
vorſtellenden Subjects mache (vergl. den zwauzigſten Brief, fg.), dachte 
ich nicht daran, daß eigentlich ſchon die Schopenhauer ſche Ethik ein 
ſchlagender Gegenbeweis gegen dieſe Beſchuldigung iſt. Jetzt aber, 
wo ich von ber Ethif ſpreche, fällt es mir ein, und Sie mögen mir 
daher geftatten, es nachträglich in einigen Sägen auszuführen. 

Mit dem abfoluten Idealismus ift feine Ethik vereinbar, 
Denn, find die andern Wefen außer uns blos unfere Borftellungen, 
welche Pflichten lönnten wir gegen fie haben? Pflichten, feien es 
Rechts oder Liebespflichten, Tann es nur gegen reale Wefen ge— 
ben. Gegen bloße Phantome oder Hirngefpinfte braucht man 
weder gerecht, noch mitfeidig zu fein und zu handeln. Der fehranfen- 
tofefte Egoismus ift die allein richtige Confequenz des abfoluten 
Ibealismus, — — er 

18 berfelben 















Nun hat aber doch Schopenhauer eine Et hik geliefert mt k 
in diefer den praftifchen Egoismus ald die Durch das Mitlen des 
zu befiegende antimoralifche Zriebfever bezeichnet. Wie kümme 
dabei abfoluter Idealiſt gewefen fein? Welches Hecht Hätte er als d 
foluter Ipealift, den Egoismus antimoralifch zu nemen, mr 
fäme er dazu, das Mitleid als die allein den antimoralijden Tee 
federn gewachfene moralifche Zriebfever zu bezeichnen, da doch W 
feid gar nicht möglich ift, wenn man die andern Wefen für N 
Phantome hält? 

Alfo: Schopenhauer war Fein abjoluter Idealiſt. Dem jet 
hätte er feine Ethik liefern fönnen, in der er das Mitleid ala x 
allein ächt moralifche Triebfeber aufftellt. Das Mitleid Hat tie Ker 
lität der Wefen, gegen die es zu üben iſt, — unb nach der Schere 
hauer’fchen Ethik ift es nicht blos gegen die Menfchen, ſondern uf 
gegen die Thiere zu üben, — zur Vorausſetzung. Der Mitleidix 
hält nicht, wie der Egoift, fich allein für real. 

Schopenhauer ſelbſt hat in dem Schlußparagrapben feiner , Beite 
Grundprobleme der Ethik“ (8. 22: „Metaphyſiſche Grundlage“) ge 
zeigt, wie entgegengefegt die dem Egoismus zu Grunde Tiegenve Vel 
anfchauung gegen die dem Mitleid zu Grunde liegende ift. Ze 
Egoiſt finde im eigenen Selbſt allein das wahre Sein, alles Anker 
fei ihm Nicht-Ich und ihm fremd. Dagegen fei die Erfenntnig, Ne 
das wahrhaft Seiende nicht blos im eigenen Ich, ſondern aud in jr 
dem andern Wefen außer uns eriftirt, für welde Erkenntniß im Sans 
frit die Formel tat-twam-asi, d. b. „das bift Du”, ver jtehente 
Austrud ift, Die dem Mitleid zu Grunde liegende Erkenntniß. 

Hieraus können Sie entnehmen, daß zwiſchen Schopenhauert 
Metaphyſik und feiner Ethik fein Widerfpruch befteht. Die Be 
ſchuldigung, in jener fei er Idealiſt, der die Außenwelt für bloke 
Schein erflärt, in dieſer Hingegen preife er ein Princip des Han 
delns, das die Realität der Andern zur Vorausfegung Habe, ift 
falſch. Seine Metaphyſik erkennt vielmehr das wahrhaft Seiende, bat 
allzeine Wejen, ven Willen, in allen durch bie Individuation ge 
trennten Erfcheinungen als gegenwärtig an. Dem entſprechend ftellt 
feine Ethik die dieſer weentlichen Identität des Vielen entſprechende 
Gefinnung, das Mitleid oder die Liebe (caritas), durch welde bie 


4 


265 


»theoretifch erkannte Einheit auch praltiſch vealifirt wird, als die Duelle 
aller Tugend hin. Wir find eines Wefens, lehrt Schopenhauer, wir 
find Objectivationen oder Erjcheinungen des All-Einen; alfo ift es 
antimoralifch, die Andern außer uns als bloßes Nicht-Ich, ale uns 
abfolut fremde Wefen zu behandeln. Wir find als Individuen nicht 
abjolut; alfo dürfen wir auch praftifch unfer Sch nicht verabfolutiren. 

Wo ftedt da der Widerfpruch zwijchen der Ethik und Meta- 
phyſik? ft nicht vielmehr jene bie nothwendige Folge diefer? Und 
ijt ver Realismus der Ethik nicht ein Gegenbeweis gegen ben 
Idealismus der Metaphyſik? 


Dreinndvierzigfter Brief. 





Der innere Widerftreit des Willens mit fi ſelbſt als ungeldſt ftehen be 
benver Reſt in ver Schopenhauer'ihen Philoſophie. 


Sie erwidern, verehrter Freund, auf mein Voriges, das Mile: 
fei allerdings die allein richtige, der metaphyſiſchen Einheit des Wil! 
entfprechende praftifche Confequenz, und infofern beftehe fein Wide 
Spruch zwiſchen Schopenhauer’8 Metaphyfil und feiner Ethif. Aber, fr 
gen Sie, wie kommt e8 denn, wenn der Wille an fich einer ift, bahn 
der Welt, die doch die Erfcheinung ober Objectivation dieſes em 
Willens ift, überhaupt Mitleid nöthig ift? Mitleid fee doch Yeit 
voraus, dieſes aber entftehe durch den Kampf der Mefen gegen ei 
ander, durch die Eris, die Schopenhauer felbft für eine Hauptquele 
des allem Leben wefentlichen und unvermeiblicden Leidens erklärt ha. 
(„Welt als Wille und Vorftellung“, I, 393). Wie fomme aber m 
an fih eine Wille zu diefer Zwietracht zwijchen feinen realen Erſchei 
nungen, die das Leid gebiert, gegen welches dann Das Mitlein al 
Heilmittel nöthig wird? Müßte nicht der an fich, feinem Wefen nad 
eine Wille, auch in feiner Erjcheinung, feiner Objectivation, nır Er 
heit und Harmonie zeigen, fo daß e8 des Mitleids gar nicht bedürfie? 
Entweder, meinen Sie, ift die Einheit des Willens feine wirklide, 
oder das Leiden bleibt unerflärt, bleibt als ungelöftes Räthſel and 
noch in der Schopenhaner’schen Philoſophie ftehen. 

Sie haben damit, vercehrter Freund, die ſchwache Seite nicht bie? 
der Schopenhauer’fchen, fondern überhaupt aller pantheiftiichen Me 
taphyſik aufgedeckt. Nicht blos mit dem Theismus reimt ſich du 
Uebel und das Leiden der Welt nicht zufammen, jondern auch mit vem | 


J 
ee nicht. Schopenhauer ſelbſt Hat Dies eingefehen, ja 
dat es fehärfer und entfchiedener ausgeſprochen, als Einer. 
Dem Pantheismus, fagt er, ift die Welt eine Theophanie. Man 
> fehe fie doch aber nur einmal darauf an, diefe Welt beftänbig bebürfe 
tiger Wefen, bie bios dadurch, daß fie einander auffreſſen, eine Zeit 
ang beftehen, ir Dafein unter Angft und Noth durchbringen und. oft 
 entfeliche Qualen erdulden, bis fie endlich dem Tode in bie Arme 
fliegen. Wer dies deutlich ins Ange faht, wird geftehen miffen, baf 
einen Gott, ber ſich hätte beigehen Laffen, fih in eine folche Welt zu 
= verwandeln, doch wahrlich ber Teufel geplagt Haben müßte. („Welt als 
= Wille und Vorſtellung“, II, 399, 737.) Die Uebel und die Qual 
der Welt ftimmten ſchon nicht zum Theismus, daher biefer durch 
alferlei Ausreden, Theobiceen fich zu helfen fuchte. Der Pantheis- 
j mus nun aber fei jenen ſchlimmen Seiten der Welt gegenüber vollends 
Unrdhaltbar. („Welt als Wille und Borftellung“, II, 676, 737. „Ba 
| rerga“, I, 67, 73.) 
| Nım Hat Schopenhauer zwar gemeint, biefer Schiwierigfeit ba- 
; Durch zu entgehen, daß er bem All⸗Einen den Titel Gott nahm. 
| Aber da er damit nicht den pantheiftifchen Grundgebanfen des All⸗ 
| Einen hat aufgeben wollen, vielmehr ausdrüclich fich zu bem Ev xau 
ray der Pantheiften befennt („Welt als Wille und Vorftellung“, II, 
736), ja fogar ſich rühmt, daß feine Philofophie zuerſt gezeigt, was 
diefes Eine ber Pantheiften ſei (daſelbſt); fo lehrt auch gegen ihn noch 
die Frage wieder: Wie fommt das alleine Grundweſen dazu, ſich in 
feinen eigenen Erfcheinungen fo zu entzweien und zu bekämpfen, daß 
daraus jene ungeheuern Uebel und entjeglichen Qualen entftehen, won 
denen die Welt zu erzählen hat? Wie ift in ber Erfeheinung bes 
alf>einen Wefens überhaupt Egoismus, die Duelle alles Uebels, 
möglich? 
Die Föfung biefer Frage, die Schopenhauer giebt, ift folgende: 
„Wir haben Zeit und Raum, weil nur durch fie und in ihnen Biel- 
heit des Gleichartigen möglich ift, das principium individuationis 
genannt. Sie find die wefentlichen Formen ber natürlichen, dem Wil- 
Ten entfproffenen Erlenntniß. Daher wird überall der Wille ſich in 
der Vielheit von Individuen erſcheinen. Aber dieſe Vielheit trifft 
nicht ihn, den Willen als Ding an fi, ſondern nur feine Erfchei- 


4 ku 4 


268 








nungen: er ift in jeber von biefen ganz und ungetbeilt vorhanden w 
erblidt um fich herun das zahllos wiederholte Bild feines cms 
Weſens. Diefes felbjt aber, alfo das wirklich Reale, findet an 
mittelbar nur in feinen Innern. Daher will Geber Alles für ſu 
will Alles befigen, wenigftens beherrſchen, und was fich ihm win. 
fett, möchte er vernichten. Hiezu kommt, bei den erfennenven Rdn, 
daß das Individuum Träger bes cerfennenden Subjects und Ned 
Träger ber Welt ift; d. h. daß die ganze Natur außer ihm, aljo ad 
alfe übrigen Individuen, nur in feiner Vorftellung exiſtiren, er it 
ihrer ſtets nur als feiner Vorftellung, aljo blos mittelbar und eh 
eines von feinem eigenen Wefen und Dafein Abhängigen bewußt it; 
ba mit feinem Bewußtſein ihm nothwenbig auch Die Welt untergct 
Jedes erkennende Individuum ift alfo in Wahrheit und findet fid ale 
ben ganzen Willen zum Leben, oder das Anfich der Welt ſelbſt, un 
auch als die ergänzende Bebingung ber Welt als Vorftellung, folzi 
als einen Mikrokosmos, der dem Makrokosmos gleich zu ſchätzen it 
Die immer und überall wahrhafte Natur felbft giebt ihm ſchon m⸗ 
Iprünglih und unabhängig von aller Neflerion dieſe Erkenntniß cn 
fach und unmittelbar gewiß. Aus den angegebenen beiden nothwendige 
Beitimmungen nun erklärt e8 fi, daß jedes in der gränzenlofen Ba 
gänzlich verſchwindende und zu Nichts verkleinerte Individuum bennet 
ſich zum Mittelpunkt der Welt macht, feine eigene Eriftenz und Wohlſein 
vor allem Andern berüdfichtigt, ja, auf dem natürlichen Stantpunft, 
alles Andere diefer aufzuopfern bereit ift, beveit ift, Die Welt zu ver- 
nichten, um nur fein eigenes Selbit, diefen Tropfen im Meer, etwas 
länger zu erhalten. Dieſe Geſinnung ift ver Egoismus, ber jerem 
Dinge in ber Natur wefentlih ift. Eben er aber ift es, worurd der 
innere Wiberftreit des Willens mit jich jelbft zur fürdhterlichen Offen: 
barung gelangt. Denn biefer Egoismus hat feinen Beſtand unt 
Weſen in jenem Gegenjate des Mifrofosmos und Makrokosmos, over 
darin, daß die Objectivation des Willens das principium individua- 
tionis zur Yorm bat und dadurch ber Wille in unzähligen Individuen 
ſich auf gleiche Weife erfcheint und zwar in jedem berfelben nach Bei- 
ven Seiten (Wille und Vorftellung) ganz und vollftändig Wäh 
rend aljo jedes fich felber als der ganze Wille und das ganze Ber: 
jtellende unmittelbar gegeben ift, find bie übrigen ihm zunächit mur 





als feine Vorſtellungen gegeben; daher geht ihm fein eigenes Weſen 
and deſſen Erhaltung allen andern zufanmen vor" („Weit als Wille 
und Vorftellung“, I, 391 fg.) 

Hiemit ift zwar das Wefen des Egoismus vortrefflich charalte- 
diet. Denn der Epoisims Befteft wefentlih in bem hier gefehifberten 
Gegenfag zwiſchen Mitrofosmos und Makrolosmos, in dem Sich- 
allein-für-venl-halten jedes Inbividinms gegenüber allem Andern, weil 
jedes Individuum nur von feiner eigenen Nealität, nicht aber auch 
von ber Realität der Andern ein unmittelbares Bewußtſein, ein Ge—⸗ 
fuhl Hat. Aber wie das Al-Eine, der Weltwille, der doch nicht blos 
in einem, fonderm in allen Individuen exiftirt, ſich alſo in Allen 
fühlen muß, zu jener koloſſalen Verblendung in jedem Einzelnen Tommt, 
fich eben mir in ihm für real eriſtirend zu Kalten, feine Exiftenz in 
allen übrigen aber zu verfennen, — das ift damit nicht erffärt. Diefe 
Berblendung durch das principium individuationis bleibt in bem 
Scopenhauer’fcen All-Einen als unerklärter Neft ftehen, und ich lann 
daher dem Selbſtruhm Schopenhauer’s, daß ſämmtliche Syſteme, mit 
Ausnahme des feinigen, Rechnungen feien, die nicht aufgehen, 
einen Reſt laſſen, ober, um ein chemiſches Gleichniß zu brauchen, einen 
manflöslichen Nieberfchlag („Parerga“, I, 73) — nicht beiftinmen. 
Der all-eine Weltwille, der, troß feiner All-Einheit, im Egoismus der 
Individuen den „innern Wiberftreit mit fich ſelbſt zur fürchterfichen 
Offenbarung” bringt, der „die Zähne in fein eigenes Fleiſch fchlägt“ 
u. ſ. w, iſt ımb bleibt ein ungelöſtes Räthſel. 

Die Einheit und Harmonie des Weltwillens lonunt nach Schopen- 
bauer mr in dem Malrokosmos, in der Zwedmäßigkeit des großen 
Ganzen zur Erſcheinung; fie zeigt ſich hier in dem wechjelfeitigen Sich⸗ 
anpaffen und Sichbequemen der Erfkheinungen an einander, Sie ift 
aber nicht mächtig genug, den innern Widerſtreit des Willens, der in 
dem Kampf ber Individuen gegen einander zur Erfeheinung kommt, 
zu tilgen. „Jene Harmonie geht nur fo weit, daß fie den Beftand 
ber Welt und ihrer Wefen möglich macht, welche daher ohne fie Längjt 
untergegangen wären. Daher erjtredt fie fih mm auf den Beſtand 
der Species ımb ber allgemeinen Lebensbedingungen, nicht aber auf 
dem ber Individuen. Wenn demnach, vermöge jener Harmonie und 

Species im Organifchen und die allgemeinen 


270 


Naturfräfte im Unorganifchen neben einander befteben, fogar k 
wechjeljeitig unterftügen; fo zeigt fich dagegen ber innere Wiberime 
bes durch alfe jene Ideen objectivirten Willens im unaufhörkchen da 
tilgungsfriege der Individuen jener Specie® und im beitäntigm 
Ringen der Erfheinungen jener Naturfräfte miteinander.” („Bet 
als Wille und Vorſtellung“, I, 192.) 

Die Einheit des Weltwillens reicht alſo nicht berab bis ;u wm 
Individuen; fie bleibt im Makrokosmos fteden; fie iſt Feine durchga 
fende. Woher dies aber komme, bat Schopenhauer nicht erflir. 
Denn die Erflärung durch die Blendung des principii individuati- 
nis halte ich für feine, da biefe Blendung eben felbft der Erklärn 
bedarf. Wie kommt denn das All-Eine dazu, fich im jebes einde 
Individuum fo zu verlieren, daß es in ihm allein zu exiftiren wihe 
und von feiner gleichzeitigen Eriftenz in allen übrigen nichts weih, ſe 
daß Jeder das Dafein und Wohlfein aller Uebrigen feinem eigema 
rüdjichtslos opfert? — 

Diefes Räthſel hat Schopenhauer nicht gelöft. 








Vierundvierzigfer Brief. 


Urjprung und Charakter des Schopenhauer’ihen Peſſimis mus. — Gegen» 
Aberſtellung deſſelben gegen den Leibnigjhen Optimismus und Kritit 
beider. 


Das in meinem vorigen Briefe bezeichnete Welträthfel, ver 
innere Widerftreit des Willens mit fich jelbft, der im Egoismus 
zur fürcterlichen Offenbarung gelangt, ift es, was Schopenhauer zum 
Pejfimiften gemacht Hat, und man fann daher feinen Peſſimismus 
füglich einen ethiſchen nennen, da er aus der Betrachtung der ethi- 
ſchen Beſchaffenheit der Welt entfprumgen ift. Es iſt daher falſch, 
denſelben lediglich für einen jubjectiven, aus dem büftern, mes 
lancholiſchen Temperament Schopenhauer’s entfprumgenen auszugeben, 
wie die Gegner thun. 

Optimismus und Peſſimismus entfpringen allerbings bei vielen 
Menſchen aus rein jubjectiven Gründen; wir finden im Leben Men- 
ſchen, die optimiftifch, und wieder andere, die peffimiftifch geſtimmt find, 
Ben das Leben befriedigt, wem es innerlich und äußerlich wohlgeht, 
weſſen Gefunbheits- und Gemüthezuftand frei don Schmerzen, weffen 
Beziehungen zur Natur und zur menfchlichen Geſellſchaft, in ber 
er lebt, frei von Hemmungen ımb Störungen find, der neigt fi na- 






272 







ganze Welt gut; fteht e8 mit ihm fchlecht, fo taugt bie ganze 34 
nichts. Nicht was die Dinge objectiv und wirklich find, ſondern ne 
fie für ihr Süd find, beſtimmt das Urtheil ber Meiſten. Die 
faın es auch kommen, daß fie im Leben zu der einen Zeit ir 
miften, zu einer andern Zeit wieder Peſſimiſten find. Im ber if 
nungsreichen Jugend find fie gewöhnlich optimiftifch geftinmt, = 
enttäufchten Alter dagegen peſſimiſtiſch. 

Der philofophifhe Optimismus und Peſſimismus hingegen ü 
anderer Art. Er hat nicht in fubjectiven Stimmungen, neh ander 
Zeitverhäftnifjen feinen Grumd. Schopenhauer wenigftens bat # 
gegen eine folche Ableitung feines Peſſimismus verwahrt. Gr fin: 
an mich am 15. Juli 1855, nah dem Erſcheinen des Kuno Kice: 
ſchen „Leibniz“: „Von Kuno Fiſcher's « Gefchichte der neuern Ehi: 
fophie» habe den zweiten Band durchſtöbert, der blos bis nor dar 
geht, werde aber boch fchon darin obiter ein wenig (extra ordinen' 
beſprochen. Von der Hegelei unheilbar verborben, conftruirt er de 
Geſchichte der Philofophie nach feinen apriorifchen Schablonen, m 
da bin ich als Peifimift der nothwendige Gegenfag des Leibniz ch 
Dptimiften, und das wird daraus abgeleitet, daß Leibniz in ema 
hoffnungsreichen, ich aber in einer befperaten und malbeurenfen Zi 
gelebt habe. Ergo, hätte ich 1700 gelebt, jo wäre ich fo ein gelei 
ter, optimiſtiſcher Leibniz gemefen, — und biefer wäre ich, mem a 
jett lebte! So verrüdt macht die Hegelei. Obendrein aber ijt mer 
Pefiimismns von 1814—18 (da er complet erfchien) erwachſen; we. 
ches die hoffnungsreichite Zeit nach Deutſchlands Befreiung war.“ 

In der That verdienten der Leibniz’fche Optimismus un m 
Schopenhaner’fche Peſſimismus nicht den Namen bes philoſophiſden 
wenn fie aus Zeitumftänden entjprungen wären. Auch wäre nid 
einzufehen, warum gerade nur Schopenhauer Peſſimiſt wurde, wer 
ver Pelfimismus in den damaligen Zeitverhältniffen begründet mar. 
Ich habe in der Schrift: „Arthur Schopenhauer. Won ibm, üht 
ihn‘ gezeigt, welches der objective, philoſophiſche Urſprung vet 
Schopenhauer'ſchen Peſſimismus ift. Doch Teugnen will ich aller. 
dinge nicht, daß die befondere Form und Farbe, Die der Peffimienmt 
bei Schopenhauer angenommen, eine fubjectiv bedingte, von der Inbi 
vidualität Schopenhauer's und feinen Pebensverhältniffen tingirte if. 


N 
it 
ER 
Fi 


ini 





mus Nahrung ziehen und aus ber er Form und Farbe 
mußte. Schopenhauer felbft Hat in dem, was er über 
dige Melancholie aller hochbegabten Geifter, aller echten 
fagt, den Erflärungsgrund davon gegeben, daß er fich 
ift 


ist 


mismus neigte, 

Der Maßftab, den das Genie an die Welt Tegt, 
das äfthetifche und fittliche Ideal, das es im fich trägt, 
als daß die niedrige und gemeine Welt nicht grell davon 
ſollte. Daher der Peſſimismus ver Genies, Dagegen fühl 
Philiſter in diefer gemeinen Welt ganz behaglich; fie find 
Haufe, während fih das Genie in ihr fremd fühit. Alles 
Schopenhauer in feiner Lehre vom „Genie“ fehr gut auseinandergeſetzt, 
und fein Peffimismus, foweit er perjönlich bebingt war, ift baraus zu 
erfläven. Was aber Leibniz betrifft, jo mußte biefer, ſelbſt wenn er 
ſich perſönlich zum Peffimismus geneigt hätte, ſchon darum Opti- 
mift werden, weil fein Syſtem ein theologifches war. Alfe theolo- 
giſchen Syſteme, mögen fie mın bie Welt theiſtiſch als ein Werk, ober 
pantheiftifch als eine Erſcheinung Gottes, eine Theophanie, betrachten, 
find notwendig optimiſtiſch. Nur Inconfeqguenz wäre es, wenn fie 


>23 
we 
i 


Pe 
isst 


Blick, der für Fehler Hält, was Vortrefflicteit ift. So fordert «6 
die Conſequenz — Kein Wunder daher, daß 











274 







Urheber gewiß weggelaffen. Es ift gerabe fo, wie wenn man, m 
ber Unfeblbarfeit eines Autors überzengt, die Fehler in feinen Beta 
für nothwendige hält, weil er fie fonft nicht zugelaffen hätte. 

Solchen theologifchen, vom Schöpfer auf das Wert fchfiekere 
Syſtemen gegenüber find offenbar die von theologifchen Voransiekma 
freien Syfteme, die von der Beichaffenheit des Werks af im 
Schöpfer fchliegen, im Vortheil. Sie brauchen die Uebel und Fl 
ber Welt nicht zu vertufchen, brauchen ſich nicht zu zwingen, ha 
greifliche Mängel als Vorzüge und Schönheiten auszulegen. 

Treffend urtheilt Friedrich von Schlegel in feiner „Geſchichte de 
alten und neuen Literatur‘, die fonft in philofophifchen Fragen geret 
nicht angeführt zu werben verbient, über Leibniz's „Theodicee“: „Se 
berühmte « Theodicee⸗ ober Rechtfertigung Gottes wegen bes vidm 
unfeugbar in der Welt vorhandenen Uebel und Böſen beantworte 
biefe der natürlichen Vernunft fi immer aufbringende Frage mit der 
Mugen Gewandtheit eines geübten Diplomatikers, ver es ſich zu 
Pflicht macht, die Seite, welche feinem Monarchen die vortheilhafteft 
ift, überall herauszufehren und zu benugen, ber Hingegen, mo fi 
etwa eine feheinbare oder wirkliche Schwäche findet, die der Gegna 
benutzen könnte, dieſelbe forgfältig zu verfchweigen oder dem Auge ju 
entziehen fucht. Die Antwort Leibniz's, gegen bie Voltaire jeine 
ganzen Spott gerichtet hat, daß diefe Welt unter aller möglichen vie 
befte fei, hat in unfern Tagen ihr Gegenftüd gefimden in der Antidt 
eines berühmten Denkers, der, weil er Alles aus dem Ich herleite, 
bemzufolge bafürhält, die Welt fei nur dazu hervorgebracht, daß das 
Ich ſich daran ſtoßen und im Kampf dagegen die eigene Kraft ent: 
wickeln ſoll: zu welchem Endzweck denn jede Welt, wie fie übrigens 
auch beſchaffen fein möge, tauglich und alſo immer gut genug ſei. 
Aber weder dieſe äußerſt fpartanifche, noch jene Fünftliche biplomatijche 
Antwort können dem Gefühl oder der Philofophie genügen.“ 

Die „künſtliche biplomatifche” Antwort, die Schlegel Bier Leibmi; 
borwirft, ift mehr oder weniger eine Eigenthümlichkeit alfer von theole- 
giſchen Vorausſetzungen ausgehenden Syſteme. Diefe alle müſſen das 
Uebel und das Böſe entweder vertuſchen, oder für nothwendig zur 
beſten Welt, für ein Element, das in ihr nicht fehlen darf, erklaͤren. 
Will man eine von diplomatiſchen Winkelzügen freie Erklaͤrung bes 





Böfen und des Uebels, fo hat man ſich nicht an bie von ber Theo- 
fogie beeinflußten, ſondern am bie antitheofogifehen Syſteme zu wenden. 
Soollten diefe auch, wie das Schopenhauer ſche, das Uebel und bas 

Boſe übertreiben, fo find fie boch immer der Wahrheit näher und 
aufrichtiger, als bie theologifch-optimiftifchen. 

Wendet man von Leibniz's optimiſtiſcher Theorie feine Blicke 
weg auf das praftifche Leben der Menfchen, fo wird mat einen aufe 
fallenden Contraſt gewahr. Dort, in Leibniz s Theorie, Nothwenbige 
feit des Uebels im ber beften Welt; hier, im praftifchen Leben, unauf- 
börliches Ningen, das Uebel aus der Welt zu jchaffen, um die möglicht 
beſte Welt Herzuftellen. Der geſunde praftifche Menſchenverſtand ift 
alfo anderer Anficht, als Leibntz's Gott; er Hält das Uebel micht für 
ein nothwendiges Element ber beften Welt, fondern für eine fortzu- 


Warum hat denn derjelbe Gott, ber das Uebel als nothwendig in 
feine beſte Welt aufgenommen, dem Menſchen, feinem Gejchöpfe, nicht 
Zufriedenheit mit biefer feiner Anordnung, fondern vielmehr den Trieb, 
ihr entgegenzuwirfen, eingepflangt? 

Ich weiß wohl, daß die Optimiften biefe meine Bemerkung thö- 
richt nennen werben. Siehft du denn nicht ein, werben fie fagen, 
daß, wenn Gott dem Menſchen Zufriedenheit mit dem Uebel einge- 
pflanzt hätte, der Ziwed, wegen beffen er das Uebel amgeorbnet, ganz 
verloren ginge? Denn eben, um das Uebel zu befämpfen und in bie- 
ſem Kampfe feine Kräfte zu ftählen und zu entwideln, dazu hat Gott 
das Uebel dem Menfchen beigefellt. Im einem veinen Schlaraffen- 
leben, wo ihm die Tauben gebraten in ben Mund flögen, würde ber 
Menſch vor lauter Langeweile umkonmen, Solfte der Menſch Reiz 
ud Eipocn mr DIE Er u 


9, i femme difen opimiffhe St. Och fm Ahnen auch for 





gar einige Poeten, die esg 


276 


Der Ehre Dornenbahn nicht mehr begierig gehn 

Und feiner großen That fich freudig unterftehn. 

Wie trunken taumeln fie dur buntgemalte Scenen, 
Ihr Auge tennt nit mehr des Mitleide edle Thränen, 
Berfchloffen ift ihr Ohr dem lauten Huf der Pflicht, 
Sie tennen fih nit mehr und kennen Andre nicht. 

Sie werben, wenn ihr Geift zum wahren Dienfchenleben 
Sid einft ermuntern foll, dem Unglüd übergeben, 

Dem Sklaven des Gefchids, ber unter banger Nacht 
Und jammerndem Geheul in feiner Höhle wacht, 

Der unter firenger Zucht die Trägheit aufzuwecken 

Und after, welche tief im Herzen ſich verfteden, 

Doch auszurotten weiß, vermefl'nen Uebermuth 

Und ftolze Härtigleit und wilber Lüfte Brut. 

Des Unglüds raube Hand muß ung von Freuden trennen, 
Die uns verberblih find: dann lernen wir erfennen, 
Daß nur der Weife groß, nur er beglüdt und frei 

Und feine wahre Luft, als bei der Zugenb fei. 

Und wie, zu aller Zeit beſtürmt von Ungewittern, 

Die Eiche, wann im Wald Gefträud und Espe zittern, 
Bor feinem Ungeftim den ftolzen Naden beugt, 

Stets tiefre Wurzel fhlägt und immer höher fleigt: 

So wird die Tugend ſtark und ſicher unter Leiben, 

Die leicht verzärtelt wird im Schoße fanfter Freuden. 





Und läßt nicht Goethe im Prolog des „Fauſt“ Den Herrn fagen: 


Des Menſchen Thätigkeit kann allzu leicht erfchlaffen, 
Er liebt ſich Bald die unbebingte Rub’; 

Drum geb’ ich gern ihm den Geſellen zu, 

Der reizt und wirkt, und muß, ale Teufel, jchaffen. 


Und fehnt fich nicht in Jordan's „Demiurgos“ Agathorimen 
nach einer Lebenslaſt: 
Ich nannt’ es Qual, 
Was id) empfand, wenn ich auf jedem Schritt 
An einer Hoffnung Schiffbruch litt | 
Und jedes Bild aus meinem Geifterland | 
Nur graß verzerrt im Leben wiederfand, 
Wenn Alles, was ich liebend unternabm, 
Nur halb und falſch zu Stande kam. 


Jetzt aber, auf dem Gipfel des Gelingens, 
Ergreift ein Sehnen mich wie Heimmeh faft 
Nach jenen Lagen ungeftillten Ringens: 

Es bungert mich nach einer Lebenslaft. 


277 

O, ich Terme dieſe Apologien des Unglids und bes Uebel. 
Aber wahr daran ift nur biefes, daß ver Menfch, wenn er feine 
Kräfte entwideln, wenn er nicht in einem weichlichen Genufleben er⸗ 
ſchlaffen ſoll, Bedürfn iſſe Haben, und daß er zur Befriebigung derſel⸗ 
ben feine phyſiſchen, intellectuellen und moraliſchen Kräfte anftrengen 
muß. Aber Bebürfniffe und Anftrengung find am fich noch feine 
Uebel. Bedürfniß nach Speife und Tranf ift fein Uebel, Bebürf- 
niß nad) Erfenntniß ift auch fein Uebel, Bebürfniß nach der Gerech- 
tigfeit ift auch fein Uebel. Das eigentliche Uebel beginnt erft ba, wo 
die phyſiſchen, intelfectuelfen und moralifchen Bebürfniffe trotz alfer 
Anftrengung unbefriebigt bleiben, wo ihrer Befriedigung überlegene 
feindliche Mächte entgegenwirken, wo fie auf unüberwindliche Hinder⸗ 
niffe ftößt. Die natürlichen Bebürfniſſe find Quelle der Thätigfeit 
und des Genuſſes; dagegen lähmen die naturwibrigen Hemmungen, 
mit denen eigentlich erft das Uebel beginnt, die Thätigfeit und vers 
gälfen den Genuß. 

O, ihr Preifer des Uebels, jagt mir doch, weiche Förberung ber 
Thätigkeit und welche Würze des Lebensgenuffes in aufreibender 
Hungersnoth, Peft, Geiftesepidemien, in zerftörenben Kriegen, in ver⸗ 
dummender Priefterherrfchaft, in knechtendem Abfolutismus, kurz im 
alfen Uebeln, welche feindfiche Naturgewalten und dumme ober bo8- 
hafte Menfchengewalten erzeugen, Tiegt? Für Diejenigen wenigftens, 
welche an biefen Uebeln Leiden, feine, venn fie gehen in der Regel an 
ihnen zu Grunde. Haltet euch nur erft einmal die wirklichen und 
wahren Uebel mit ihren zerftörenden, alle Entwidelung hemmenben 
und alfen Lebensgenuß vergälfenden Wirkungen in anſchaulichen Beir 
fpielen aus ber Natur und Gefchichte vor Augen, richtet den Blick 
auf die blinde Wuth zerftörender Naturgewalten und auf ben grim⸗ 
migen Haß und Neid, mit welchen Menſchen einander das Leben ver- 
bitten, verbüftern, zerrütten, — und ihr werbet von ben herrlichen 
Folgen des Uebels in der beften Welt einen andern Begriff befommen, 

Bas ein wirkliches Uebel ift, fördert die Thätigfeit nicht und 
würzt das Leben nicht. Und mas bie Thätigfeit fürbert und das 
Leben würzt, ift Fein Uebel, Das ift meine Anficht. 

Es giebt allerdings Hemmungen, die gut und wünſchenswerth 
find, Wenn ber Egoismus aller Art, wenn bie unvernünftigen und 


4 


278 


unfittlichen Triebe, wenn Herrſchſucht, Habſucht und Wolluft in ihr 
Raſerei gehemmt, zurückgedrängt, negirt werben, fo ift das fein Uebel, 
denn es ift Negation der Negation. Wenn alfo das Leben blos ums 
folhen Hemmmungen beftände, fo hätten wir uns nicht zu bellagen 

Aber wie Vieles wird im Leben gehemmt, was gefördert werte 
follte, und wie Vieles gefördert, was gehemmt werben follte! Wie o 
triumpbiren nicht die Unvernunft und die Bosheit, und wie ei 
unterliegen Vernunft und Tugend! Das ift es, was fich mit ber 
„beiten Welt” nicht zufammenreim. Daß das, was ſchwach jem 
fol, ftark, und was ſtark fein fol, ſchwach if, — das ift die Quelle 
bes Uebeld. Wer fie leugnet, ber bat feinen Blid in das wirklicde 
Leben, keinen Blick in die Gefchichte, in fein eigenes Innere gethan. 

Leibniz leitet die Nothwenbigfeit des Uebeld in ber beften Welt 
aus der Nothwenbigleit ber Mannigfaltigleit ab. Die Tugend fe 
zwar die ebelfte Qualität der erjchaffenen Weſen, aber fie fei nick 
bie einzige gute Qualität der Dinge. Es gebe noch unendlich vide 
andere, bie Gott gleichfam an fich ziehen, und das Reſultat alfer biefer 
Anziehungen und Neigungen fei die größtmögliche Fülle des Guten, 
und es fei offenbar, daß, wenn nur die Tugend wäre, wenn es nur 
vernünftige Creaturen gäbe, weniger Gutes vorhanden wäre. Al 
Midas nur Gold hatte, war er weniger reich, al8 vorher. Ueberdies 
müffe die Weisheit Mannigfaltigkeit erzeugen: nur Diefelbe Sache, 
wäre fie auch noch fo ebel, vervielfältigen, wäre bloße Ueberflüffigkeit, 
wäre nur Armfeligfeit. 

Zugegeben, daß eine Welt voll Mamnigfaltigfeit eine reichere, 
vollfommenere ift, als eine, in ber fich in ewigem, langweiligem Einer: 
(ei nur Daffelbe wiederholt, — folgt denn daraus bie Nothwendigkeit 
des Uebels? Müffen denn die mannigfaltigen Wefen einander hemmen, 
ftören, befämpfen, befriegen? Kann nicht in der Mannigfaltigfeit Ein- 
beit, Friede, Harmonie herrihen? Würde etiva eine Geſellſchaft von 
körperlich verfchieden geftalteten und geiftig verfchieven begabten Men- 
ſchen der Mannigfaltigfeit entbehren, wenn nicht auch Bucklige, 
Lahme und Wahnwigige darunter wären? Oder entbehrt etwa ein 
Gemälde der Mannigfaltigfeit, wenn feine Caricaturen darin vor- 
kommen? 

Auch was Leibniz das metaphyſiſche Uebel nennt, die Endlichkeit, 





278 


unfittlichen Triebe, wenn Herrſchſucht, Habfucht und Wolluft in ike 
Raſerei gehemmt, zurüdgebrängt, negirt werben, fo ift das fein lcd, 
denn e8 ift Negation der Negation. Wenn alfo das Leben bios an 
folden Hemmmungen beftände, jo hätten wir uns nicht zu beklagen. 

Aber wie Vieles wird im Leben gehemmt, was geförbert werke 
follte, und wie Vieles gefördert, was gehemmt werden follte! Wie di 
triumpbiren nicht die Unvernunft und die Bosheit, und wie di 
unterliegen Vernumft und Tugend! Das ift ed, was fidh mit ka 
„beiten Welt” nicht zufammenreim. Daß das, was ſchwach ji 
fol, ftart, und was ſtark fein foll, ſchwach iſt, — das ift die Quell 
des Uebel. Wer fie leugnet, der bat feinen Blick in das wirklice 
Leben, feinen Blick in die Gefchichte, in fein eigene® Innere gethan. 

Leibniz leitet die Nothwendigleit des Uebels in ber beften Wel 
aus der Nothwendigkeit der Mannigfaltigleit ab. Die Tugend fa 
zwar bie edelfte Qualität ber erjchaffenen Weſen, aber fie fei nid 
bie einzige gute Qualität der Dinge. Es gebe noch unendlich vice 
andere, die Gott gleichfam an fich ziehen, und das Reſultat aller diefer 
Anziehungen und Neigungen fei die größtmögliche Fülle des Guten, 
und es ſei offenbar, vaß, wenn nur die Tugend wäre, wenn es mm 
vernünftige Creaturen gäbe, weniger Gutes vorhanden wäre Als 
Midas nur Gold hatte, war er weniger veich, als vorher. Ueberdies 
müffe die Weisheit Mannigfaltigfeit erzeugen: nur dieſelbe Sack, 
wäre fie auch noch fo edel, vervielfältigen, wäre bloße Ueberflüſſigkeit, 
wäre nur Armifeligfeit. 

Zugegeben, daß eine Welt voll Mannigfaltigfeit eine reicher, 
pollfommenere ift, als eine, in der fich in ewigem, langmweiligem Ciner: 
lei nur Daffelbe wiederholt, — folgt denn daraus die Nothwendigfait 
bes Uebel? Müffen denn die mannigfaltigen Wefen einander hemmen, 
ftören, befämpfen, befriegen? Kann nicht in der Mannigfaltigfeit Ein- 
beit, Friede, Harmonie herrichen? Würde etwa eine Gefelljchaft ven 
förperlich verjchieden gejtalteten und geijtig verjchieden begabten Men— 
hen ver Mannigfaltigfeit entbehren, wenn nicht auch Bucklige, 
Yahme und Wahnwitzige darunter wären? Oder entbehrt etwa ein 
Gemälde der Mannigfaltigkeit, wenn feine Caricaturen darin vor: 
kommen? 

Auch was Leibniz das metaphyſiſche Uebel nennt, die Endlichleit, 


281 


Kniffe der Theodiceen. Schopenhauer gefteht ſpöttiſch der Leibniz’fchen . 
„Theodicee“ kein anderes Verdienſt zu, als dieſes, „daß fie fpäter 
Anlaß gegeben hat zum unfterblichen «Candide» des großen Voltaire, 
wodurch freilich Leibniz’8 fo oft wiederholte lahme Excuſe für bie 
Uebel der Welt, daß nämlich das Schlechte bisweilen das Gute herbei- 
führt, einen ihm unerwarteten Beleg erhalten bat”. 

Ueber Schopenhauer’s Peſſimismus nun aber werde ich mich in 
meinem nächften Briefe auslaffen. 


Fünfnndvierzigfier Brief. 


Urfprung und Charakter des Schopenhauer'ihen Peſſimis mus. — Besen 
überftellung veflelben gegen den Leibnizjhen DOptimismug und Ati 
- beider. (Fortfegung.) 





Nachdem ich Ihnen, verehrter Fremd, in meinem vorigen Briefe 
gezeigt, wie e8 mit bem Leibniz’fchen Optimismus beftelft ift, will 
ih nun in diefem den Schopenhauer’fchen Peſſimismus näher unter 
juchen, um zu feben, ob es mit ihm beffer beftelft ift. 

Schopenhauer Teugnet nicht das aus ver Einheit des in ver Ra 
tur fich offenbarenden Willens entjpringende wechfelfeitige Sichanpajjen 
ber Erjcheinungen an einander. Diefe große Zwechmäßigfeit, dieſe 
beivundernswürbige Harmonie gehe jeboch nur jo weit, daß fie ben 
Beitand der Welt und ihrer Wefen möglich made. Sie erftrede fih 
baber nur auf den Beftand der Species und der allgemeinen Lebens: 
bedingungen, nicht aber auf den ber Individuen. Wenn demnach, ver: 
möge jener Harmonie und Accommodation, bie Species im Organijchen 
und die allgemeinen Naturkräfte im Unorganifchen neben einander be 
ftehen, fogar fich wechfelfeitig unterftüen, jo zeige fich Dagegen ver 
innere Wiberjtreit des burch alle jene hindurchgehenden Willens im 
unaufhörlichen DVertilgungsfriege der Individuen und im beftänbigen 
Ringen der Erfcheinungen jener Gattungen und Naturfräfte. So fehen 
wir in der Natur überall Streit, Kampf und Wechfel des Sieges, 
welcher Streit nur die Offenbarung ber dem Willen wefentlichen Ent: 
zweigung mit fich felbft ift. Die deutlichſte Sichtbarkeit erreiche dieſer 
allgemeine Kampf in der Thierwelt, welche die Pflanzenwelt zu ihrer 
Nahrung hat, und in welcher felbft wieder jedes Thier Die Beute und 





zum Leben buechgängig am fi) fer zeprt und. in verfciebenen Ge- 
ftatten feine eigene Nahrung ift, bis zuleßt das. Menfehengefehleht, 


"weil es alle anbern überwältigt, bie Natur für ein Fabrilat zu feinem 


Gebrauche anfieht, daſſelbe Geſchlecht jedoch auch in ſich felbft jenen 
Kampf, jene Selbſtentzweiung bes Willens zur furchtbarften Deutlich 
feit offenbart, und homo homini lupus wird. Der Wille muß. an 
ſich felber zehren, weil außer im nichts ba ift und ex ein hungeriger 
Wille ift. Daher die Jagd, die Angft und das Leiden. 
Schopenhauer fennt feine größere Thorheit, als die ber meiften 
metaphyſiſchen Syſteme, welche das Uebel für etwas Negatives erllä- 
ven, während es gerade das Pofitive, das fich ſelbſt fühlbar Machende 
ift. Wie der Bad; feine Strubel macht, fo lange er auf feine Hin- 
derniffe trifft, fo bringe bie menfchliche wie die thierifche Natur es 
mit fi, daß wir alles, was unferm Willen gemäß geht, nicht recht 
merfen und innewerden. Hingegen alles, was unferm Willen ſich ent» 
gegenſtellt, ihn durchtreuzt, ihm widerftrebt, alſo alles Unangenehme 
und Schmerzliche empfinden wir unmittelbar, ſogleich und ſehr beut- 
lich. Wie wir die Gefundheit unfers ganzen Leibes nicht fühlen, fon- 
dern mır bie Heine Stelle, wo uns ver Schuh drüdt, fo denken wir 
auch nicht am unfere gefammten volllommen wohlgehenben Angelegen- 
heiten, fondern an irgendeine unbedeutende Mlleinigkeit, bie. uns vers 
drießt. Die Freuden finden wir in ber Regel weit unter, bie 
Schmerzen weit über unferer Erwartung. Der wirkjamfte Troft bei 
jebem Ungtüct, in jedem Leiden fei, Hinzufehen auf die Anbern, bie 
noch umglüclicher feien als wir, und dies Lönne Jeder. Was aber er- 
gebe ſich daraus für das Ganze? Alles, was wir anfaffen, widerſetzt 
fich, weil es feinen eigenen Willen hat, ber überwunden werben mufi. 
Die Geſchichte zeige ums das Leben ber Völler und finde nichts, als 
Kriege und Empörungen zu erzählen; die friedlichen Jahre erfcheinen 
am als kurze Paufen, Zwifchenacte, bann und wann eimmal. Und 
— Sn Sant ein fortwährender Kampf, nicht 
etwa blos ars Sn I me a 


finde mit den Waffen in der Hank. 


254 


Den Pantheiften gegenüber, denen die Melt eine Therphanie & 
bemerft Schopenhauer: „Dan febe fie doch nur einmal turuf a 
biefe Welt beftäntig bebürftiger Wejen, vie blos dadurch, daß fie = 
ander auffreffen, eine Zeit fang beiteben, ihr Dafein unter Anıt me 
Noth durchbringen unb oft entjetlide Qualen erbulten, bie fie aux 
dem Tode in bie Arme ftürzen.” Wer tiefes beutlich ins Ange fok, 
werde dem Ariftoteles recht geben, wenn er fagt: Die Natur iſt ti 
monifch, aber nicht göttlih. Wie mit vem Ausharren im 2eben, fe 
ift e8 nach Schopenhauer auch mit dem Treiben und ber Beineym 
beffelben. Diefe ift nicht etwas irgend frei Grwähltes, fonbern, mi} 
renb eigentlidh Jeder gern ruhen möchte, find Roth und Langeweile 
bie Peitfchen, welche die Bewegung der Kreifel unterhalten. Daher 
trage das Ganze und jebes Einzelne das Gepräge eines erzwungene 
Zuftandes, und Jeder, indem er, innerlich träge, ſich nach Ruhe jeh, 
doch aber vorwärts muß, gleiche einem Planeten, ber mur darum nick 
auf die Sonne fällt, weil eine ihn vorwärts treibende Kraft es nick 
dazu kommen läßt. So fei denn Alles in fortvauernber Spannung und 
gezwungener Bewegung. 

Diefer Welt, dieſem Tummelplatz gequälter und geängftigter 
Weſen das Syſtem des Optimismus anpaffen und fie uns ale bie 
bejte unter den möglichen andemonftriren wollen, dies nennt Schopen: 
bauer eine fchreiende Abfurbität. Zu fehen jeien die Dinge jreilid 
ſchön; aber fie zu fein, fei etwas ganz Anderes. Den Theologen 
gegenüber, welche die weiſe, zwedmäßige Einrichtung der Natur pra: 
fen, weiſt Schopenhauer auf die unglüdlichen Spieler Hin, die af 
biefer fo banerhaft gezimmmerten Bühne der Natur agiren: „Wem es 
nämlich überhaupt eine Welt geben foll, wenn ihre Planeten wenig: 
ftens fo lange, wie ber Lichtftrahl eines entlegenen Fixfterns braucht, 
um zu ihnen zu gelangen, beftehen und nicht, wie Leſſing's Sohn, 
gleich nach der Geburt wieder abfahren follen — ta burfte fie freilid 
nicht fo ungefchidt gezimmert fein, daß fchon ihr Grundgerüſt ven 
Einfturg drohte. Aber wenn man zu den Refultaten des gepriefenen 
Werks fortichreitet, die Spieler betrachtet, die auf ber fo Dauerhaft 
gezimmerten Bühne agiren, und nun fieht, wie mit der Senfibiltit 
ber Schmerz fich einfindet und in dem Maße, wie jene fich zur Im 
telfigenz entwidelt, fteigt; wie ſodann, mit biefer gleichen. Schriti 








haltend, Gier und Leiden immer ftärfer Hervortveten und. fich fteigern, 
Bis zulegt das Menfchenleben feinen andern Stoff darbietet, als den 
zu Tragödien und Komödien, da wird, wer nicht heuchelt, ſchwerlich 
disponirt fein, Hallelujas anzuftinmen.“ Wer etwas tiefer zu benfen 
fähig ift, wird, meint Schopenhauer, bald abſehen, daß die menjch- 
Ticgen Begierben nicht ft auf dem Punfte anfangen, Knnen fünblich 
zu fein, wo jie, in ihren inbivibuellen Richtungen einander zufällig 
durchkreuzend, Uebel von der einen und Böſes von der andern Seite 
veranlaffen; jondern daß, wenn dieſes ift, fie auch ſchon urfprünglich 
und ihrem Weſen nach ſündlich und verwerflich fein müffen, folglich 
der ganze Wille zum Leben ſelbſt eim verwerflicher ift. „Oft ja doch 
aller Greuel und Jammer, davon die Welt voll ift, blos das noth- 
wendige Reſultat der geſammten Charaktere, in welchen der Wille 
zum Leben fich objectivirt, unter den an ber ununterbrochenen Kette 
der Nothwenbigfeit eintretenden Umftänden, welche ihnen bie Motive 
liefern, alſo der bloße Commentar zur Bejahung des Willens zum 
Leben.” (Vergl. Schopenhauer-Lerifon: Yeben und Optimismus.) 

Vergleicht man nun diefen Schopenhaner’fchen Peſſimismus mit dem 
Leibnizfcpen Optimismus, fo haben beide Eins gemein, daf fie näm— 
lich das Uebel für nothwendig erllären. Aber welcher bebeutenbe 
Unterſchied ergiebt fich auch fofort in dem Sinne dieſer Nothwendig- 
feit. Dort, bei Leibniz, ift die Nothtvenbigfeit des Uebels Notötwenbig- 
feit aus einer Zwedurfache; hier, bei Schopenhauer hingegen, ift fie 
Nothwenbigfeit aus wirkenden Urfachen. 

Leibniz lehrt, daß Gott von allen möglichen Welten die befte, 
die fein Verſtand nicht ohne Uebel venten konnte, gewählt, alfo ger 
wollt habe. Er hat das Uebel in ihr zugelaffen, weil aus demfelben 
ein größeres Gut entfpringt, weil, was Störung im Theile ift, Orb- 
mung im Ganzen, weil, was Umvolftommenheit im Einzelnen, Voll⸗ 
fommenheit im Univerfum ift. Das Uebel hat alſo einen weiſen 
Zweck, der es nothwendig macht und burch ben es gerechtfertigt iſt. 
Schopenhauer dagegen lehrt, die Welt mit ihren Greueln und Uebeln 
läßt ſich nicht anders, als aus einem blinden Willensprange erklären, 
aus einem völlig grumblofen, unmotivirten Triebe. Bei dem fehreiene 
den Mifverhäftniffe zwifchen dem raftlofen, ernftlichen, mühevollen 
Treiben ber lebenden Weſen und den, was ihnen dafür wird, ja auch 





286 


nur jemal® werben kann, erfcheine der Wille zum Leben, objectiv ge 
nommen, al8 eine Thorbeit, ober fubjectiv, al8 ein Wahn, von welchen 
alles Lebende ergriffen fei, um mit änferfter Anftrengung feiner Kräft: 
anf etwas Binzuarbeiten, das feinen Werth Bat. Offenbar fei ve 
alles nicht zu erklären, wenn wir bie bewegenden Urſachen außerhelb 
ber Figuren fuchen und das Leben uns benfen als Folge einer Wall, 
einer vernünftigen Ueberlegung. Der Wille zum Leben fei nimmer: 
mehr zu denken als eine Folge der Erfenntniß des Lebens, fei übe: 
haupt nichts Secundäres, vielmehr das Erfte und Unbedingte, di 
Prämiffe aller Prämiffen. Daß die Wefen, in benen ver Wille m 
Leben fich objectivirt, einander hemmen, befämpfen, martern, auffrefie, 
daß fie phyfiſch und moralifch einander unfägliches Leiden bereitn — 
biefer ganze Iammer und biefe Tragödie des Lebens fei eine not} 
wendige Folge der urfprünglichen Befchaffenbeit, ver radicalen Sim: 
baftigfeit dieſes Willens. „Sch wollte Doch”, fagt Schopenhauer in 
feinem von mir herausgegebenen Nachlaß, „daß, ehe fie in das Leb 
bes Allgütigen ausbrächen, fie ein bischen um fi) herum fühen, wt 
es ausfieht und hergebt in biefer fchönen Welt. Nachher würde id 
fie fragen, ob folche dem Werke der Allweisheit, Allgüte, Allmacht 
oder dem des blinden Willens zum Leben ähnlicher fieht. Die Macht, 
bie uns ins Dafein rief, muß eine blinde fein. Denn eine ſehende, 
wenn eine äußerliche, hätte ein boshafter Dämon fein müffen; unt 
eine innerliche, alfo wir felbft, hätten fehend uns nie in eine fo pen: 
liche Lage begeben. Aber reiner erfenntnißlofer Wille zum Leben, 
blinder Drang, ber fi fo objectivirt, ift der Kern Des Lebene“ 
„Wenn ein Gott diefe Welt gemacht hat, fo möchte ich nicht der Get 
fein: ihr Sammer würde mir das Herz zerreißen.” „Denkt mar Ä 
fich einen fchaffenden Dämon, fo wäre man doch berechtigt, auf fein 
Schöpfung weifend, ihm zuzurufen: Wie wagteft du bie heilige Kuke 
bes Nichts abzubrechen, um eine ſolche Maſſe von Wehe und Jammer 
hervorzurufen!“ 

Und nicht blos theiſtiſch, ſondern auch pantheiſtiſch läßt fich nach 
Schopenhauer das Uebel nicht erklären; denn einen Gott, ver ſich hätte 
beigehen laſſen, fich in eine folche Welt zu verwandeln, „müßte doch 
wahrlich ver Teufel geplagt haben“. 

Die Schopenhauer’fche Ableitung des Uebels nicht aus einer Zwed⸗ 


en wicht aus einem Gott, fonbern 
ang der Beſchaffenheit des blind wirkenden Willens Hat den Bor 
heit, daß fie das Uebel nicht abzuſchwächen und zu befchönigen Graucht, 
wie der Leibuig ſche Optimismus, um es mit Gott zufammenzureimen, 
thun muß. Der Atheismus farm die Uebel der Welt in ihrer gan- 
zen Größe und ihrem ganzen Umfange eingeſtehen, weil er durch feine 
theofogifchen Borausjegungen genöthigt iſt, fie wegzuraiſonniren und 
wegzubemonftriren. 

Aber der Peſſimismus fällt in folgende Alternative. Entweder 
er muß die wirfende Urfache, aus der er das Uebel ableitet, für eine 
ewige und unaufhebliche Halten; dann giebt es in alle Ewigfeit Feine 
Erlöfung vom Uebel, fondern das Daſein tft bie ewige Pein und 
Qual, — eine troftlofe Ausſicht! Ober er hält die das Uebel erzeu- 
gende Unfache für feine ewige und mmaufhebliche; dann ift er eigente 
uͤch ſchon nicht mehr Peffimismus, ober höchftens nur ein relativer 
Peſſimlsmus. 

Bei Schopenhauer mm findet ſich das Letztere. Schopenhauer 
ift fein abfefuter, fonbern nur ein relativer Peffimift. Denm obfchen er 
das Uebel für nothwendig hält als Folge der Bejahung bes Willens 
zum Leben, fo ift ihm biefe Nothwendigleit doch feine fataliftifche, un⸗ 
abwendbare. Denn der Wille zum Leben Tann, fo lehrt Schopen- 
hauer, ftatt bejaht zw werben, auch verneint, er lann aufgehoben 
werben. Alsdann tritt eine ganz andere Welt, ein ganz anderes Da- 


fein ein, von bem wir freifich feinen Begriff Haben und das ums als 
Nichts erfcheint, das aber fein abfolutes, fondern nur ein relatives 
Nichts iſt. 


Aber werm dies fih fo verhält, wenn ber das Uebel herbeifüh- 
wende Wille mr vefatin, nur in Beziehung auf dieſe unfere wänmfich“ 
zeiihe Welt, wie Schopenhauer ausbrädfich im 24, Briefe an mic) 
erflärt Hat, das Wefen der Dinge ift, dieſes Weſen aber verneint 
werben jann und dann an bie Stelle beffelben ein ganz anderartiged, 
befferes Dafein tritt: fo ift er auch gar nicht das metaphhfifche Ur- 





288 


Eigentlich fann nur da von Peffimismus die Rede fein, wo man 
das Uebel für unbeilbar und den daran Leidenden für unrettbar verloren 
hält. Denn nur da ift der Zuftand wirklich der fehlimmfte von alien 
möglichen. Aber Schopenhauer’s Peſſimismus ift nicht dieſer Art, 
denn er hält eine Erlöfung vom Weltübel für möglich, obgleich er 
freilich in Webereinftimmung mit dem afcetifchen Urchriſtenthum vie 
Erlöfung nur unter der Bedingung einer Rabicalcur, einer gänzlichen 
Wiedergeburt, einer völligen Erneuerung der Dinge für möglich halt. 
Ich kann daher Schopenhauer für einen Peſſimiſten im ftrengen Sinne 
des Worts nicht: halten. Denn obwohl er gegen Leibniz zu bewejſen 
ſucht, daß dieſe Welt die fchlechtefte unter den möglichen fei, und cv 
wohl ihm die Hölle nicht erſt jenfeits beginnt, ſondern fchon biefes 
Leben die Hölle ift, fo glaubt er doch an eine Erlösbarfeit aus dieſer 
ichlechteften Welt und dieſer Hölle. Bei folhem Glauben ift aber 
ber Peffimismus nur ein relativer, bezieht ſich nur auf Diefe empirifche 
Welt, nicht auf das Seiende überhaupt und an ſich. Selbft wenn 
Schopenhauer feine totale, ſondern nur eine partielle Erläfung vom 
Weltübel für möglich gehalten hätte, nämlich nur innerhalb ber menfc- 
lichen Gattung, weil nur in diefer jene Erfenntniß, die vom Egoismus 
und der Bosheit befreit, jene Durchichauung des principü individus- 
tionis eintritt, infolge veren das Individuum fich in den Anbern 
wiebererfennt, fich mit ihnen ibentificirt und nun ihr Wohl, wie jonit 
das eigene, fih zum Zweck fett, — felbjt dann wäre Schopenhauer fein 
abfoluter Peſſimiſt, dem biefe Welt die jchlechtefte von allen mög: 
lichen ift. , ‘Denn e8 läßt fich eine noch fchlechtere denken, eine ſolche 
nämlih, wo nicht blos in der Natur der Wille in blindem 
Lebensprange die Zähne in fein eigenes Fleisch ſchlägt, ſondern 
auch in ber Menfchenwelt, eine Welt alfe, in der nirgends Vernunft 
und Sittlichkeit ein Gegengewicht gegen den blinden, grimmigen Lebens. 
drang bildete, eine Welt, in der nirgends dem unbarmberzigen Rauben 
und Morden Einhalt gejhähe, in der nirgends Gerechtigkeit und 
Mitleid anzutreffen wäre. Eine ſolche wäre doch jedenfalls fchlcchter, 
als die jeßige, mo doch wenigftens innerhalb der menschlichen Gattung 
das Uebel durch Vernunft und Tugend, bie ja Schopenhauer nid: 
wegleugnet, gemildert wird. 

Alfo weder Leibniz mit feiner „beiten Welt”, noch Schopenhant 


289 


mit feiner „chlechteften Welt” hat Recht. Es läßt ſich eine beffere, 
als biefe Welt denten, es läßt ſich aber auch noch eine fehlechtere 
denfen. Die beffere wäre bie, in welcher bie enblichen Weſen, wie 
die Töne einer Muſik, einander harmoniſch ergänzten, jo daß es ein 
mißllangloſes Weltconcert gäbe. Die fchlechtere wäre die, wo, wie in 
einem Charivari, nichts als Mifflang anzutreffen wäre. 

Uebrigens Tann ich Ihnen Stellen aus Schopenhaner’s Werfen 
anführen, in denen er ſelbſt feinen Peffimismus widerlegt. Er fagt 
3 8: „de heftiger der Wille, defto greller die Erſcheinumg feines 
Widerſtreites; deſto greller alfo das Leiden. Eine Melt, welche die 
Erſcheinung eines ungleich Heftigeren Willens zum Leben wäre, als 
die gegenwärtige, würde um fo viel größere Leiden anfweifen; fie 
wäre alfo eine Hölle.“ („Welt als Wille und Vorftelfung“, I, 468.) - 

Alfo ift die gegenwärtige Welt doch noch nicht bie eigentliche 
Hölle, 

Eine andere Stelle lautet: „Degliches kündigt diefes Sanſara 
an; mehr als Alles jedoch die Menfchenwelt, als in welcher, mora- 
liſch, Schlechtigfeit und Nieberträchtigkeit, intellectuell, Unfähigfeit und 
Dummbeit in erfchredendem Maafe vorherrfchen. Dennoch treten in 
ihe, wiewohl fehr ſporadiſch, aber doch ſtets von Neuem uns. über⸗ 
vafchend, Erſcheinungen ber Neblichfeit, der Güte, ja des Evelmuths, 
und eben fo auch des großen Berftandes, des denlenden Geiftes, ja 
des Genies auf. Nie gehen bieje ganz aus: fie ſchimmern ums, wie 
einzelne glängende Punkte, aus der großen, bunfeln Maſſe entgegen. 
Wir müffen fie als ein Unterpfand nehmen, daß ein gutes und erlb⸗ 
fendes Prineip in dieſem Sanfara ftedt, welches zum Durchbruch 
lommen und das Ganze erfüllen und befreien lann.“ („Parerga“, IL, 
233 fg.) 

Ber jo fpricht, wer ein erlöfendes Princip in der Welt findet 
und deſſen enblichen Durchbruch fir möglich hält, ift fehon eigentlich 
fein Peffimift mehr. Denn ber eigentliche Peffimismus endigt mit 
der Verzweiflung. 


Franenftäds, Rene Briefe, 10 


Sechsundvierzigſter Brief. 


Praktiſche Conjequenz des Peſſimismus. — E. von Hartmann’z 
Berbindung des Optimismus mit dem Peſſimismus. — Kritik verjelben. 


— — — — 


Sie ſind, verehrter Freund, zwar damit einverſtanden, daß 
Schopenhauer's Peſſimismus, weil ſich mit demſelben der Glaube an 
Erlösbarkeit vom Weltübel verbindet, kein abfoluter ſei. Aber bie 
praftifche Conſequenz dieſes Peſſimismus ſcheint Ihnen denmoch 
gefährlich. Denn die Bedingung der Erlöſung ſei ja bie gänzliche 
Berneinung des Willens, das gänzliche Aufgeben alles Stre- 
bens und Ringens. Würde denn ein Kranker, wenn er zwar Exlöjung 
von feinen Leiden für möglich bielte, aber nur burc den Top, noch 
Etwas thun, feine Geſundheit herbeizuführen? Eben fo wenig nun 
würbe bie Menfchheit, wenn fie nur unter der Bedingung ber gänz- 
lihen Verneinung alles weltlichen Strebens und Ringens Erlöfung 
dom Weltübel für möglich hielte, noch fich weiter an ber gefchichtlichen 
Arbeit zur Verbeſſerung und PVerjchönerung des Dafeins abmühen. 
Kurz, Quietismus fei die nothiwendige Folge des Peſſimismus. 

Da haben Sie freilich fo Unrecht nicht, und Schopenhauer felbit 
hat fein Hehl daraus gemacht, daß aus dem Peſſimismus ver Quie— 
tismus hervorgehe, ba die intuitive Erfenntniß des dem Leben weſent— 
lichen Leidens al8 Quietiv wire, 

Ihm gegenüber will jedoh E. von Hartmann die Kunſt 
entdedt haben, mit peffimiftiicher Welt» und Lebensanſchauung opti 
miftifches Ringen und Streben nad) den Gütern und Genüffen viejer 
Welt, lebendige und thatkräftige Betheiligung am fogenannten „Welt— 
proceß” zu vereinbaren. 


291 
Schen wir uns nun aber einmal biefe Vereinbarung näher am. 
E von Hartmann zieht peffimiftifc in wölfiger Uebereinftinmung 


| mit Schopenhauer das Nichtfein dem Dafein vor; dennoch aber 


verwirft er Schopenhauer's buddhaiſtiſchen Quietismus, welchem gegen- 
über er dielmehr bie Arbeit am gefhichtlichen Fortſchritt, bie that- 
kräftige Beteiligung am „Weltproceß“ zur Pflicht macht. \ 
Alle phyſiſchen und ſocialen Fortfehritte, lehrt E. von Hartmann, 
würden nichts Pofitives bieten, ſondern nur die ſchlimmſten und zum 
Theil unnatürlichſten Uebelftände der gegenwärtigen phyſiſchen und fos 
cialen Verhältniſſe befeitigen oder doch Kindern; aber zugleich twürben 
fie die Frage um fo brennender ins Bewußtſein treten laſſen, was 
denn num mit biefem Leben anzufangen, mit welchem Inhalt von abe 
folutem innern Werte es zu erfüllen fei, — was für Ertragung 
der aus ben erften Elementarbetrachtungen folgenden Laſt des. Lebens 
entfchäbige? „Während vorher bie Unbehaglichteit des Dafeins, inſoweit 
fie empfunden wurde, auf äufere Uebelftände und Mängel als auf 
ihre Urfachen zurücgeführt, und bie Erlangung eines behaglichen Zu- 
ftandes von ber Befeitigung ber jedesmal am brüdendften ſich fühlbar 
machenden äußern Uebel erhofft wurde, wird ber Irrtum, ber in 
diefem Hinausprojiciren der Urſache der Unbehaglichkeit liegt, um fo 
mehr erfannt, je mehr bie handgreiflichen äuferlichen Mifftände des 
menfchlichen Lebens durch den Weltfortfepritt gehoben werben, und in 
demfelben Maaße, als dieſe Ausflucht vor der peffimiftifchen Einficht 
in das Wefen des eigenen Willens durch Abwälzung nach außen ver— 
ſperrt wird, in bemfelben Maaße wächſt die Erfenntnif, daf ber 
Schmerz dem Willen immanent, baß die Sämmerlichfeit des Daſeins 
in dem Dafein ſelbſt begründet und bon ben äußern Verhäftniffen 
mehr ſcheinbar, als in Wahrheit abhängig ift. Somit muß alle An- 
näherung am das Ideal des beften auf Erben erreichbaren Lebens bie 
Frage nad) dem abfoluten Werthe dieſes Lebens nur zu einer immer 
brennenderen maden, ba fowohl bie je länger je mehr wachjenbe 
Durchſchauung ber illuſoriſchen Beſchaffenheit der allermeiften poſitiven 
Luft, wie bie immer deutlicher fi aufdrängende Einſicht in bie Unent⸗ 
vinnbarfeit bes in ber eigenen Bruft wie ein feine Geftalt eig 
felnder Kobold lauernden Elends zu dieſem Erfolge zu r 
Wie nach Paulus das den Juden gegebene Geſetz gerabe bie — 










292 


ter Sünde war (1. Cer. 15, 56), je ilt ter höchſtmöglié: 
Weltfortichritt die „Kraft“ Les peſſimiſtiſchen PBemus:: ° 
feins der Menfchbeit. Und gerade weil er vice ii, und nur mi 
er dies ift, ift der höchſtmögliche Weltfortſchrin prafriiches Peſi— 
lat....... Wenn es wahr ijt, daß Die Zteigerung nes Bemukiien: 
bis zu einer Allgemeingültigleit des peijimiftiihen Bemuftjeins tur , 
Dienfchheit der dem Endzweck unmittelbar vorhergehende Zmed re | 
Unbewußten ift, dann ijt ver Weltfortſchritt gerade Deshalb je tringe: | 
bes Grforberniß, weil er zu tiefem Ziele führt.” (E. von Sur: 
mann's „Philoſophie des linbewußten“, 3. Aufl, S. 732 fg.) 
Alſo Lie Ueberzeugung von bem unentrinnbaren Elend des Da— 
ſeins („eudämonologiſcher Peſſimismus“) ſoll uns nach Hartmann zu 
dem Streben nach dem höchſtmöglichen Weltfortſchritt begeiſtern („ere 
lutioniſtiſcher Optimismus“). Dieſe wunderliche Verbindung ven Orii⸗ 
mismus und Peſſimismus betrachtet Hartmann in feiner Schritt: 
„Die Selbſtzerſetzung des Chriſtenthums und die Religion der Zu 
funft“ (Berlin, 1874, Carl Duncker's) ſogar als die Keligier 
der Zukunft. Er ſagt nämlich (S. 113 fg.): „Wer vie Bil mid! 
als eine objective reale Erſcheinung des abſoluten Weſens ancricum, 
ſondern für einen ſubjectiven Schein ohne Wahrbeit, fir Tecr, 
Schaum und Wahn bält, wer demgemäß Raum und Zeit fir Miet: 
Formen der Anſchanung obne correlative Daſeinsformen der Bizit 
leit, und mithin Die Geſchichte und die in ihr verlaufende Entnidür 
für eine gegenſtandeloſe Auufien erflärt, der ſpinnt rich jern 
Traumwelt fe ein. wie Me Raupe in ihre Ruppe. Nor inder ü 
lenntnißtbeoretiſchen Voraudſetzungen lann de:ne Merapbnfif mer in 
Stande fein, Dar aus jenen netbmendia folgender aparbiicher Daiize 
mus abzuwenden. Wi Dieter leer auch vor Schopenbauer ai 
sirzen ertennt niß: heoretiſchen Weltanſich: muß Daber ınbering? getrede 
mern, wenn man nich: dem Inder:hum gleich in totaler 
pesiemeren wi. Dier iſt or der Ban. we Die rect: ſtſcde. 2 
gi Terkicchien ser Seit. der Geichicht: und NT Ertwidelinne alaubinn 
pie mehammeoderiisb vrrticide Vetieritt der man emtsuns 
uberuaer u. und drieit Soberssaenhet II es wien, m. 
Ahgriner Ziaamanon sermicber der rititier Sileriiän FJ 


cr BIELSITRErTETDSerIHIDen IRRE DIDI und die Sri INK 


294 


von der Werthlofigfeit der Treiheit zu gelangen, muß er nach ihr 
ftreben und feine Kräfte zu ihrer Erreihung anfpaınen. Um zu ber 
Meberzeugung von der Werthlofigleit alles Weltfortfchritts zu gelangen, 
muß die Menſchheit alle Stadien deſſelben durchmachen. Die Hoff 
nung, durch den Weltfortfchritt glüdlicher zu werben, ift „bie praf- 
tiſch heilſame Verblendung, durch welde das Unbewußte die 
Menfchen zu Leiftungen ftimulirt, vie fie meiftens noch nicht fähig 
wären fich aufzuerlegen, wenn fie bie wahren Zwecke des Unbewußten 
durchſchauten“. (,„Philofophie des Unbewußten‘‘, 3. Aufl., S. 733.) 

Was halten Sie von der gepriefenen „Weisheit“ dieſes „Unbe— 
bewußten“, dieſes Gottes, der feine Kinder täufcht, verblenvet, um fi 
auf langem mühfamen Wege, durch alle Stadien der Illuſion binburd, 
zu der endlichen Weberzeugung zu führen, daß fie Geprelite find? 
Er täufcht, um fchlieglich zu enttäufchen. Iſt Dies nicht ein grau- 
famer Gott? 

Enttäufhung Tann ich mir zwar fehr gut als Folge benfen, 
aber als Zwed nimmermehr. Bei Hartmann ift jedoch die Enttäu- 
hung des Menfchengejchlechts der Zwed der weltgefchichtlichen Täu- 
ſchung. Eben weil die weltgefchichtliche Illuſion in ihren brei Stabien 
Ichließfih zu der Weberzeugung führt, daß das Leben werthlos, daR 
das Nichtfein dem Dafein vorzuziehen fei, darum ift nach Hartmann 
bie gefchichtliche Entwidelung gut, darum ift e8 Pflicht, fich an ihr 
zu betheiligen; und fo kann fich denn Hartmann rühmen, den Optimismus 
mit dem Peffimismus verbunden und Schopenhauer, ver einfeitiger 
Beifimift ift, überflügelt zu haben. Was denken Sie von dieſer Ver: 
einbarung des Optimismus mit dem Peſſimismus? Gleicherweiſe 
fönnte, feheint mir, auch ein Lebensüberbrüffiger, der fich einen Strid 
dreht, um jich aufzuhängen, fich rühmen, Peſſimiſt und Optimift zu: 
gleich zu fein, nämlich eubämonologischer Pelfimijt, weil er Das Leben 
für werthlos hält, und evolutioniftifcher Optimift, weil er einen Strid 
zum Aufhängen gut findet und deshalb thatkräftig fich einen Strid 
dreht. | 

Ein logiſcher Wiperfpruch liegt freilich in folder Verbindung dee 
Optimismus mit dem Peffimismus nicht. Denn ber Optimismus bezicht 
fih ja nur auf das Mittel, während der Zweck ein pejfimiftifcher 
if. Aber der Sprachgebrauch verfteht unter Optimismus nicht vie 


Im biefen Ginne hätte fih Schopenhauer. aud) rüpmen- Tnen, 
mit dem Peffimismns den Optimismus verbunden zu haben. Denn 
ex hat ja ebenfalls das zur Vernichtung ber Welt führende Mittel 
für gut erflärt. Blos in Dem, was er für das Mittel dazu hält, 
weicht er von Hartmann ab, indem er Asfefe und Quietismus für 
das Mittel dazu hält, während Hartmann bie gefchichtliche Entwide- 
fung als das Mittel dazu anfieht. Dieſe Differenz ift jedoch gegen- 
über ver Hauptſache, in der Beide einig find, eine untergeorbnete, 
Sie hat für Den gar feine Bebentung, der ben Zwed, den Beide 
aufftelfen, die Vernichtung der Welt, nicht anerkennt und nicht für er- 
reichbar Hält, Ein Solcher Hat nicht nöthig, fi den Kopf über bie 


von Hartmann lehrt, bie geſchichtliche Evolution durch alle Stabien 
der Illuſion hindurch. 

Sie können hieran beifpielsweife erlennen, daß es umter ben Phi- 
loſophen jo manche Streitfragen giebt, die für Den ganz wegfallen, 
der die Vorausſetzung, auf der fie beruhen, nicht anerfennt. Die 
Streitfrage, welches Mittel das befte zur Zurückführung der Welt 
in das Nichte fei, beruht auf ber peffimiftifchen Vorausſetzung, daß 
das Nichtfein der Welt ihrem Dafein vorzuziehen fei, umb zweitens 
auf der Voransjegung, daß fie aus dem Dafein auch wirklich ins 
Nichtſein zurückgeführt werden Fönne. Wer biefe beiden Voraus— 
ſetzungen aber nicht theilt, für ben eriftirt natürlich die Frage, welches 
das geeignetfte Mittel zur Zurüdführung der Welt in das Nichts fei, 
gar nicht. 

Uebrigens ift aber auch im biefer umtergeorbneten, auf falſchen 
Borausfegungen beruhenden Frage bie Einigfeit zwiſchen Schopenhauer 
und E. von Hartmann größer, als Letzterer zugiebt. Im dem Para 
graphen nämlich, in welchem Schopenhauer vom Selbftmorb ſpricht 
und denſelben verwirft, weil er auf dem Wahne beruhe, daß mit 






Berichtigungen. 


Seite 14, Zeile 2 v. o., ſtatt: daſtellende, lies: darſtellende 


su! ——— su 3 u u y% 


>, 
69, 
76, 


sy s sus suuuuy 


4 v. m. f.: begreifen, [.: ergreifen 

30 u. fl.: Sanbara. I.: Sanfara 

4 v. u., nah Kampf, l.: ſpricht 
10 v. u., ſt.: es, l.: er 

80. o., fl.: welden, I.: welchem 

2 in ber Ueberfdrift, fl.: bloße, I.: bloßen 
2 v. u., fl.: Borflandes, I.: Verſtandes 
10 v. u., f.: en, L: in 

6 v. o., fl.: materialiftifh, l.: mechauiſch 
8» o. f.: Härt, L: erflärt 

11 v. n., fl.: Staatsction, l.: Staatsaction 
5 v. u., fl.: herausgeht, l.: hervorgeht 





DATE DUE 











uan ti ot! 
AUG 1 4 1977